Berliner Zeitung - 09.11.2019

(Joyce) #1

Zeitenwende


30 Berliner Zeitung·Nummer 261·9./10. November 2019 ·························································································································································································································································································


B


erlinwächst.WodieMauer
stand, breiten sich neue
Wohn- undGeschäftsvier-
tel aus .Die Stadt scheint
dempassivgegenüberzustehen.Wir
sitzen zu viertumd en Tisch, der
BlickgehtausdenFensternüberdie
Dächer bis hin zum Alexanderplatz
und zum Breitscheidplatz, zum
Fernseh- und zumFunkturm, zur
LeipzigerStraße,undsogarderSteg-
litzerKreiselistzusehen.Zudenvie-
lenAufgabenvonSenatsbaudirekto-
rinRegula Lüscher gehörtauszuar-
beiten, wieBerlin in Zukunft ausse-
hen soll. DerArchitekturfotograf
Martin Maleschka ausEisenhütten-
stadtbefasstsichdagegenmitetwas,
dasverschwindet:mitdemBauerbe
der DDR.EinStreitgespräch über
ideologische Kämpfe,Berliner Uto-
pienundInvestorenarchitektur.


FrauLüscher,woi stfür SieBerlinam
berlinerischsten?
REGULA LÜSCHER:AmAlexan-
derplatz.


Dasüberraschtunsjetzt.Warum?
LÜSCHER:Der Alexanderplatz
spiegelt das Ringen um Identität
nachderWendewider.Eri stsehrge-
schichtsträchtig, Symbol für eine
verg angene Zeit, weil auch so viele
BautenetwaausderKaiserzeitoder
der Weimarer Republik verschwun-
den sind, und dortstehen wichtige
Bauten der DDR-Moderne.Gleich-
zeitigsiehtman,dassBerlinnachder
Wende versucht hat, sich ein neues
Gesichtzugeben.Aberdie Entwick-
lung,diemansicherhoffthat,diehat
nichteingesetzt.Alsoistesauchein
Ortvon Utopien undEnttäuschun-
gen.EsisteinOrt,umdengekämpft


wird, und es ist ein ungeliebter Ort,
über den alle meckern, was wie-
derumsehrzuBerlinpasst.

HerrMaleschka,wassehenSie,wenn
Sieaufdem Alexanderplatzstehen?
MARTIN MALESCHKA:Ich
würde zuerst denOsten damitver-
binden.DasStichwortfieleben:Uto-
pie.Die großeMaßstäbigkeit, erst-
mal in derWeite,umd en Brunnen
der Völkerfreundschaft eineriesen-
große Spirale ,dann die städtebauli-
chen Dominanten, dieHochhäuser,
der Fernsehturm.Daransieht man
dieDimension,undauch,dassman
indieCityWestgeguckthat,mitdem
Breitscheidplatz, demEuropa-Cen-
terunddemBikini-Haus.

Undwas bedeutet derPlatz für Sie
persönlich?
MALESCHKA:Utopie,daswarein
gutes Stichwort, das kenne ichvon
dort, wo ich aufgewachsen bin.Ich
komme aus einer utopischenStadt:
Eisenhüttenstadt wurde 1950 ge-
plant, Stalinstadt, eineriesige,weit-
läufigeMagistrale ,diedie Wohnstadt
mit demWerk ve rbindet, alsWohn-
ortfür die ,die in dieserStadt arbei-
ten.AberheuteistEisenhüttenstadt
eineStadt,dieeherineinerperiphe-
renLageist.

Gehörtdas zu Berlin dazu, die ge-
scheiterteUtopie?
LÜSCHER:Scheinbarschon.Ber-
linisteineStadtder Extreme .Esgab
Phasen, da mussteBerlin sparen,
bisesquietscht,unddamitwurden
Infrastruktur undVerwaltung fast
an den Rand des Existenzmini-
mums geführt–oder die Stadt
wächst ganz plötzlich und man

mussdieganzeMaschinerieausei-
ner totalen Talsohle hochfahren.
DieseunglaublichenKurvenführen
vermutlich dazu, dass man immer
wieder inUtopien denken muss.
Undmanchesbleibtdannebeneine
Utopie.
MALESCHKA:Der Begriff Utopie
beinhaltet jaZukunft. Mankann
nicht in dieZukunft sehen, das ist
das Entscheidende daran.Frau Lü-
scher hat geradevonder Nachwen-
dezeitgesprochen,dieserrelativkur-
zenZeit,undwasdaschonallespas-
siertist. Undwenn man jetzt noch
mal30 Jahreweiterdenkt,wasdann
noch alles passieren kann–Stich-
wortKollhoff-Plan...

Warum sieht es da eigentlich so aus,
wieesaussieht?
MALESCHKA:Eigentlich gehen
Siemit der Frage ja davon aus,dass
Sieesn ichtsoschönfinden.

FindenSieesdas chön?
MALESCHKA:Ich schon.Natür-
lichgibtesBauten,diemanvielleicht
nicht so schön findet.Fakt ist aber
doch,dassdortnochvielmehrpas-
sieren könnte.Gerade bei dieser
HochtrassederSchnellbahn,daver-
ändertsichdochaktuelleiniges:Was
damalseigentlicheinParkplatzwar,
istjetzteineMall,dannstehtdajetzt
einHostel,dapassiertdochsehrviel.
LÜSCHER:FürmichistderAlex-
anderplatz primär einer meiner Ar-
beitsorte.Für mich ist es auch kein
Problem, dass dieKollhoff-Planun-
genvieleJahrenichtumgesetztwur-
den. Im Gegenteil: Oftmals istZeit-
verzug in derStadtplanung einGe-
schenk, insbesondereine iner Stadt
wieBerlin,wonachderWendeeine
Phase der starken Emotionalisie-
rungfolgte.Dag ingesumSelbstfin-
dung sowohl derStadt als Ganzes
wieauchimVerhältniszwischenOst
undWest.LangsamkeitistdaeinRie-
senvorteil,weil es möglich ist, sich
städtebaulicheEntwürfe aus einer
immer größeren Distanz anzugu-
cken,umklügerzuwerden.

Inwiefern?
LÜSCHER:Das Programm für
denWettbewerb1992hattevorgege-
ben, dass man am Alexanderplatz
ziemlichTabularasama cht.Daswar
der Zeitgeist. Inzwischen hat sich
das geändert, die Nachkriegsmo-
dernewirdpositivergesehenundwir
konnten die Bauten noch unter

...derEntwurfdesArchitektenHans
Kollhoffvon1993sah zehn150 Meter
hohe Türme amAlexanderplatzvor,
vondenenbisheutekeinersteht.
MALESCHKA: Damals ging es
auch um die städtebauliche Sil-
houette.Aber dieFrage ist doch:
Wasbrauchtdie Mitte,dieseMitte?
EsgibtjanochdieandereMitteim
Westen .Undklar ,alles,wasaufden
Alexanderplatz projiziertwird–
baulich, gesellschaftlich, sozial,
künstlerisch,auchdieKriminalität
–,daspulsiertda.

FüreinenStadtplanermussderAlex-
anderplatz aber doch eine perma-
nent schmerzende Wundesein.

Denkmalschutzstellen,etwadasalte
Haus de sBerliner Verlags,das Haus
derTechn ik und dasHaus de sRei-
sens.JetztgibteseinepositiveWahr-
nehmung derNachkr iegsmoderne
im Osten. Insofernwar es ein
Glücksfall, dass es nicht so schnell
ging.
MALESCHKA:AußerinPotsdam,
wenn man sich dieUmgestaltung
vomAlten Marktansieht. Diewird
jetztnochweitergetrieben,zumBei-
spielanderBreitenStraße.Manhat
den Landtag in den Formen des
SchlossesnachgebautunddasInsti-
tutf ür Lehrerbildung aus DDR-Zei-
ten weggenommen, jetzt soll auch
der Staudenhof-Wohnblock hinter
der Nikolaikircheweg, das Rechen-
zentrum ebenso,umd ie Garnison-
kirche nachzubauen.DieLangsam-
keit am Alexanderplatz ist also ein
Vorteil, auchwenn dor tauchschon
städtebaulich eingegriffen wurde,
aberleidernichtinPotsdam.

UndwiesoistdasinBerlinandersals
inPotsdam?
MALESCHKA:Weilesin Potsdam
vielleicht einfach noch ein, zwei
Jahregebraucht hätte,bis man dort
auchandersentschiedenhätte–was
möglicherweise eine Chance gewe-
senwär e.Esschw angjae benschon
mitbeiFrauLüscher,dassmansich
jetzt besinnt auf das,was man zu
DDR-Zeitengebauthat,aufdieSon-
derbautenderNachkriegsmoderne.
DerRuf de r„Platte “hinkt da noch
nach.

DasistjaIh rgroßesThema,dieDDR-
Architektur.Lange ZeitschienesZiel
derPolit ikzusein–StichwortPalast
derRepublik,dieGaststä tteAhorn-

BERLINER ZEITUNG/PAULUS PONIZAK (3)

„ZeitverzugisteinGeschenk“


NachderWendewurdenBautenmit


Symbolkraftvielerortsweggerissen.


Inzwischenhatsicheineneue


Wertschä tzungvonOst-Architektur


durchgesetzt.Wieverändertsich


dasGesichtderStadt?


EinGesprächzwischenBerlins


SenatsbaudirektorinRegula


Lüscherunddem


ArchitekturfotografenMartin


Maleschka


REGULA LÜSCHER

...ist 58 Jahre alt. Die gebürtige
Schweizerinkommt 2007 nach
Berlin. Nach dem Architektur-
Studium arbeitet sie in Zürich als
Freie Architektin und im dortigen
Amt für Städtebau.

...ist als Senatsbaudirektorin für
die architektonische Linie Ber-
lins verantwortlich.

...zählt zu ihren Projekten die
Überarbeitung des Masterplans
Alexanderplatz, den Bebauungs-
plan Molkenmarkt, die Europa-Ci-
ty,die Leitlinie Gestaltung der
historischen Mitte.

MARTIN MALESCHKA

...ist 37 Jahre alt, Architekt und
Fotograf. Er wuchs in Eisenhüt-
tenstadt auf. Heute lebt und ar-
beitet er in Cottbus.

...hat eine umfangreiche Doku-
mentationbaubezogenerKunst
in derDDRzusammengestellt.

...reistseit15 JahrendurchOst-
deutschland, um Baukunst der
DDR mit der Kamera zu erfassen.
Viele der fotografierten Bauten
gibt es heute nicht mehr.
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