Berliner Zeitung - 09.11.2019

(Joyce) #1

Zeitenwende


Berliner Zeitung·Nummer 261·9./10. November 2019 (^35) ·························································································································································································································································································
Glück haben, dass einige der soge-
nanntenKippelemente imSystem
nicht schon unterhalb dieserTem-
peraturgrenzeaktiviertwerden.
MitKippelementenmeinenSie–wie
manlesenkonnte–Vorgängewiedas
AuftauendesPermafrostbodensoder
desarktischenEises.AbersolchePro-
zessesinddochlängstimGange.
Ja,sielaufenbereits.Aberwirwis-
sen noch nicht, wann genau der
Punkterreichtist,andemsichdiese
Veränderungen selbst verstärken
und außer Kontrolle geraten. Ich
habe denBegriff derKippelemente
voreinigerZeitindie Debatteeinge-
führt, weil ich aus derPhysik der
nichtlinearen Dynamik komme.
Früher hieß das einmal Chaosfor-
schung.DiePhysik versucht nicht
nurMusterin Datensätzenzuerken-
nen. Wirschauen uns zumBeispiel
den Grönländischen Eisschild an
und fragen:Ab welcher Temperatur
fängteran,instabilzuwerden?Denn
istdieserPunkteinmalerreicht,gibt
es vielleicht keinZurück mehr,und
derProz essverstärktsichselbst.Das
lässt sichrein physikalisch erklären.
Jenseits der Zwei-Grad-Leitplanke
würde es extrem schwierigwerden,
die EisschildeGrönlands und der
Westantarktis zu erhalten oder die
großen Regenwälder.Dochdie Kipp-
vorg änge können auch miteinander
wechselwirken.Durchdas Schmel-
zendes arktischenMeereises kann
zum Beispiel der sogenannteJet-
stream schwächerwerden, der im
Wesentlichen dasWetter in unseren
Breiten undweiter nördlich organi-
siert. Dasheißt,dassesvielhäufiger
zu Hitzewellen kommen kann, die
etwa zu Waldbränden führen.Diese
nagen wiederum am Permafrost.
Wenn dieser auftaut, entweichen
MethanundCO 2 .Waswiederumdas
SchmelzendesarktischenMeereises
beschleunigt.Undsow eiter...
WaswäredasschlimmsteSzenario?
Dass sich das ganzeErdsystem
selbstständig machen könnte und
wir in eineregelrechteHeißzeit mit
einem Anstieg der globalenTempe-
raturumfünf,sechsoderachtGrad
hinaufrutschen.DaswäredasEnde
derWelt,wiewirsiekennen.Wirre-
den hier imErnstfall wirklich dar-
über,obd as Projekt der menschli-
chen Zivilisation, das imWesentli-
chen vor12000 Jahren begonnen
hat, zumEnde kommt.Auslauter
Trägheit und Dummheit, könnte
man sagen.Denn wir hätten alle
technischen Möglichkeiten, das zu
verhindern.
Aber ist derMensch wirklich in der
Lage, über seinen Schatten zu sprin-
gen? Siesprachen selbst einmalvon
der „Bequemlichkeitsgesellschaft“
undder„DiktaturdesJetzt“.Undzur
menschlichenNatur gehörtjaa uch
dieVerdrängung.
Esstimmtschon.Wirlebeninei-
ner Ar tWohlfühlgesellschaft,in der
diePolitikerniemandemetwasUn-
angenehmes zumuten möchten.
Wirsindallemehroderwenigersa-
turier tgeworden.DerPopulismus
ist einerseits eine Antwortauf die
Überkomplexität der modernen
globalisiertenWelt.DieLeutegieren
in einer immer komplexerwerden-
den Welt nach simplenErklärun-
gen. Populisten wie DonaldTrump
geben ihnen diese,also überwie-
gend Unsinn. Aber ich glaube,es
stecktnochetwasTieferesdahinter.
WennichinmeinerHeimatNieder-
bayer nmit Leuten insGespräch
komme,dannseheich:DieseMen-
schen sind weder bösartig noch
dumm.Abersiekommengeradeso
zurecht mit den Möglichkeiten, die
sie haben.Ichglaube,amS chluss
mussmandochwiederdieSystem-
frage stellen.DiegehobeneMittel-
schicht oder gar die Oberschicht
könntesichnatürlichFlugzeugsteu-
ernleistenundtrotzdemindenUr-
laub fliegen. Daskönnen andere
Menschen aber nicht so leicht. Es
gäbe eine einfache Antwortdarauf.
Statt zu sagen:Na gut, dann lassen
wir den Planeten kaputtgehen,
könnte man sagen: Wiewärees
denn,wennwireinwenigumvertei-
len würden,wenn wir den Men-
schen,diesichbishernunmalkein
Elektroauto leisten können, das
Geld in dieHand drücken oder ih-
derBundesregierungwurdealshalb-
herzigkritisiert.
Sicherzu Recht.Diejetztaufden
WeggebrachteCO 2 -Bepreisungetwa
istdem ProbleminkeinerWeisean-
gemessen.EinPreis vonzehn Euro
proTonne CO 2 setzt kaum Anreize
für Entwicklung und Kauf klima-
freundlicherAutos undHeizungen.
Aber das weiß AngelaMerkel auch.
Ichhabesiejaüber25Jahreberaten,
in der einen oder anderenForm.Es
istwirklichso:Manmussineinerde-
mokratischen Gesellschaft be-
stimmte Schritte aushandeln und
am SchlussGesetzeerlassen.Aber
dasgehtnichtsoschnellwiemanch-
mal nötig, der politischeFortschritt
gehtnurimSchneckentempovoran.
Aber dass dieses Klimapaket über-
haupt beschlossen wurde und sich
dieRegierungtatsächlichschämtfür
die Verfehlung der Klimaziele,das
wärevor ein paarJahren noch un-
denkbar gewesen.Ichhoffe,das ist
ein Anfang für denEinstieg in eine
vernünftigeKlimagesetzgebung.Die
Schrauben müssenweiter angezo-
genwerden–auchweilunsdieNatur
immerheftigerdaranerinnernwird,
dasswirineinertiefenKrisestecken.
SiehabenimAugustderneuenBran-
denburgerLandesregierung angebo-
ten, sie bei derBewältigung der Kli-
makrise zu beraten, vielleicht sogar
selbst„in die politische Bütt“ zu stei-
gen.Wasistdarausgeworden?
Daswar keineBewe rbung für ir-
gendeinen Posten. Worumesmir
nichtnurdamals,sondernauchwei-
terhingeht,ist,einpaarrichtiginter-
essante Projekte und zukunftsfähige
PerspektivenaufdenWegzub ringen
indiesersowichtigenRegion,diemir
auchpersönlichsehramHerzenliegt.
GewisseElemente,dieichmirvorg e-
stellthabe,sindsogarexplizitin den
Koalitionsvertrageingeflossen,damit
binichschonmalsehrglücklich.
WaswäredennwichtigfürdieRegion?
Ichdenke,dassBrandenburgvon
seinen naturräumlichenVorausset-
zungen,vonderNähezurBerlin,von
derWissenschaftslandschaft her ein
führendes Innovationsland für
Nachhaltigkeit inDeutschlandwer-
den kann.DieLausitz könnte nach
dem Ende des Kohle-Zeitalters eine
Transformationsregionwerden, die
ein weltweites Vorbild darstellt.Das
ist eine einmalige Chance für die
Menschenhier.
GehtesdaumerneuerbareEnergien?
Es geht umTransformationen in
allen Bereichen. Mein Lieblings-
themaistderHoch-und Tiefbau.Ich
fändeesgroßartig,wennetwaeinIn-
stitutfürHolzbaugegründetwürde.
Denn Holz ist das idealeMaterial –
manvermeidetnichtnurCO 2 -Emis-
sionen,sondernbindetesauchnoch
aus der Atmosphäre. Tatsächlich
trageichmichmitderIdee,ein„Bau-
haus derErde“ zu gründen.Dabei
ginge es nicht nur um dieVerwen-
dung natürlicherMaterialien, son-
dernauchum vernünftigeStadtpla-
nung, die Artunseres Wohnens,das
VerhältniszwischenLandundStadt
undvielesandere.100Jahrenachder
GründungdesaltenBauhauskönnte
das neueBauhaus inBrandenburg
angesiedeltwerden.
Wiestellen Siesich Deutschland im
Jahre2029vor?
Ichhoffedarauf,dassderpopulis-
tischeSpukinderdeutschenPolitik
verschwunden ist, dass die Men-
schen und auch diePolitik eingese-
hen haben, dassDeutschland ein
Einwanderungslandistunddasswir
unseredemografischen Probleme
nurlösenkönnen,wennwirdenZu-
strom vonjungenMenschenausal-
ler Welt haben.Ichstelle mir aber
auchvorundbinsehrzuversichtlich,
dass Deutschland ein Pionier der
Nachhaltigkeit wird, für die ganze
Welt, mit den bestenIngenieuren.
Undnatürlich, dass wir eine zu-
kunftsfähigePolitik betreiben.Das
wirdvor allem den jungen Leuten
gefallen,diejamitihrerEnergie vor-
wärtskommenwollen.Wirkönnten
ihnen wieder eine Möglichkeit bie-
ten, ihrenIdealismus zu leben und
Zukunftzugestalten.
DasGesprächführte
TorstenHarmsen.
nen einevernünftige Infrastruktur
bereitstellen.Jedem Menschen in
der Gesellschaft sollte es möglich
sein, ein klimafreundliches Leben
zuführen.
Siesagteneinmal,dassmanumjedes
Zehntel unter derZwei-Grad-Grenze
kämpfen müsse.Werden SieimD e-
zemberzurWeltklimakonferenzfah-
ren?
Ichhatte fest vor, es nicht zu tun,
weil es in Chile geplant war und ich
versuche,Fernflügesogutesgehtzu
vermeiden. Aber da dieKonferenz
nun in Spanien, wahrscheinlich in
VerschwindendeKolosse: Noch gibt es sie, die gewaltigen Gletscher wie hier im Norden von Norwegen. IMAGOIMAGES
Madrid,stattfindensoll,überlegeich
es mir unterUmständen noch mal.
AbermeineHauptaufgabeistes,über
die internationaleKooperationvon
Akademien undInstituten dazu bei-
zutragen,dasswirunsereForschung
noch weiter voranbringen.Direkt an
der politischenBeratungsfront kön-
nenjetztauchmalJüngerekämpfen.
Deutschland verfehlt sein Klima-
schutzziel für dasJahr 2020.Eigent-
lich sollten bis dahin dieTreibhaus-
gas-Emissionen auf 40Prozent des
Jahres 1990 gesenkt sein.Auch das
jüngst verabschiedete Klimapaket
„Ineinem ungebremsten
Klimawandel könnte esJahrhunderte
vonUnruhen,Konflikten und
verheerendenKatastrophen auf
diesem Planeten geben.“

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