Berliner Zeitung - 09.11.2019

(Joyce) #1

Zeitenwende


4 * Berliner Zeitung·Nummer 261·9./10. November 2019 ·························································································································································································································································································


A


ls ich michvornicht allzu
langer Zeit mit einer
GruppevonWissenschaft-
lernaus Südkorea unter-
hielt, fragte mich einer derTeilneh-
mer,was man aus der deutschen
VereinigungfürKorealernenkönne.
Einereizvolle Frage,erlaubtsiedoch
einen kritischenBlick auf dasZu-
sammengehen beider deutscher
Staaten.Vielzu wenighabenwirden
Proz ess derWiedervereinigung in
seinen problematischenWirkungen
bis heute thematisiert.Mansonnte
sich im Glück derEinheit. Alles er-
schienalsGunstder Stunde,alterna-
tivlos undvonden dramatischen
EreignissenimHerbst1989geradezu
erzwungen.Nochheutehörtmanes
immerwieder:Esh ättesoundnicht
anderskommenmüssen.
AmAnfangstanddasWunderdes
Herbstes1989,alssichmutigeMen-
schen gegen dieZumutungen des
vormundschaftlichenStaatssozialis-
mus auflehnten.Nicht wissend, ob
die DDR-Führung oderMoskau zur
chinesischen Lösung greifen wür-
den,machtensiesichdaran,aufden
Straßen Leipzigs und andernorts
ForderungennachMeinungsfreiheit
undReformenzuerheben.Auchdas
Rechtzu reisenstandobenaufdem
Forderungskatalog, wobei wir beim
Reisen eher anParisals an Pader-
borndachten. Unglaublich, wie
schnell sich einSystem, das sich
jahrzehntelang in Selbstverteidi-
gung gegen den „imperialistischen
Feind“ vonaußen und dieOpposi-
tion im Inneren übte,sos ang- und
klanglos zuFall bringen ließ. Es im-
plodierte,als man daran zu rütteln
begann.In Ostdeutschland ist da-
malseinbesonderesBewusstseinfür
die Zerbrechlichkeit aller gesell-
schaftlichen Verhältnisse entstan-
den, so versteinertund unverrück-
bar sie einem auch erscheinen mö-
gen. DieÖffnung derMauer am 9.
November1989besiegeltedanndas
SchicksaldesStaatesDDR.


Mit der Öffnung der Grenzeunddem
Zusammenbruch des politischen
SystemskollabiertedieDDR-Gesell-
schaftindenSchoßderBundesrepu-
blikhinein.Andersalsvieleosteuro-
päischeLänder,dieausdemsowjeti-
schen Imperium entlassen wurden,
stand manvonAnfang an nicht al-
lein. Es war dervonvielen ersehnte
undpotenteWesten,dersichalsHel-
ferinderNotundrettendesUferan-
bot. DieVereinigung dessen, was
vierzig Jahregetrennt war,erschien
als organische Verbindung des
künstlich Auseinanderdividierten.
WieneidischschautemanausPrag,
Warschau undSofia auf dasPrivileg
der Ostdeutschen, die durch einen
Staatsvertrag überNacht im Westen
ankamen.Wo die Osteuropäer sich
mühsam ihreneuen demokrati-
schen Institutionen erst errichten,
Marktwirtschaft organisieren und
den Rechtsstaat entwickeln muss-
ten, wurden dieOstdeutschenTeil
eines „ready-made state“. Das
Schneckenhaus der DDR wurde ab-
gestreift, euphorisch undHals über
Kopfzogmanindie ,sos chienesvie-
len,Villa Bundesrepublik ein, in der
allesvorhandenwar.


Wereinen solchenUmzug wagt,
derlässtauchvieleDingezurück.Es
warennichtnurdiepolitischenVer-
hältnisse,die sich veränderten, es
warenauchdieRegelnundNormen
des Zusammenlebens,die einge-
spieltenSozialbeziehungen und die
Alltagskultur.Das Aufgeben der
DDR-geprägten Lebensweise und
dieschnelleUmgewöhnungundAn-
passung wurden alswesentlich für
dieerfolgreicheVereinigungangese-
hen.Esschienalsausgemacht,dass
es mit demBeitritt zu einemAus-
schleichen der DDR-Vergangenheit,
einerVerwestlichungdesOstensund
einer sukzessiven Angleichungvon
OstanWest kommen würde.Nach-
demderStaatssozialismusàlaD DR
erledigt war,sollten nun imOsten
jene Entwicklungen greifen, die im
Westenvollzogenwurden.DerInsti-
tutionenwandelgehedemBewusst-
seinswandelvoran,solautetedasin
den Sozialwissenschaften populäre
Verdikt.
Vieles ist in derEinheit geglückt
und auf zahlreicheEntwicklungen
kannmanstolzsein.DieGewinnean
Freiheit undWohlstand sind unbe-
stritten. DiegroßeMehrheitderOst-
deutschenstimmtheutederAussage
zu, die Vereinigung habe mehrVor-
als Nachteile gebracht, die Lebens-
zufriedenheit im Osten hat fast
Westniveau erreicht.Eine Ost-West-
Kluft bei denEinkommen und den
Renten ist zwar nochvorhanden,
aberkleineralsjezuvor.
ZugleichistabermancheFraktur
des Übergangs bis heute nichtver-
heilt.DerunbedingteWillevielerim
Osten, jetzt sofortoder möglichst
schnellzumWestenzukommen,hat
eineVereinigungaufAugenhöhege-
radezuunmöglichgemacht.Vieleim
Westen verstanden die DDR als in-
solventenStaat, den es samtBevöl-
kerungzuübernehmengelte.Esw ar
die übergroßeZustimmung für die
„AllianzfürDeutschland“inderletz-
ten Volkskammerwahl imFrühjahr
1990, die es den maßgeblichen Ak-
teuren möglich machte,sich gegen
weitergehendeMitsprachebegehren
des Ostens imProz ess der Vereini-
gungabzuschirmen.Wersov ielRü-
ckenwind bekam, der brauchte auf
die Befindlichkeiten undInteressen
vorOrtkaumRücksichtnehmen.
Dasführte aber dazu, dass der
Modus derWiedervereinigungvon
vielen Ostdeutschen alsEntmächti-
gung wahrgenommen worden ist.
Eben noch entdeckten sie sich an
Runden Tischen, in freienWahlen
und in unzähligenDiskussionen als
handelnde politischeSubjekte,nun
wurdensieimZugeder Wiederverei-
nigungpolitischmarginalisiert.
SosetztensichvieleOstdeutsche
resignativ wieder auf ihrePlätze,
nachdem sie mutig aufgestanden
waren. Im Rückblick steht dieWie-
dervereinigung für ein hauruckarti-
ges Hereinholen der 16Millionen
DDR-Bürger in die westdeutsche
Modellgesellschaft, ohneWenn und
Aber.Die über den Osten kom-
mende BlaupauseWest ließ keinen
Platz für eigene institutionelle Lö-
sungen oderSelbstfindungen jegli-
cher Art.Das, was im Westen galt,
wurde dem, was eben noch „DDR“
war,übergestülpt.DieKlagen über

Wiesoo ftgiltauchhier:DieKosten
der Einheit wurden sozialisiert, die
Gewinneprivatisiert.
Heute,30J ahrenachdemFallder
Mauer kehrtder Osten auf eigen-
tümlicheWeise zurück.Nicht, dass
dieMenschennochanderunterge-
gangenen DDR hingen.Aber doch
so,dass sich derOsten auf bislang
unbekannte Weise artikuliertund
sichtbar macht.So,dass sich man-
cherKommentatorbesorgtüberdie
zahlreichen Umfragen beugt. Die
Fieberkur ve des ostdeutschenDe-
mokratiebewusstseins erscheint als
kritisch.DasVertrauen in die politi-
schenElitenistgering,mancheSys-
temkritik macht sich lautstarkbe-
merkbar .Auch die untergegangene
DDR-Gesellschaft wirdinO st und
Westrechtunterschiedlichgesehen.
WieeinBumerangkehrtdieDiskus-
siondarüberzurück,obdieDDRein
„Unrechtsstaat“ war.Zwischen der
Instrumentalisierung durch Kalte
Krieger einerseits und politischer
Anbiederei an ehemals staatsnahe
Milieus andererseits ist der Grat
nüchterner Auseinandersetzung
recht schmal.Hier merkt man, dass
wiroftüberdiefalschenDingestrei-
ten. DieDDR war keinRechtsstaat,
weilsiekeineunabhängigeJustizbe-
saß, und in ihr wurden imNamen
des Gesetzes grundlegende Men-
schenrechteverletzt. DieDDR war
zugleichmehralseinUnrechtsstaat,
weil es jenseits des Offiziellen ein
vielfältiges Leben gab,ind em Men-
schen sich einrichteten und ihre
Subjektivität entfalteten.DasLeben
in der DDR lässt sich nicht aufGe-
waltherrschaft,Stasi und Mauertote
reduzieren.Dieser Erfahrungsraum
istes ,derseinenPlatzsucht.
RessentimentundSystemskepsis
gibtesauchimWesten,aberinOst-
deutschland scheinen sie sich zu
verdichten. Dashat etwas mit dem
ErbederDDR-Erfahrung,demÜber-
gangundderTransformationsphase
zutun,jeweilsaufeigeneWeise.Poli-
tisch jedenfalls,sos cheint es,steht
die demokratischeKultur vielerorts
auf keinem sicherenGrund. Nach
der Emanzipation derMassen von
politischer Bevo rmundung durch
die friedlicheRevolution von
fehltedernächsteSchritt,umdiede-
mokratischePraxisdauerhaftzuver-
ankern. Vielzu wenighatmandaran
gedacht, dass man den demokrati-
schen Einsatz der Ostdeutschen
selbst braucht, um dieDemokratie
mit Leben zu füllen.Zugewanderte
Spitzenkräfte aus demWesten und
der Institutionentransfer reichen
nicht, umMenschen nachhaltig zu
bindenundzubegeistern.DieMen-
schen mitzunehmen und in den
Übergangsprozess einzubinden, ist
eine Lektion, die ich auch meinen
koreanischen Gesprächspartnern
mit auf denWeggab.Dazu gehört,
die Mentalitäten undStimmungen
vorOrt zu berücksichtigen, damit
Menschennichtüberrolltwerden.
Damals galt vieles als alternativ-
los,der Dynamik derGeschehnisse
geschuldet.Mankanndarüberstrei-
ten, ob dieDinge,die wir heute als
Probleme benennen, nicht damals
auch schon offen zuTage traten.
Aber man muss denHorizont auch
weiter ziehen, um den Epochen-

bruch von1989richtigeinordnenzu
können.DerFallder BerlinerMauer
war ja nicht nur eine deutsch-deut-
sche Angelegenheit, sonderndas
Symbol für dasEnde der bipolaren
Welt. DerMauerfall galt damals als
SargnagelnichtnurdesStaatssozia-
lismus,sondernkonkurrierender
Systemalternativen insgesamt.Der
Westen, so schien es,sei auf ganzer
Front –wirtschaftlich, politisch und
normativ–überlegen.DerDurch-
marschvonDemokratie,Marktund
Rechtsstaatlichkeit galt als ausge-
machteSache.DasAkronymTINA–
Thereisn otalternative–wardas Sig-
numderdamaligenZeit.Oderinder
eingedeutschtenVersion: Keine Ex-
perimentemehr!

Mit dem scheinbarenTriumphzugdes
liberalenModells haben sich durch
dieHintertüretlicheVeränderungen
ergeben, die langeZeit übersehen
wurden.DerZusammenbruch des
Staatssozialismus hat auch dieAuf-
ladungdesNationalenundeineEth-
nisierungsozialerKonfliktemitsich
gebracht, die so gar nicht zum ge-
meinsamenHaus Europa und der
Globalisierungseuphorie der 1990er
Jahrepassen sollte.Auch gab es in
Osteuropa einen neoliberalenRe-
formeifer,derbaldauchAnsteckun-
gen in RichtungWesten auslösen
sollte.
MeinKollege,derHistoriker Phil-
ipp Ther,spricht voneiner schlei-
chenden Co-Transformation des
Westens.DerWesten,derdamalsals
Zentrumeinessichuniversalisieren-
den Liberalismus samt derVerbrei-
tung vonMarkt, Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit undMenschen-
rechten galt, sieht sich heute neuen
Herausforderungen gegenüber.Der
Aufstieg neuer Mächte,der Zu-
spruch,denauchautoritäreRegime
erfahren, die rechtspopulistischen
Bewe gungen,derZerfalldermultila-
teralen Ordnung, die Handlungs-
schwächeinternationalerInstitutio-
nen,diezunehmendensozioökono-
mischen und soziokulturellenSpal-
tungen innerhalb der westlichen
Gesellschaften,dieplanetareBedro-
hungdurchökologischeRisikenund
den Klimawandel–das alles sind
Zeichendafür,dassdas Fortschritts-
narrativ des westlichen liberalen
Modells neu erzähltwerden muss.
Einen Automatismus fortschreiten-
derVerbesserungscheintesnichtzu
geben. DervorhergesagteSiegeszug
derliberalenOrdnungwurdeanvie-
len Orten dieserWelt sogar unsanft
abgebremst.
Vielleicht ist diese schleichende
Veränderungdurchnichtsbesserre-
präsentiertalsdurchdasSymbolvon
1989 schlechthin: dieMauer.Lang-
zeitdatenzurEntwicklungvonMau-
ernzeigeneinenstetigenAnstiegder
Zahl der fortifiziertenGrenzen seit
den 1990er Jahren bis zu einem
Höchststand heute.Seit demZwei-
tenWeltkrieggabesnochniemalsso
viele Mauernund kaum überwind-
bareGrenzbewehrungen und so
viele Kilometer an militarisierten
Grenzen wie heute.Die Welt ohne
Mauern,diemandamalsindeutsch-
deutscher und europäischerSelbst-
bespiegelung zu erkennen glaubte,

das Plattmachen und dieEntwer-
tung desGewesenen sind bekannt.
Dasalles macht dieOstdeutschen
nichtzu Opfern,erklärtabermanche
Unzufriedenheit.
Unterschätzt hatte man dabei,
dass sich imVerlauf der 40Jahre
Trennungeigenständigesoziokultu-
relleFormenin OstundWestheraus-
gebildet hatten und die Unter-
schiede zwischen der kleinbürgerli-
chen Arbeiter-und Bauerngesell-
schaft und der individualisierten
Mittelschichtsgesellschaft erheblich
waren. Manteilte eineGeschichte,
unddochhattesichvielesauseinan-
derentwickelt.Sozialstrukturell fan-
den sich vieleOstdeutsche auf den
unteren Positionendergesamtdeut-
schen Gesellschaft wieder.Manche
Mentalitätsprägung überdauerte.
UndneueSpannungenentstanden.

Die Massenabwanderung von Ost
nachWesthieltfastzwanzigJahrean
und nahm demOsten Jugend und
Talente.Umgekehrtzogen viele
Westdeutsche(vorallemMänner)in
die Führungsetagen imOsten ein.
Indem man auf einen umfassenden
Elitentransfer vonWest nachOst
setzte,unterbandmanimOstenzu-
dem eine eigenständige Elitenbil-
dung, was für die politischeKultur
vorOrtproblematischeFolgenhatte.
SchließlichkamesimOstenstattzu
einem„Wirtschaftswunder“zueiner
verheerenden ökonomischen Tal-
fahrt, die denOstdeutschen die Ar-
beitslosigkeit alsKollektivschicksal
bescherte.Überhauptmussmanfra-
gen, ob derWegind ieWiederverei-

nigung ökonomisch geglückt ist.
Hans-Werner Sinn, der ehemalige
ChefdesMünchnerifo-Instituts,hat
bemängelt,dassessichbeiderTreu-
handprivatisierung um eine
„Ramsch-Aktion“ gehandelt habe.
DieostdeutschenBetriebesolltenin
kürzester Zeit veräußertwerden, so
dass sichweder vernünftige Preise
erzielen nochvernünftige Struktu-
renentwickelnließen.
DieTurbo-Privatisierung der
Treuhand–8.500 Betriebe in vier
Jahren –bewirkte einenrapiden
Preisverfall ostdeutscher Betriebe.
DieWohnungsbestände der DDR
wurden zuSpottpreisen an west-
deutsche Unternehmen verscher-
belt, während man in Polen die
breite Bevölkerung daran beteiligte.
Auchzum Bilddes WestensalsZahl-
meister des „AufbauOst“ lässt sich
ein Gegenbild entwerfen:Denüber
zwei Billionen Euro an staatlichen
West-Ost-T ransfers,muss man die
privatisierten Vereinigungsgewinne
im Westen gegenüberstellen.Diese
sindbisheutenichtbeziffert.
ObEinverleibungderStaatlichen
VersicherungderDDRdurchdieAlli-
anz,diegroßenEnergieversorger,die
inden Ostendrängtenoderdienun-
mehr saniertenImmobilien in den
Innenstädten ostdeutscher Groß-
städte,die sich heute laut einerRe-
cherchedesMDRzueinemerhebli-
chenTeil in westdeutschen Händen
befinden.NichtzuletzthatderWes-
tendurchdieBinnenmigrationnach
der Wende über zweiMillionen gut
qualifizierteFachkräfte bekommen.
ImWesten gibt es nichtwenige Ge-
winner derEinheit, die profitierten.

Ost-Berlin nach dem 13. August 1961: Die Mauer an der Bernauer Straße wächst. DPA West-Berlin, 12. Juni 1987: US-Präsident Ronald Reagan (li.) an der Mauer. IMAGO IMAGES


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Berlin, 12. November 1989: Auf der Mauer amPotsdamer Platz. AP/LIONEL CIRONNEAU

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VielesanderEinheitistgeglückt,


dochUnzufriedenheitundSkepsis


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Wielässtsichdasändern?


EinPlädoyerfürmehrExperimente

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