Berliner Zeitung - 09.11.2019

(Joyce) #1

Zeitenwende


6 Berliner Zeitung·Nummer 261·9./10. November 2019 ·························································································································································································································································································


D


urs Grünbein undSher-
min Langhoff kennen
sichnicht.DasGespräch
findet in der Mauerst-
raßestatt,mitBlickaufdiebeeindru-
ckende Skyline des wiedervereinig-
ten Berlin und auf, wieDurs Grün-
beinsofortanmerkt,GöringsReichs-
luftfahrtministerium–heute sitzt
dortdasBundesfinanzministerium.


1989wareinEpochenwechsel.Leben
wirwiederineinemUmbruch?
DURSGRÜNBEIN:1989warder
TodesstoßfürdenStalinismus.Mich
hatvor1989vorallemdie Gewaltför-
migkeit dieser linken Utopie ver-
stört. DerHitler-Stalin-Pakt, in dem
beide Extremformen einer antide-
mokratischen Herrschaft zusam-
menfanden, war eines der wichtigs-
tenDatenihrerGeschichte,einesder
großen Menetekel desJahrhunderts
auch.DieserganzeSpukschien
zuenden.Danachsollteetwasande-
resbeginnen.Ganz Europa, auch
große Teiledes Ostens,gehenaufin
einer DemokratiewestlichenTypus.
Dreißig Jahrespäter sehen wir uns
umundstaunen,inwelcheRichtun-
gen die einzelnen Länder gegangen
sind.EsistkeinZufall,dassichmich
heute mitFaschismustheorien be-
schäftige,umzuverstehen, was da
losist. Dennoch:1989wareingroßer
Sprung in dieFreiheit. Dasunver-
gesslicheErlebnis,wie Hierarchien
sichauflösen!Heutewissenwir:Die-
ser Moment lässt sich nicht festhal-
ten.WirhabendieFreiheitvonferne
gegrüßt.Dasist das Entscheidende
fürmich.DasgenügtmiralsImpuls
fürden RestmeinesLebens.
SHERMIN LANGHOFF: Epo-
chaleWechsel?AlledreißigJahre? Ich
würde nichtvonEpochenwechsel
sprechen.InunsereheutigeLagehat
uns derNeoliberalismus gebracht.
Dessen entfesselterSiegeszug wäre
ohne denMauerfall nicht möglich
gewesen.Waswir gerade erleben ist
dochderZusammensturzeinerOrd-
nung, die nach demZweiten Welt-
krieg entstand.Damals wurden die
VereintenNationengeschaffen,Völ-
kermor dgeächtet, dieMenschen-
rechte implantiert. Dreißig Jahre
nach dem Mauerfall erleben wir
weltweit ökonomische,soziale und


politischePolarisierungen. Anstelle
vonplanetarischen Perspektiven
undSolidaritäterstarkennationalis-
tische Autokratien undDiktaturen
überall auf derWelt. DieSehnsucht
nach starken Männernund einfa-
chen Antworten ist wieder da: Do-
naldTrump,XiJ inping,WladimirPu-
tin, Recep Tayyip Erdogan. Dieser
Epochenwechsel, der Anfang der
90er begann, ist womöglich noch
einschneidenderalsdervon1989.Er
hängt mit ihm zusammen.Freiheit
bedeutetFreihandel,undzurSelbst-
identifizierung imKontext derGlo-
balisierungspielenNationundReli-
gion wieder eine großeRolle.Auch
die Sklaverei. Da sind nicht nur die
statistischerfasstenundgeschätzten
circa 50Millionen Sklaven, sondern
auch die 500Millionen Menschen,
die heute unter sklavereinahenBe-
dingungenlebenundarbeiten.
GRÜNBEIN:DieFrage ist doch,
warum treiben entfesselte Märkte
dieBevölkerungnachrechts?
LANGHOFF:Neoliberalismus ist
eben nicht nur Ökonomie.Esg eht
darum, welcherWertMenschenund
welcherWertderGemeinschaftbei-
gemessen wird.EinSystem, das die
EinzelnenzurKonkurrenzgegenein-
ander aufhetzt, zerstörtGemein-
schaft.WenndassozialeNetzdurch
Ich-AGs ersetzt wird, dann weiß
man,wohindieReisegeht.
GRÜNBEIN:Warumabergehtes
soschar fnachrechts,warumistder
linke Aufstand zuEnde? DerAufruf
„Empör teuch!“ ist ziemlich schnell
verstummt.Daswar nach derWelt-
wirtschaftskrise 1929 schon einmal
so.Dasklingtvielleichtparadox,aber
es gibt einen gewissenWiderspruch
zwischenVolk und Demokratie.De-
mokratieisteinpolitischesIdeal.Sie
ist nicht einfach nur eineRegie-
rungsform. Demokratie muss ge-
wollt werden. Volk ist dagegen eine

MengevonMenschen,diesichzuei-
nerGemeinschaftzählen.Wirhaben
es heute vielerorts mitKonflikten
zwischenDemokraten und völkisch
Gesonnenenzutun.
LANGHOFF: Weder die Men-
schenrechte noch dieDemokratie
wurdengeschenkt.Siewurdenmeist
mit viel Blutvergießen erkämpft.
Viele nationalstaatliche demokrati-
sche Ordnungenweltweit entstan-
dennachdemErstenWeltkrieg. Von
Völkern,vonBevölkerungen.Dawar
keinGegensatz.MirfälltJugoslawien
ein. Da gelang es nicht, demZerfall
einesseit1918existierenden,multi-
kulturellenStaates einNarrativ für
einen neuen gemeinsamenVielvöl-
kerstaat Jugoslawien entgegenzu-
stellen.Stattdessenwurdeauchhier
einRückgriffaufeinevorgeblichvöl-
kisch reine Vergangenheit über-
mächtig.DieSerben, die Kroaten,
dieBosnier.Wirhabenauchbeiuns
eine Tendenz, Deutschland als eine
Angelegenheit der einheimischen
Deutschen und nicht derer,die in
Deutschlandleben,zubetrachten.
GRÜNBEIN:OsteuropäischeSo-
ziologen betonen, dass die Völker
sichnachdemZerfalldesSowjetim-
periums erst einmal wieder finden
mussten. Es gab einenMoment, in
dem der Nationalismus dorteine
Suchfunktion hatte.Erh alf bei der
Befreiung vonderÜbermachtderSo-
wjetunion. Es war eine Phase der
Selbstfindung.Dann aber schlug er
uminAggressiongegendieliberalen
Kräfte im eigenen Land, gegen die
Jungen,dieBewe glichen.Gleichzeitig
wareseinReflexgegendieGlobalisie-
rung, die angeblichvonsupranatio-
nalen Mächten gesteuertwird. Auf
wenkönnen dieDeutschnationalen
sichberufen?BestimmtnichtaufKai-
serBarbarossa,auchnichtaufGoethe
undSchiller.DasKonzeptderRemy-
thologisierung wir dnicht funktio-

dasbliebunsdurchdieWiederverei-
nigung erspart.Seit dreißigJahren
sagt man den Ostlern, sie hätten
keine Ahnung vonder Marktwirt-
schaft. Oder erinnernSie sich an
Christa Wolf, die JürgenHabermas
vorschlug, man solle doch jetzt im
Zuge der Wiedervereinigung eine
Verfassungsdebatte anstoßen, um
überneueDemokratieformennach-
zudenken.Habermas wies das zu-
rück und meinte so etwa:Ihrmüsst
jetztersteinmaleineLektionlernen.
Ichkonnte das damals gutverste-
hen.Washätten dieWestdeutschen
mit denErfahrungen derVerlierer
derGeschichteanfangensollen?

DasGefühl,dieeigenenErfahrungen
würden vonder Gesellschaft nicht
wahrgenommen, ist heute in vielen
Gruppenverbreitet.
LANGHOFF: Lassenwir die Ge-
fühleersteinmalweg.DasGrundge-
setz wurde nicht dazu genutzt,Ge-
setzezuf ormulieren, die eine politi-
sche Zugehörigkeit zu dieserRepu-
blik eröffnet hätten. Es gab kaum
einen Weg, Deutscher zu werden.
Deutsch waren die,die deutscheEl-
ternhatten.InderDDRwardasnoch
krasser .Die sogenanntenVertragsar-
beiter–diemeistenkamenausViet-
nam–wurdenkaserniert,abgetrennt
vomRest der Bevölkerung inklusive
Liebes- und Geburtsverbot für
Frauen. Es gab in den 70ernauch in
der DDRHetzjagden aufAusländer.
In der Bundesrepublik gab es eine
linke Bewe gung, die sich dagegen
wandte.
GRÜNBEIN:Daswar eine freie
antifaschistische Bewe gung, keine
verordnete.
LANGHOFF:Antifaschismusfinde
ichrichtiggut.Verordnetodernicht.
GRÜNBEIN:Zwangsantifaschis-
mus führtbei den Leuten wieder
zumFaschismus.

nieren. Andererseits: DieSehn-
süchte,die der Nationalsozialismus
geschürthat,warennieganzweg.

AuchnichtinderDDR?
GRÜNBEIN:DieGründung der
DDR warvonAnfang an auch der
Versuch,dieNaziszuintegrieren.Im
Großen Terror Stalins wurden viele
der Altkommunisten umgebracht
oder verschwanden in denGulags,
die Gründer der DDR waren die
Überlebenden–MarionettenMos-
kaus.UndvondortkamdieDoktrin:
WegmitderSPD,keineunabhängige
Linke.Ein hoher Proz entsatz der
SED-Genossen waren kleine
NSDAP-Mitglieder gewesen. „Die
SED: der großeFreund der kleinen
Nazis“.Erklärte PolitikStalinswares,
diese erpressbarenElemente einzu-
binden.IchbinmitderLegendeauf-
gewachsen, dieNazis seien alle im
Westen gelandet.Daswar die Le-
benslüge.Der sogenannte antifa-
schistische Schutzwall wurde ge-
schaffen,umdasExperimentinDDR
radikal nach innenvorantreiben zu
können.OhneEinmischungvonau-
ßen,ohnedieFluchtmöglichkeitder
Versuchskaninchen. DerSozialis-
musinderDDRrichtetesichvonAn-
fang an gegen die eigene Gesell-
schaft.Ichverstehekeinen,derdem
auchnureineTränenachweint.
wardas Experimentbeendet.Dawa-
renzuerst dieDemonstranten, die
dieParteiherrschaftinderDDRstür-
zenwollten. Dann war sehr schnell
klar,dass es in der BRDPläne gab,
Ostdeutschland einfach anzuschlie-
ßen. Da führte bald keinWegmehr
daran vorbei. DieBetriebe wurden
durch dieTreuhand verk auft. Nicht
andie Mitarbeiter,sondernanK api-
taleigner ausWestdeutschland. Es
gab durchaus SED-Mitglieder,die
gerne Oligarchen geworden wären,
wieessieinRusslanddanngab.Aber

LANGHOFF:Wohatesdengege-
ben? In der DDR?Da wurden doch
rassistischeHetzjagden unter den
Teppichgekehrt.
GRÜNBEIN:Derverordnete An-
tifaschismuswardaseine,dieRheto-
rikderSolidaritätmitdensozialisti-
schen Brudervölkernund denUn-
terdrückten desImperialismus das
andere. BeideswarimAlltagnietief
verwurzelt. In allem herrschte die-
selbe Doppelmoral.DieLeute wur-
dennichtanihreeigeneVerantwor-
tung imKampf gegen faschistische
Strukturenerinnert,sondernmitPa-
rolen eingeschläfert.Manfragt sich
doch, wie sind inDeutschland de-
mokratische Ansätzeüberhaupt
möglich?SchoninderWeimarer Re-
publik wurden sievonrechts und
linksgleichermaßenbedrängt.
LANGHOFF: Demokratische
Strukturen? Dasmüsstendochnicht-
völkischeStrukturensein.Nachdem
Zweiten Weltkrieg gab es keine
Zwangsarbeitermehr.Esk amen–ich
rede vonder Bundesrepublik–die
Gastarbeiter.Seit den 60er-Jahren ist
die Bundesrepublik einEinwande-
rungsland.RechtlichwurdedieserSi-
tuation Jahrzehnte lang nichtRech-
nunggetragen.Heutestehenwirvor
der Situation, dass überall im Land
gefragtwird,obdieknappsechsMil-
lionenMenschenmuslimischerHer-
kunft zuDeutschland gehören oder
nicht.DabeihatdieHälftevonihnen
einendeutschenPass.Waswollendie
Deutschen denn machen,wenn sie
sich ihr eFrage mit Nein beantwor-
ten?WelcheLösunghabenWest-und
Ostdeutsche,die seit dreißigJahren
einander suchen, für diesenFall pa-
rat? Das, was 1992 inRostock-Lich-
tenhagenundMöllngeschah?Wirbe-
wegenunsineinersichwiedergerne
völkisch orientierenden Öffentlich-
keit.Dabeihabenetwa25Proz entder
deutschenBevölkerungeinenMigra-
tionshintergrund. Wenn man jetzt
nochaufdie22Proz entOstdeutsche
schaut, die ihreErfahrungen auch
nicht einbringen sollen, dann wird
die Mehrheit derMehrheitsbevölke-
rungschnellsehrknapp.
GRÜNBEIN:Binichein Migrant?
LANGHOFF:DieBerlinerMigra-
tionsforscherinNaika Foroutan be-
schreibt in ihrem Anfang desJahres

BERLINER ZEITUNG/PAULUS PONIZAK (2)

„EinSystemwandelistnötig“


War1989derAufbruchindieFreiheitoderderAnfangderneoliberalen


Katastrophe?WaskönnenwirtungegendieZersetzungderDemokratie,gegen


dierückwärtsgewandtenUtopienvonMännerwahnundvölkischerReinheit?


SherminLanghoffundDursGrünbeinimGespräch


SHERMIN
LANGHOFF

...wird 1969 im
türkischenBur-
sageboren,
kommtmitneun
Jahrennach
Nürnberg als
Tochter einer tür-
kischen Einwan-
derin.

...arbeitet unter
anderem als
Filmproduzentin.

...leitet nach er-
folgreichen Jah-
ren am HAU in
Berlin undim
BallhausNau-
nynstraßeseit
2013 dasMa-
xim-Gorki-Thea-
ter.Eswurde
seitdemmehr-
fachzum„Thea-
ter desJahres“
gewählt.

DURS
GRÜNBEIN

...wird 1962 in
Dresdengebo-
ren,lebtseit
1986 inBerlin
undinzwischen
auch in Rom.

...ist einer der
bekanntesten
deutschen Auto-
ren, seit 1988 im
Suhrkamp-Ver-
lag sein Gedicht-
band „Grauzone
morgens“ er-
schien.

...hat mehrals
dreißigBücher
veröffentlicht:
Gedichtbände,
Essays undÜber-
setzungen.Sein
neuestesBuch
trägtdenTitel
„AusderTraum
(Kartei).Aufsät-
ze undNotate“.
Free download pdf