Berliner Zeitung - 09.11.2019

(Joyce) #1

Zeitenwende


Berliner Zeitung·Nummer 261·9./10. November 2019 7 *·························································································································································································································································································

erschienenen Buch „Die postmi-
grantischeGesellschaft:EinVerspre-
chenderpluralenDemokratie“,dass
dieMigrationsfragelängstzurneuen
sozialenFragegewordenistunddass
sichanihrVerteilungsgerechtigkeit,
kulturelle Selbstbeschreibung und
demokratische Verfasstheit be-
schreiben undverhandeln lässt.Bei
derVerteilungsgerechtigkeit sieht es
auchfürdieOstdeutschennichtgut
aus.Die besserenJobs gehen an die
einheimischen Männer aus dem
Westen. Dasist so .Auch das gehört
zurBilanzvondreißigJahrendesZu-
sammenwachsensvondem,waszu-
sammengehört.


Seit einer Stunde sprechen wir sehr
erregt über unsereLage. Undkein
WortüberdasKlima.
GRÜNBEIN: Mirscheint das
Problem des politischen Klimas
drängenderals das Schmelzen der
Polkappen. Daspolitische Klima
entscheidet,wie es klimapolitisch
überhauptweitergeht.
LANGHOFF:DerKampf gegen
dieKlimakatastrophewirdnichtge-
führtwerden können,wenn rechts
und links sich auf ein paar techni-
sche Maßnahmeneinigen.Wirha-
benesmiteinemSystemproblemzu
tun. DasKlima wirdruiniertvon
massivenökonomischenInteressen,
die dazu führen, dass zum Beispiel
große Teile Zentralafrikas austrock-
nen.Wirwerdenes,wennwirnichts
unternehmen,inEuropainzwanzig
Jahren mit einer Milliarde Klima-
flüchtlingenzu tun haben. Da wer-
den keine Mauernmehr helfen. Ein
Systemwandelistnötig.
GRÜNBEIN:DerUmgang mit
VertragsarbeiterninderDDRwarge-
nausobeschämendwiedermitden
Gastarbeiterninder Bundesrepu-
blik. Mankann Menschen,die man


gerufen hat, weil man sie brauchte,
nichtnachherentsorgenwollenwie
einenGebrauchtwagen.DasGefühl,
unerwünscht zu sein, ist mir nicht
unbekannt.IchkommeausderErb-
masse der untergegangenen DDR.
UnddochhabeichmichniealsOst-
deutschenbetrachtet,nurfürdiean-
deren war ich einer.Vierzig Jahre
DDR–dasistnichtmeineIdentität,
wenn es überhaupt so etwas gibt.
IdentitätensindetwasfürLeute,die
sonst nichts haben.Ichbin irgend-
wann aufgebrochen.Ichsah mich
als Teil einer Weltgemeinschaft der
Künste.Wie weit bin ich damit ge-
kommen? Es scheint so,als sei ich
auf der Stelle getreten.Wieder fragt
manmichnachderHerkunft,wieder
bin ich alsVertreter einer bestimm-
ten Gruppe gefragt, wieder wird
meine Lebensgeschichte zur politi-
schenMünze.Sosollichimmerwie-
derüberdieMentalitätderLeuteim
Osten Auskunft geben.Ichbin aber
kein Auskunftsbüro. Ichfrage mich

jedoch beim Blick auf dieWähler in
manchender neuen Bundesländer:
Wenn die AfD kein Armutsproblem
ist, wovorhaben diese Leute dann
Angst?Warumhabe ich diese Angst
vordenMigrantennicht?
LANGHOFF: Naika Foroutans
Studie spricht nicht vonAngst. Sie
beobachtet,dassdieUnzufriedenen
sich über etwas ärgern. Siestellen
fest,dasssie,selbstwennsieerfolg-
reichsind,esnichtsoweitgebracht
habenwiedieWestler,mitdenensie
sich vergleichen.Siesehen auf Zah-
len wie diese: 22 Prozent der Bevöl-
kerung Deutschlandshaben einen
DDR-Hintergrund.Siebesetzenaber
nurdreiProzentderhöherenPosten
inderRepublik.WasmachenMargi-
nalisierte? Es gibt dreiWege für sie:
Siemachensichunsichtbar,wählen
einenanderenNamen...

ZumBeispielLanghoff.
LANGHOFF:...oderziehennach
Rom, wo sie Deutscherund nicht

etwa Ostdeutschersind. Derzweite
Wegist:Mandeutet um,was einem
zugeschrieben wird. Manüber-
nimmt dieKontrolle .Jedenfalls im
Diskurs.Das mache ich mit meiner
Arbeit. DerdritteWegist die Selbst-
stigmatisierung: Manidentifiziert
sichmitdemAngreiferundgibtihm
recht. DerOstler/Migrant, der am
meisten über dieOstler/Migranten
schimpft.DieDominanzgesellschaft
interessiertsich sehr für diesePhä-
nomene.Nummer drei ermöglicht
ihr,deneigenenAntisemitismusund
Sexismus vorzugsweise beiMigran-
ten, Faschismus,Rassismusvoral-
lemim Ostenzusehen.„Ossis“und
„Kanaken“ sollten sich zusammen-
tun!Dashabeichschonvorzwanzig
Jahren gesagt.Nicht angesichts der
jüngstenWahlergebnisse.

Wiesollder Systemwandelkommen?
LANGHOFF:Keine Ahnung.Wir
starren auf die Kinder,die Greta
Thunbergs.Wir hoffen, dass sie uns

retten. Schließlichist es ja ihreZu-
kunft. Dasist bizarr.Indieser post-
faktischenZeitgibtesFragen,dieich
mir,lachen Sienicht, nicht beant-
wortenkann.
GRÜNBEIN:Wirsprechenvon
Bevölkerung. Wirsprechen von
Demokratie.Aber in dem Mo-
ment, in demvonrechts wieder
Identitätspolitik gemacht wird, ist
das für einige eineRealität. Wie
soll man derBevölkerung sagen,
dass sie keinVolk, sonderneine
Bevölkerung ist?Wie1989 wird
wieder skandiert: „Wir sind das
Volk“. Dasist das Schlagwortfür
Selektion.Manwill,undseiesmit
Gewalt, darüberbestimmen,wer
in Deutschlanddazugehörtund
wernicht.Ichbinschondamals
bei den Demonstrationen 1989
ausgestiegen,alseshieß:„Wirsind
einVolk“.Ichwolltemichaufkei-
nenFallrekrutierenlassenfürdie
nächste Armee,dieirgendwann
losmarschieren muss.Aber an-

scheinend ist das dieHaltung von
Träumern.
LANGHOFF: Manmuss etwas
tun.
GRÜNBEIN:Manmussdie Iden-
titätenzertrümmern.Dasistdie Auf-
gabederKünste.
LANGHOFF:EsgehtumVerflüs-
sigung vonIdentität.DieMöglich-
keit des Wechsels,der Gleichzeitig-
keitenundderVermischung:Natio-
nalitäten,Religionen,Geschlechter
und so weiter.Mit ihnen mussGe-
meinschaft gemachtwerden. Nicht
durchdenRückgriffaufdieReinheit
vonEthnie,KulturundNation.
GRÜNBEIN: Es ist mir unbe-
greiflich,warumdasimmerwieder-
kehrt. Dass es scheitert, dass es je-
des Malscheitert, ist doch überall
zu sehen.Berlin war einTrümmer-
feld nach dem letzten identitären
Großversuch. Vielleichtist es das,
was mich am meistenbedrückt:Es
gibt keine Zukunftsprojekte mehr.
Niemand hat etwas vor. Dieeinen
wollen zurück, und die anderen
wollen nichts als das Schlimmste
verhindern. In der Klimaschutzbe-
wegung geht es um Schadensbe-
grenzung.Ichbezweifle,dass dar-
auseineneueGesellschaftwird.Wo
bittegehteshinausinsFreie?
LANGHOFF:Wirbrauchen eben
doch ein Wir. Auch Sie, Herr Grün-
bein, brauchen eins! Zumindestein
imaginäresinuns.
GRÜNBEIN: DieMenschheit
steckthoffentlichinjedemvonuns.
Wirsind Individuen,aber keine so-
zialen Atome.Ich habe einmal ge-
sagt:„DubistMisanthropausGesel-
ligkeit, aus EinsamkeitHumanist.“
DerTerrorfängtdortan,womanden
anderenseinenPartikularismusauf-
zwingenwill.

DasGesprächführteArnoWidmann.

„Man will,


und sei es mit


Gewalt, darüber


bestimmen,wer


in Deutschland


dazugehörtund


wernicht.“


„Wir


bewegen uns


in einer sich


gerne wieder


völkisch


orientierenden


Öffentlichkeit.“


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