Die Welt Kompakt - 12.11.2019

(Joyce) #1
lichkeit habe es sich bei den
Eindringlingen um mehrere ge-
trennte Stämme gehandelt, die
sich nicht als Einheit sahen.
Und der lateinische Ausdruck
anglo saxorum sei zwar spora-
disch in der frühenglischen Pe-
riode belegt, aber meistens hät-
ten die Menschen im frühen
Mittelalter sich Englisc oder An-
gelcynn genannt. Auch in der
normannischen Periode sei
Anglo-Saxon nur ganz
gelegentlich in königli-
chen Titeln gebraucht
worden.
Erst mit der Reforma-
tion sei der Bezug auf ei-
ne einheitlich angel-
sächsische Nation, aus
der England hervorge-
gangen sei, in Schwang
gekommen. Damals ging
es darum, schreibt Ram-
baran-Olm, einen Zu-
sammenhang zwischen
den zeitgenössischen
Reformen und einer ur-
englischen Kirche zu be-
tonen. Aber erst im 18.
und 19. Jahrhundert sei
das Attribut angelsäch-
sisch dann wirklich populär ge-
worden, um weiße Menschen
mit deren vorgeblichen Ur-
sprüngen zu verbinden. In die-
sem Sinne benutzten mittler-
weile auch Laien das Wort an-
gelsächsisch gedankenlos.
Die grundfalsche Idee einer
„angelsächsischen Nation“
oder „Rasse“ wurde in den ver-
gangenen 500 Jahren immer
wieder hervorgekramt, um Pa-
triotismus, Imperialismus und
rassische Überlegenheit zu pro-
pagieren, referiert Rambaran-
Olm. Mit dem britischen Kolo-
nialismus und dann der Grün-
dung der USA seien solche Vor-
stellungen auf Amerika ausge-
dehnt worden: „Die weiße Vor-
herrschaftsbewegung in Euro-
Amerika hat den Terminus ,an-
gelsächsisch‘ seit mindestens
200 Jahren benutzt, um rassis-
tische Gewalt und kolonialisti-

Blüte solcher Ideologien ist der
Ku-Klux-Klan, in dessen Welt-
bild der rein weiße angelsächsi-
sche Protestant der einzige le-
gitime Herr des Landes ist.
Der Streit berührt also nicht
nur universitäre Orchideenfä-
cher, in denen Professoren vom
Typ J. R. R. Tolkiens sich über
solche Insignien des Alten Eng-
lands wie das Beowulf-Epos
oder das „Book of Kells“ beu-
gen, sondern er scheint
unauflöslich verknüpft
mit vielen jahrhun-
dertealten und einigen
ganz neuen Bitternis-
sen. Sollten die Anglo-
Saxonists selbst ent-
scheiden, ihren Namen
aufzugeben, hätte das
langfristig sicher auch
Signalwirkung für den
politischen und um-
gangssprachlichen Ge-
brauch des Wortes.
Ähnliche Terminolo-
gie-Neujustierungen
hat es gerade im Feld
der frühen Geschichte
immer mal wieder gege-
ben. Auch in Deutsch-
land nutzen nur noch wenige
den Ausdruck indogermanisch ,
mit dem man seit dem 19. Jahr-
hundert eine verwandte Familie
von Sprachen bezeichnete, die
von Westeuropa bis Indien be-
heimatet ist – heute hat sich da-
für die Bezeichnung indoeuropä-
isch weitgehend durchgesetzt.
Man würde allerdings gerne
mal mit hyperkorrekten briti-
schen Akademikern darüber
diskutieren, inwieweit die Be-
zeichnung Germany eigentlich
noch zeitgemäß und wissen-
schaftlich haltbar ist. Denn die
Identifikation des heutigen
Deutschlands mit einem Ger-
manien, das es als politische
und eigentlich auch als ethni-
sche Einheit nie gegeben hat, ist
wissenschaftlich noch deutlich
weniger haltbar als der Mythos
vom rein angelsächsischen Ur-
sprung der englischen Nation.

S


ie kamen mit ihren
langen Schwertern,
langen Booten und
langen Bärten über
die Nordsee, erschlugen, be-
raubten, unterdrückten, ver-
drängten die alte keltisch-römi-
sche Bevölkerung und dachten
keine Sekunde darüber nach,
dass der Name ihrer Ethnie
1500 Jahre später Anstoß bei
Apologeten einer politisch kor-
rekten Sprache erregen könnte.
Die Rede ist von den Angelsach-
sen, einem germanischen Sam-
melvolk, das nicht nur aus An-
gehörigen der Großstämme An-
geln und Sachsen bestand, son-
dern zu dem auch noch Jüten,
Friesen und Niederfranken ge-
hörten. Im fünften Jahrhundert
eroberten sie große Teile Bri-
tanniens, nachdem 409 die letz-
ten größeren römischen Ar-
meeverbände von der Insel ab-
gezogen waren, und deshalb
hieß dieses Gebiet zuerst auf
Lateinisch Anglia und heute
England.


VON MATTHIAS HEINE

Aber wer weiß, wie lange
noch? Zumindest der Begriff
angelsächsisch soll nicht mehr
verwendet werden, wenn es
nach akademischen Aktivisten
geht. In den USA und zuneh-
mend auch in Großbritannien
mehren sich Stimmen, die for-
dern, den Begriff Anglo-Saxon
aus dem Sprachgebrauch zu
entfernen, weil er rassistisch
und exkludierend sei.
Die Debatte, die längere Zeit
auf jene Teile der intellektuel-
len Welt beschränkt blieb, in
denen wöchentlich neue Buch-
stabenkombinationen zur Be-
zeichnung unterdrückter Min-
derheiten ersonnen werden,
hat nun auch die großen – wir
nennen es vorerst weiter so –
angelsächsischen Medien er-
reicht. Die in Fragen des Natio-
nalstolzes besonders auf Empö-
rung gebürsteten „Sun“ und
„Express“berichteten nahezu
gleichlautend, die kanadische
Historikerin Dr. Mary Ramba-
ran-Olm, die nun in Irland lebt,
habe angeregt, Anglo-Saxon aus
dem historischen Wortschatz
zu sortieren, denn der Begiff sei
„verbunden mit der Ideologie
weißer Vorherrschaft“. Deshalb
sollte er durch early English
(„frühenglisch“) ersetzt wer-
den.
Der Ausdruck angelsächsisch ,
der seit Langem benutzt wird,
um die Epoche zwischen der In-
vasion germanischer Völker im
fünften Jahrhundert und der
Eroberung Englands durch
französisch sprechende Nor-
mannen 1066 zu beschreiben,
sei mittlerweile ein Kampfbe-
griff, den Rassisten gleichbe-
deutend mit „weiße Menschen
britischen Ursprungs“ benut-
zen, so Rambaran-Olm.
Darüber hinaus, erklärt die
Historikerin in einem Beitrag
für die Seite „History Work-
shop“, sei angelsächsisch auch
ganz schlicht eine historisch
falsche Bezeichnung. In Wirk-

schen Völkermord zu rechtfer-
tigen.“ Diese Passage illustriert
der Onlineartikel auf „History
Workshop“ recht unsubtil mit
einem Gemälde von Hubert
Lanzinger aus dem Jahre 1935,
das Adolf Hitler als „Bannerträ-
ger“ darstellt. Die Nazikeule
wird damit in Richtung derjeni-
gen geschwenkt, die der Medi-
ävistin jetzt noch zu widerspre-
chen wagen.

Michael Wood, der bekann-
teste britische Fernsehhistori-
ker, hat auf die Debatte mit ei-
nem ausgewogenen und gründ-
lichen Beitrag für die Dezem-
berausgabe des „BBC History
Magazine“reagiert, der – wohl
wegen der großen medialen
Aufregung über Rambaran-
Olms Aufsatz – schon jetzt on-
line veröffentlicht wurde. Darin
beschreibt Wood ausführlich
die Vorgeschichte des Streits
über den Begriff Anglo-Saxon.
Die renommierte International
Society of Anglo-Saxonists
(ISAS), die sich mit der Erfor-
schung englischer Literatur
und Kultur vor der normanni-
schen Eroberung beschäftigt,
ist im September durch den
Rücktritt von Mary Rambaran-
Olm erschüttert worden, die
Vizepräsidentin der Gesell-
schaft war. Die Historikerin, ei-

ne „Person of Color“, beschrieb
das gesamte Forschungsgebiet
als „triefend von altmodischen
Ansichten, Prestigedenken, Eli-
tismus, Sexismus, Rassismus
und Borniertheit“. Deshalb hät-
ten sich bereits sehr viele Men-
schen von den angelsächsi-
schen Studien abgewandt. Die
ISAS reagiert auf den Rücktritt
unter anderem mit dem Ent-
schluss, ihre Mitglieder über ei-

nen Namenswechsel abstim-
men zu lassen.
Michael Wood beschreibt in
seinem Artikel ausführlich, wa-
rum gerade in Nordamerika be-
sonders bittere Gefühle mit
dem Begriff angelsächsisch ver-
bunden sind. Der Sklaven hal-
tende Gründungsvater der
USA, Thomas Jefferson, habe
eine Republik imaginiert, die
auf angelsächsischen Wurzeln
beruht und die 1066 verloren
gegangenen altangelsächsi-
schen Freiheiten wiederbelebt.
Wie allgemein bekannt ist, wur-
de White Anglo-Saxon Protestant
geradezu der Inbegriff jener
ethnisch und religiös definier-
ten Klasse, die die USA lange
exklusiv beherrschten. Sogar
Weiße galten als unfähig, echte
Amerikaner zu sein, wenn sie –
wie die Iren oder Italiener – Ka-
tholiken waren. Die bizarrste

„Angelsächsisch“


ist nicht mehr


politisch korrekt


Auch in Deutschland nennen wir die USA ,


England und Kanada „angelsächsische“ Nationen.


Das Wort gilt aber neuerdings als rassistisch


Im Weltbild des
Ku-Klux-Klan sind weiße
angelsächsische
Protestanten die einzigen
wahren Amerikaner

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22 KULTUR DIE WELIE WELIE WELTKOMPAKTTKOMPAKT DIENSTAG,12.NOVEMBER2019

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