Süddeutsche Zeitung - 12.11.2019

(Tuis.) #1
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über http://www.sz-content.de

Gebietsweise Schauer, im Westen und
Nordwesten auch Gewitter möglich. Die
Schneefallgrenze bewegt sich zwischen
400 Metern im Osten und 700 Metern an
den Alpen. Tageshöchsttemperaturen fünf
bis elf Grad.  Seite 13

Xetra 17 Uhr
13203 Punkte

Meinung
Die Bindung der Bundeswehr
an die Gesellschaft
droht verloren zu gehen 4

Politik
Weil er es in der Uni Hamburg nicht
durfte, spricht Christian Lindner
im Freien mit Studenten 5

Panorama


Die Insel Wangerooge soll
ohne Kupfermünzen
auskommen 8

Feuilleton
Wie inszeniert man einen Bestseller?
Der neue Roman von Elena
Ferrante führt es vor 9

Wirtschaft
Die US-Finanzaufsicht prüft, ob
Apples Kreditkarte sexistischen
Annahmen unterliegt 19

Medien, TV-/Radioprogramm 27,
Forum & Leserbriefe 13
München · Bayern 26
Rätsel 7
Traueranzeigen 10

Die SZ gibt es als App
für Tablet und Smart-
phone: sz.de/zeitungsapp

Berlin – Die Einigung zur Grundrente hat
in der SPD selbst unter Skeptikern der gro-
ßen Koalition viel Zustimmung gefunden.
Auch das CDU-Präsidium begrüßte die
Einigung. Kritik übten allerdings der Chef
der Jungen Union, Tilman Kuban, sowie
Vertreter des Wirtschaftsflügels der Partei.
Auch die FDP monierte, dass die Finanzie-
rung der Grundrente durch Steuern unklar
sei. Sozialverbände begrüßten dagegen
den Kompromiss.sz  Seiten 4 und 5

Berlin – Behörden zwingen einen deut-
schen E-Mail-Anbieter, bestimmte Nach-
richten seiner Kunden ungeschützt an
Ermittler weiterzugeben. Dabei ist eine
besonders sichere Verschlüsselung die
Geschäftsgrundlage der Firma. Der Fall
zeigt, wie viel Einblick Ermittler in die pri-
vate Kommunikation verlangen können.
Datenschützer kritisieren, dass die ent-
sprechenden Gesetze veraltet und zu vage
formuliert sind.sz  Wirtschaft

Berlin – Die Debatte in der Union über mög-
liche Kanzlerkandidaten hält Bayerns Mi-
nisterpräsident Markus Söder (CSU) für ver-
früht. Wenn die schwarz-rote Koalition in
der Hauptstadt halte, dauere es noch zwei
Jahre bis zur nächsten Wahl. Daher sei es zu
früh, diese Frage jetzt zu entscheiden. „Bis
2021 passiert noch so viel“, sagte Söder auf
dem Wirtschaftsgipfel derSüddeutschen
Zeitungin Berlin. Auch der Ministerpräsi-
dent von Nordrhein-Westfalen, Armin
Laschet (CDU), warnte vor voreiligen Debat-
ten in der Union. „Zu gegebener Zeit wer-
den wir die Kanzlerkandidatur entschei-
den“, sagte Laschet auf dem SZ-Gipfel. Die
Amtszeit von Kanzlerin Angela Merkel
(CDU) ende erst im September 2021. „Bis
dahin ist noch genug Zeit, ein geeignetes
Verfahren zwischen CDU und CSU zu über-
legen“, so Laschet.bbr  Wirtschaft

11 °/-2°


Süddeutsche Zeitung GmbH,
Hultschiner Straße 8, 81677 München; Telefon 089/2183-0,
Telefax -9777; [email protected]
Anzeigen: Telefon 089/2183-1010 (Immobilien- und
Mietmarkt), 089/2183-1020 (Motormarkt),
089/2183-1030 (Stellenmarkt, weitere Märkte).
Abo-Service: Telefon 089/21 83-80 80, http://www.sz.de/abo
A, B, F, GR, I, L, NL, SLO: € 3,70;
ES (Kanaren): € 3,80; dkr. 29; £ 3,50; kn 30; SFr. 4,

Dax▼



  • 0,18%


Berlin – Die Türkei will verstärkt mutmaß-
liche Kämpfer und Sympathisanten der
Terrorgruppe Islamischer Staat (IS) nach
Deutschland abschieben. Das Auswärtige
Amt bestätigte, dass für kommenden Don-
nerstag mit der Ankunft von sieben und
für Freitag von zwei weiteren Deutschen
zu rechnen ist. Dies sei Berlin am Montag
von der Türkei angekündigt worden.
„Die Bürgerinnen und Bürger können
sich darauf verlassen, dass jeder Einzelfall
von den deutschen Behörden sorgfältig ge-
prüft wird“, sagte Innenminister Horst See-
hofer (CSU) der SZ. Die Bundesregierung
werde „alles tun, um zu verhindern, dass
Rückkehrer mit Verbindungen zum IS zu ei-
ner Gefahr in Deutschland werden“.
Bei den Rückkehrern handelt es sich um
fünf Frauen, zwei Männer und zwei Kin-

der. In allen Fällen sei es sicher, dass es
sich um deutsche Staatsbürger handele,
sagte ein Sprecher des Außenministeri-
ums. Bei zwei Frauen gebe es Anhaltspunk-
te, dass sie sich in Syrien aufgehalten hät-
ten. Eine offizielle Bestätigung, dass sie
Verbindungen zum IS hatten, liege aber
nicht vor. Bereits am Montag sollte ein wei-
terer Mann abgeschoben werden. Bei ihm
sei jedoch klar, das er nicht mit dem IS in
Verbindung stehe, so der Sprecher.
Der türkische Innenminister, Süleyman
Soylu, hatte vorige Woche angekündigt,
dass Ankara Anfang dieser Woche begin-
nen werde, gefangene IS-Kämpfer in ihre
Heimatländer zurückzuschicken. Die Tür-
kei sei kein Hotel für IS-Leute, so Soylu.
Präsident Recep Tayyip Erdoğan sagte,
in türkischen Gefängnissen säßen mehr

als 1000 Anhänger des IS, unter ihnen 737
ausländische Staatsbürger.
Im Zuge der Offensive der Türkei in den
Kurdengebieten Nordsyriens waren zahl-
reiche Gefangene aus Lagern für IS-Kämp-
fer geflohen. Nach türkischen Angaben
sind 287 IS-Mitglieder wieder eingefangen
worden, unter ihnen Frauen und Kinder.
Zwei der Frauen, die nun nach Deutsch-
land abgeschoben werden, sollen nach In-
formationen der Nachrichtenagentur dpa
aus dem Lager Ain Issa in Syrien ausgebro-
chen sein. Bei einer von ihnen soll es sich
um eine Hamburgerin handeln. Der Mann,
mit dem sie ins IS-Gebiet gereist war, soll
schon vor Jahren getötet worden sein.
Nach Angaben des Auswärtigen Amtes von
Mitte Oktober gab es eine einstellige Zahl
deutscher Staatsbürger, die in Ain Issa fest-

gehalten wurden. Zwei der Deutschen, die
abgeschoben werden, seien in Syrien ge-
fasst worden, sagte ein Sprecher des türki-
schen Innenministeriums.
Neben den Deutschen sollen nach türki-
schen Angaben 15 weitere ausländische IS-
Mitglieder das Land verlassen, darunter
elf Franzosen und zwei Iren. Innenminis-
ter Soylu sagte, es sei ihm egal, ob diese
Leute von ihren Ländern ausgebürgert
worden seien. Ein Grieche sollte bereits am
Montag an der Landgrenze bei Edirne
überstellt werden. Die griechische Polizei
aber ließ den Mann nicht ins Land und
schickte ihn zurück, berichtete die türki-
sche WebsiteInternet Haber. Die Türkei
verweigerte die Rücknahme. Der Mann
warte nun in der Pufferzone zwischen bei-
den Ländern. n. fried, c. schlötzer

FDP: Finanzierung der


Grundrente unklar


E-Mail-Anbieter muss


Daten herausgeben


Söder und Laschet


mahnen zu Geduld


Die Union solle später über
Kanzlerkandidatur debattieren

DAS WETTER



TAGS

Die Nachricht vom japanischen Brillenver-
bot für weibliche Angestellte erzeugte
erst Unglaube, dann Empörung. Und wie
das oft so ist bei Debatten in sozialen Netz-
werken, meldeten sich bald auch Nutzer
mit persönlichen Erfahrungen. Zum Bei-
spiel eine Sommelière, die bei Engage-
ments in diversen traditionellen japani-
schen Restaurants ihre Brille auch nicht
hatte aufsetzen dürfen. Drei Gründe sei-
en ihr dafür genannt worden: Brille und
Kimono passten einfach nicht zusam-
men. Gäste über die Ränder einer Brille zu
betrachten, sei unhöflich. Und: Die Brille
könne ins Essen fallen.
Die Frauenbewegung hat in den ver-
gangenen Jahrhunderten schon viele und
vor allem viel schlimmere Zumutungen
ertragen müssen. Für Anhängerinnen
und Anhänger der Gleichstellung muss es
sich trotzdem angefühlt haben wie eine
Ohrfeige aus der Steinzeit, als der Sender
Nippon TV vergangene Woche vom Kon-

taktlinsengebot in manchen japanischen
Unternehmen berichtete. Die Erklärun-
gen der Unternehmen machten wenig
besser.
Schönheitssalons zum Beispiel wollen,
dass die Kundschaft einen unverstellten
Blick auf das Make-up der Mitarbeiterin-
nen hat. Für Hotel- und Ladenbesitzer
strahlen Brillenträgerinnen am Empfang
einen Ausdruck von Kühle aus. Das Pro-
testkonto auf Twitter unter dem Hashtag
„Brillen verboten“ hatte schnell viele
Anhänger. Internationale Medien berich-
teten. Kumiko Nemoto, Soziologie-Profes-
sorin aus Kyoto, sagte im britischen Sen-
der BBC, das Brillenverbot ergebe keinen
Sinn: „Es geht nur ums Geschlecht. Ziem-
lich diskriminierend.“

Japans Wirtschaft wird sich wohl än-
dern müssen. Sie braucht die Frauen auf
dem Arbeitsmarkt, weil die Bevölkerung
schrumpft. Und es fällt auf, dass sich der
männerdominierte Firmen-Adel schwer-
tut, sein Frauenbild zu überarbeiten. Im
jüngsten Gleichstellungsreport führt das
Weltwirtschaftsforum Japan auf Platz


  1. Und die Frauen werden lauter.
    Die Erregung um das Brillenverbot ist
    nicht die erste ihrer Art. Die Standards für
    das weibliche Äußere regen viele Frauen
    schon lange auf. Sie wollen sich nicht
    mehr festlegen lassen auf schwarze Haa-
    re und Make-up. Viel Zuspruch erntete
    dieses Jahr dieSchauspielerinund Schrift-
    stellerin Yumi Ishikawa mit ihrer Kampa-
    gne gegen die Stöckelschuh-Pflicht. Bei


einem Job bekam sie mit, wie rücksichts-
los das Recht der Frau auf freie Schuhwahl
in Japan eingeschränkt wird. Mit ihrer
#KuToo-Bewegung, abgeleitet von der
Frauenrechtskampagne #MeToo sowie
den japanischen Worten „kutsu“ (Schuh)
und „kutsuu“ (Schmerz), sammelte sie
mehr als 21 000 Unterschriften. Es reichte
zu einer Petition, die dann aber beim da-
maligen Arbeitsminister Takumi Nemoto
auflief. Der sagte: „Es ist allgemein akzep-
tiert, dass Stöckelschuhe notwendig und
an Arbeitsplätzen vernünftig sind.“
Darüber wird zu streiten sein, zumin-
dest von jenen Japanerinnen, die streiten
wollen. Wie viele das genau sind, ist
schwer zu sagen. Einzelne finden jeden-
falls schon, dass man nicht mehr um jede
Brille und jedes ungefärbte Haar einzeln
kämpfen sollte. „Lasst es uns umfassend
angehen“, schreibt eine auf Twitter. Hash-
tag: „Sagt-uns-nicht-was-wir-tragen-sol-
len“. thomas hahn

von markus balser

Berlin – Der Bundesrechnungshof übt er-
neut harte Kritik an der Arbeit von Ver-
kehrsminister Andreas Scheuer (CSU). In
einem aktuellen Sonderbericht nehmen
die Prüfer nach Informationen derSüd-
deutschen Zeitung einen von Scheuers
Haus geplanten Vertrag ins Visier. Er si-
chert der Deutschen Bahn in den nächsten
zehn Jahren mehr als 58 Milliarden Euro
an Steuergeldern für das Schienennetz zu.
Der Rechnungshof warnt dabei vor Geld-
verschwendung und fordert vom Bundes-
tag eine viel stärkere Kontrolle der Aus-
gaben als bislang geplant.
Die Bundesregierung hatte sich im Juli
auf deutliche höhere Mittel für die Sanie-
rung des Bahnnetzes geeinigt. Sie sollen
sich im Lauf der nächsten Jahre fast ver-

doppeln. Den fertigen Entwurf soll der
Haushaltsausschuss nach dem Willen
Scheuers eigentlich bereits an diesem Don-
nerstag beschließen. Doch nun schlagen
die Prüfer mit einem 39-seitigen Bericht
Alarm, um den Bundestag in letzter Minu-
te für Korrekturen und mehr Kontrolle zu
gewinnen. Denn Scheuers Verkehrsminis-
terium habe entsprechende Mahnungen
bislang nicht ausreichend umgesetzt.
Die Experten des Rechnungshofs listen
massive Mängel auf. Es sei deshalb nicht
sicher, dass das Geld auch wirklich die
gewünschten Verbesserungen auslöse.
Denn dem Bund, dem die Bahn gehört und
der sie großteils finanziert, fehlten nicht
nur Informationen über den tatsächlichen
Zustand des Bahnnetzes. Er übe auch viel
zu wenig Kontrolle über die Verwendung
der von ihm gezahlten Milliarden aus. So

seien etwa klarere Sanktionen nötig, die
greifen, wenn die Bahn Ziele verfehlt. Die
Umsetzung der Forderungen des Bundes
sei bislang nicht gewährleistet, heißt es in
dem Papier weiter.
Der Rechnungshof mahnt nun an, den
Vertrag noch in seinem Sinne zu ändern.
Das Parlament müsse sein Budgetrecht
ausüben und dürfe die von der Regierung
beantragten Haushaltsmittel für die klam-
me Bahn nur in Teilen von zwei bis fünf Jah-
ren freigeben. Der Bundestag als Gesetz-
geber sollte die enormen Summen unter
Bedingungen entsperren. Die Freigabe
könne das Parlament jeweils von Erfolgs-
kontrollen abhängig machen und so nötige
Verbesserungen durchsetzen. Die „wirt-
schaftliche und sparsame Verwendung der
Bundesmittel“ solle wenigstens stich-
probenartig geprüft werden.

Mit dem Schreiben verschärft sich der
Streit zwischen Ministerium und Rech-
nungshof. In den vergangenen Wochen
hatte die Behörde dem Scheuer-Ressort
bereits beim Pkw-Maut-Debakel Rechts-
verstöße vorgeworfen. Im September war
in einem anderen Bericht Kritik an einem
Mangel bei der Korruptionsbekämpfung
und an heftigen Kostensteigerungen laut
geworden. Scheuer hatte die Kritik in allen
Punkten zurückgewiesen.
In der Opposition wächst dagegen der
Ärger. Scheuer habe „seine Hausaufgaben
nicht gemacht“, sagte der haushaltspoliti-
sche Sprecher der Grünen-Bundestags-
fraktion, Sven-Christian Kindler. So
mache die Finanzierungsvereinbarung
mit der Bahn die Infrastruktur wohl kaum
fit für die Zukunft. Der Vertragsentwurf
müsse nachgebessert werden.

HEUTE


Frauen sind Schauspielerinnen, Frauen ha-
ben Kunstverstand und rauchen heimlich.
Frauen sind das Beste, was einem Magazin
passieren kann. Wir widmen ihnen das
SZ Magazin 2019. 180 Seiten der besten Re-
portagen, Mode-Strecken, Kolumnen und
Interviews: Das Beste aus demSZ Magazin
2019. Ab sofort am Kiosk oder bestellen un-
ter sz-shop.de/szmagazin.

FOTO: IMAGO

Unscharfe Argumente


Warum japanische Unternehmen Frauen die Brille verbieten


FOTOS: NETFLIX, HBO, HBO/DPA, DISNEY MARVEL, DISNEY PLUS, DISNEY/PIXAR, DISNEY/LUCASFILM, AMAZON; COLLAGE: SZ

Verschwendung bei der Bahn befürchtet


Der Bundesrechnungshof fordert die Politik auf, den Staatskonzern strenger zu kontrollieren.


Zusätzliche Milliarden für das Schienennetz könnten sonst ohne großen Effekt versickern


N.Y. 17 Uhr
27582 Punkte

17 Uhr
1,1035 US-$

Mutmaßliche IS-Anhänger kommen nach Deutschland


Die Türkei will verstärkt Kämpfer und Sympathisanten der islamistischen Terrorgruppe abschieben


Disney startet einen neuen


Streamingdienst. Das Ringen


der Anbieter um die besten Inhalte


wird dadurch noch teurer, die


Auswahl für die Kunden noch größer


 Medien


NEUESTE NACHRICHTEN AUS POLITIK, KULTUR, WIRTSCHAFT UND SPORT


WWW.SÜDDEUTSCHE.DE HF1 MÜNCHEN, DIENSTAG, 12. NOVEMBER 2019 75. JAHRGANG / 46. WOCHE / NR. 261 / 3,00 EURO

Dow▼



  • 0,36%


Euro▲


+ 0,

Blockiert: Ist Spanien unregierbar? Thema des Tages


(SZ) In der Geschichte kommt es gelegent-
lich vor, dass bestimmte Dinge von be-
stimmten Leuten zurückgegeben werden.
Zum Beispiel gab der österreichische Kai-
ser Joseph II. 1790 die Krone an die Ungarn
zurück. Der britische König gibt bei der
Krönungszeremonie den Reichsapfel an
den Dekan zurück, und der Dekan stellt
den Reichsapfel zurück auf den Altar. Es
ist verbürgt, dass hin und wieder Länderei-
en zurückgegeben werden, Landgüter an
ihre Vorbesitzer und entwendete Bücher
nach mehr als dreißig oder vierzig Jahren
nagender Gewissensbisse an die geschädig-
te Bücherei. Die Kulturtechnik des Zurück-
gebens, so viel kann man vielleicht schon
festhalten, ist eine analoge Kulturtechnik.
Wer eine Datei zurückgibt, gilt als wunder-
lich, und wer einen Scan zurückgibt, wird
nicht unbedingt als Kenner der Scantech-
nik von sich reden machen.
Und trotzdem können wir beim Thema
Rückgabe bleiben und gleichzeitig über
ein jüngeres, erfrischend mutiges Beispiel
digitaler Rückgabe berichten. Der hellstim-
mige Sänger Robbie Williams hat dieser Ta-
ge sein Passwort zurückgegeben, das ihm
den Zugang zum Internet-Schwitzkasten
Twitter ermöglicht. Für Menschen, denen
der Reichsapfel nähersteht als der Hash-
tag, gibt es folgende Handreichung: Über
Twitter verständigen sich zunehmend
Menschen, die über sehr vieles wütend
und über manches enttäuscht sind. Der
Sänger Robbie Williams sagt, er selbst
habe immer wieder die Neigung gespürt,
auf Twitter wütend, hasserfüllt und auf vie-
lerlei andere Weise unausstehlich zu wer-
den, sodass eine Rückgabe des Passworts
zwangsläufig sei, wenn er nicht seine Karri-
ere mit unbedachten Äußerungen frühzei-
tig beenden wolle. Stellt euch mal vor, also
imagine all the people mit Twitter-Pass-
wort würden auf einen Schlag alle ihre
Twitter-Passwörter an Twitter zurückge-
ben, sodass die Welt innerhalb von weni-
gen Tagen klüger und bewohnbarer wäre.
Und diese große Rückgabe-Bewegung
würde dann sogar auf Facebook und Insta-
gram wahrgenommen, und auch dort wür-
de ein Elender nach dem anderen sagen,
ehe ich vollends blöd und böse werde, bei-
ße ich in den sauren Reichsapfel und gebe
alles zurück, was mich unfrei macht.
Um es noch einmal klarzubekommen:
Robbie Williams ging früher mit seinem
Passwort auf Twitter und fand dort Leute
vor, die ihren Abscheu so lange in die Welt
bliesen, bis auch Williams Abscheu emp-
fand und diesen kundgab. Vor Kurzem lern-
te Williams Helene Fischer kennen, deren
Lieder sehr beliebt und bekannt sind.
Mehr noch lieben und kennen viele Men-
schen Helene Fischer selbst, weil sie
freundlich, ohne Neid und Hass, vielleicht
ein bisschen atemlos durch die Welt geht.
Bald werden Robbie Williams und Helene
Fischer gemeinsam Weihnachtslieder sin-
gen und der Menschheit damit wieder et-
was von ihren guten Seiten zurückgeben.


NACHTS

Kampf


der Giganten


4 190655 803005

21046

DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München

Free download pdf