Süddeutsche Zeitung - 12.11.2019

(Tuis.) #1
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Was die Rezeption von Kultur betrifft, le-
ben wir seit spätestens 2016 im „In Zeiten
von“-Zeitalter. Jede Kunst wird auf ihr Ver-
hältnis zum Zeitgeschehen abgeklopft: Wo
steht der Künstler „in Zeiten von Brexit
und Trump“? Auf welcher Seite der gesell-
schaftlichen Spaltung? Kann man noch ein
Album machen, ohne sich darin in irgendei-
ner Form zum Rechtsruck zu verhalten?
Diese Fragen sind nicht unberechtigt, die
Auseinandersetzung mit ihnen bringt
durchaus großartige Dinge hervor – und
natürlich ist Kunst immer in ihrem gesell-
schaftlichen Kontext zu sehen. Seltsame
Blüten treibt dieser Anspruch allerdings
dann, wenn er selbst unreflektierteste Be-
findlichkeitsrocker zu ihrem „bisher poli-
tischsten Album“ hinreißt, auf dem sie
dann mit Signalwörtern aus der liberalen
Wühlkiste um sich werfen, affirmativ be-
klatscht vom eigenen Publikum.
Der BriteFloating Points, mit bürgerli-
chem Namen Sam Shepherd, ist einen an-
deren Weg gegangen. Er setzt sich zwar für
ein zweites Brexit-Referendum ein und
legt auf Demonstration auf, seine Tracks
tragen Titel wie „Sea-Watch“ und auch der
Titel seines neuen Albums „Crush“ bezieht
sich laut eigener Aussage auf ein bedrück-
tes Gefühl beim Blick auf Weltlage und Bre-
xit-Debatte. Zum Glück macht Shepherd

aber keinen Befindlichkeitsrock, sondern
rein instrumentale elektronische Musik,
weit entfernt von Slogans. In einem Inter-
view mit dem Online-Magazin Djmag.com
beschrieb er kürzlich, wie er häufig aus
dem Wohnzimmer mit dem Fernseher und
den schlechten Nachrichten ins Studio im
Zimmer nebenan flüchtete, in sein Refugi-
um. Dort entstand in wenigen Wochen das
neue Album.

Shepherd ist einer der Menschen, die
man aufgrund ihres musikalischen Eklek-
tizismus nicht mehr DJ, sondern „Selec-
tor“ nennt, daneben ist er Produzent und
Labelbetreiber, studierter Pianist und –
warum auch nicht – Neurowissenschaftler
mit Doktortitel. Seit seiner ersten Veröf-
fentlichung 2008 hat der 32-Jährige so
ziemlich jede Strömung der experimentel-
len Seite von Clubmusik mitgestaltet: An-
gefangen bei den Ausläufern von Dubstep
und Garage, dann mit abseitigem Bass-
House, auf seinem ersten Album 2015
schließlich ein Bruch mit den geraden
Rhythmen in Form von Jazz und brasiliani-

schem Tropicalismo, aufgenommen mit ei-
nem Haufen anderer Musiker. Auf Tour als
Vor-Act der BandThe XXwar Shepherd
dann wieder auf sich allein gestellt, genau-
er gesagt: auf eine Drummachine und ei-
nen Modularsynthesizer der Firma Buchla


  • die das Fundament seines neuen Albums
    bilden.
    Besonders an letzterem lässt sich erklä-


ren, wie sich die Musik auf „Crush“ auf so
angenehme Weise die Statements spart,
und dennoch eines ist. Der Buchla, in den
Sechzigern entwickelt von Namensgeber
Don Buchla, ist – im Gegensatz zu den Mo-
dellen seines Hauptkonkurrenten Robert
Moog – an keinerlei Klaviatur oder Skalen
gebunden, Melodien entstehen über eine
Abfolge von Steckverbindungen: Ein Mo-
dul gibt die Sequenz vor, ein anderes
spuckt den Ton aus, ein weiteres entschei-
det über die Tonhöhe, das nächste über die
Länge – nun ja, es ist kompliziert. Während
die ersten Versuche mit den Modellen von
Moog sich auf das Nachspielen von Bach-
Klavierstücken oder die zielgenaue Imitati-
on nicht-elektronischer Instrumente redu-
zierten, brachte der hyperkomplexe Buch-
la wirre, psychedelische Sequenzen her-
vor. Kommerziell konnte sich Don Buchla
damit nie durchsetzen, für die Hippie-Sze-
ne an der amerikanischen Westcoast wur-
den die vom Notensystem befreiten, neuar-
tigen Klänge jedoch zur musikalischen
Fortsetzung ihrer Bewusstseinserweite-
rung und utopischer Gedanken einer neu-
en Welt. Heute, wo sich jeder Schlafzim-
merproduzent in Minuten einen durch-
komprimierten, autogetunten, perfekt ab-
gemischten Track erstellen kann, Algorith-
men und Berechnungen vorgeben, die

Welt quantifiziert zu haben, ist die Ausein-
andersetzung mit der inneren Anarchie
des Buchla eine bewusste Hinwendung
zum Fehler, zum Unfertigen, nicht Repro-
duzierbaren, Irrationalen.
Shepherd hat sich dem Gerät in jahrelan-
ger Arbeit angenähert, das im herkömmli-
chen Sinne unbeherrschbare Instrument
für seine Zwecke gezähmt – wenn auch nur
zum Teil. Die Melodien auf „Crush“ sind re-
petitiv, immer wieder bricht die Sequenz
aber aus, ab, als wolle sie sich von der Leine
reißen, setzt dann zu einer neuen Zählzeit
wieder ein, morpht sich von einer Melodie
hin zu einem perkussiven Klopfen – und
zurück. Das kann leicht in nervigem Soun-
dinstallations-Geblubber enden, tut es in
manchmal auch, doch größtenteils gelingt
Shepherd der Spagat zwischen herausfor-
dernder Wellentransformation und der Zu-
gänglichkeit von Clubmusik.
Für den Hörer ist das wie eine rastlose
Meditation – im besten Sinne. Sheperds
Musik muss keine Slogans beinhalten, um
sich zum Tagesgeschehen zu verhalten. Es
reicht der implizite Verweis auf den Nicht-
Ort, das Andere, Undurchdrungene. Oder
die Möglichkeit, sich „in Zeiten von Trump
und Brexit“ für einen Moment weit weg
vom Fernseher im Wohnzimmer zu wäh-
nen. quentin lichtblau

von sonja zekri

S


prechen wir erst mal nicht über die
manchmal doch abstoßenden Frau-
enbilder. Beginnen wir mit einem ab-
geschlagenen Kopf. Folgt man der Ausstel-
lung „Gauguin Portraits“ in der Londoner
National Gallery, ist bei Paul Gauguin der
Schädel eines Enthaupteten ja unbedingt
ein Porträt. Auf „Arii Matamoe (Königli-
ches Ende)“ von 1892 malte Gauguin das
Haupt des tahitianischen Königs Poma-
ré V. auf einem weißen Kissen, den Mund
halb geöffnet, die Augen geschlossen. Den
Vordergrund schmücken Blüten, hinten
kauern Trauernde neben Statuen. In ei-
nem feinen Gleichgewicht von Würde und
Schrecken inszenierte Gauguin das Ende
der fernen Majestät als christliches An-
dachtsbild. Die Tahitianer, so legt sein Bild
nahe, verehren ihre verblichenen Herr-
scher mit ähnlich morbider Inbrunst wie
die Christen Johannes den Täufer.
Nun, das taten sie nicht. Als König Poma-
ré V. starb, war Gauguin enttäuscht, weil
die Zeremonie dann doch recht vertraut
wirkte, Reden, Blumen, Sarg. Eher franzö-
sische Staatstrauer als Kopf-ab. Allerdings
waren die Tahitianer Gauguin ohnehin vor
allem ästhetisch-spirituelles Reservoir.
Der französischen Regierung hatte er in
der Hoffnung auf finanzielle Unterstüt-
zung seiner Reisen ethnologisches Inter-
esse vorgespielt, aber in Wahrheit benutz-
te er die Farben und Bräuche der Südsee
immer mit Blick auf die westliche Kunst-
szene. „Er schickte das Bild zum Jahrestag
der Enthauptung Ludwig XVI. nach Paris“,
sagt Christopher Riopelle, einer der beiden
Kuratoren: „Als er nach Frankreich zurück-
kehrte, war er pleite, aber er hatte seinen
,unique selling point‘ gefunden.“

Gauguin, Sohn einer spanisch-peruani-
schen Mutter und aufgewachsen in Peru,
war als Börsenmakler zu Wohlstand ge-
kommen, aber als Maler hatte er es schwer.
Seine Präsentation als Entdecker entlege-
ner Pastoralen und Vermittler zwischen
den Welten diente immer künstlerischen
und merkantilen Zwecken zugleich.
Dass er eine mythisch-primitive Idylle
beschwor, die es längst nicht mehr gab,
weil die Insulaner kolonisiert, missioniert
und mit Syphilis infiziert waren – letzteres
ein Umstand, zu dem Gauguin einiges bei-
trug –, wusste niemand besser als er. Aber
die Sehnsucht nach einem spirituell in-
takten Paradies inspirierte ihn zu jener un-
nachahmlichen Mischung aus Südseemoti-
ven, europäisch geschulter Kompositions-
tradition und völlig neuartigem Einsatz
von Farbe und Formen, die bis heute an
Kraft und Tiefe nicht verloren hat: So ver-
urteilenswert man es finden mag, dass
Gauguin die Südsee künstlerisch und per-
sönlich ausbeutete, so hatte doch niemand
bisher der Kultur Ozeaniens, ihren Sta-
tuen, Schriften und Traditionen, den Weg
in die europäische Malerei geebnet. Daran
ändern auch die postkolonialen Debatten
nichts. Gauguins Werke besitzen heute
eine große Anziehungskraft.
„Gauguin Portraits“ ist Londons große
Herbstschau und versucht, trotz aller
problematischen Seiten die Leistung eines
visionären Künstler in einer der ältesten
Kunstformen der Welt zu würdigen.
Gauguin interessierten nicht Charakter,
Stimmungen oder Status. Psychologische
Deutungen waren ihm gleichgültig. Seine
Porträts waren symbolistische oder spiritu-
elle Arrangements, Laboratorien für neue
Techniken, Mittel der Selbstkundgabe,
kurz: Manifeste eines Künstlers über die
Kunst. Legt man Baudelaires Unterschei-
dung von zwei Arten von Porträtkunst –
„als Geschichte oder als Fiktion“ – zugrun-
de, dann hatte Gauguin seine Entschei-
dung getroffen.
Dieser Aufgabe wird die Schau gerecht.
Die sieben Säle sind weitgehend biogra-
fisch sortiert. Den Anfang machen frühe
Selbstporträts, auf denen Gauguin sich
aus Wut über seinen kommerziellen
Misserfolg in Christuspose darstellte: ein
Märtyrer der Kunst. Deutlich distanzierter
malte er seine Kinder. Tochter Aline kauert
versunken hinter einem Tisch mit giganti-
schen Orangen. Kein Weg führt in die Fan-

tasie des Mädchens hinein – und keiner
hinaus. Wie vor ihm Edgar Degas oder Paul
Cézanne machte Gauguin kaum einen Un-
terschied zwischen Portrait und Stillleben,
beseelten und unbeseelten Motiven – so
wie Kinder tote Gegenstände zum Leben er-
wecken können. „Meine Kunst reicht sehr
weit zurück, weiter zurück als die Pferde
auf dem Parthenon – sie reicht zurück bis
zu dem lieben alten hölzernen Schaukel-

pferd meiner Kindheit“, so zitiert der Kata-
log Gauguin.
Eindringlich wird dies in den Werken
über seine Freunde deutlich: Vincent van
Gogh, mit dem er in Arles die berühmteste
WG der Kunstgeschichte teilte, und dem
weniger bekannten Maler Meijer de Haan.
Zehn Jahre nach van Goghs Tod war Gau-
guin noch immer so besessen von seinem
Rivalen, dass er sich Sonnenblumensamen

nach Tahiti schicken ließ und sich in „Still-
leben mit ,Hoffnung‘“ auf anrührende Wei-
se verneigte: Die Sonnenblumen, in denen
er als einer der ersten van Goghs größte
künstlerische Leistung erkannte, beschwo-
ren die Gegenwart seines Freundes, wäh-
rend zwei Gemälde, die beide bewundert
hatten – eines von Degas, eines von Pierre
Puvis de Chavannes – ihre Verbundenheit
als Künstler bezeugten.
Meijer de Haan entstammte einer jüdi-
schen Familie in Amsterdam und war für
Gauguin nicht Konkurrent, sondern Schü-
ler und Gesprächspartner. Schon zu Leb-
zeiten widmete Gauguin ihm Zeichnungen
sowie eine überlebensgroße Skulptur aus
einem verkohlten Stück Eichenholz. Auch
de Haan taucht nach seinem Tod weiterhin
auf. Beide waren fasziniert von John Mil-
tons „Das verlorenes Paradies“, das in
Luzifer die Kraft des Künstlers sah. Wenn
Gauguin de Haan mit schrägen Augen und
Hakennase zeigte, zitierte er dieses „sata-
nisch“-kreative Genie. Und doch erinnert
manches heute ungut an antisemitische
Darstellungen.

Ähnlich beklommen nähert man sich
den „Barbarischen Geschichten“ von 1902.
Meijer de Haan – mit grünen Augen und
roten Krallen in einem Missionskleid – be-
lauert zwei fast unbekleidete Frauen, im
Lotussitz die eine, die andere mit roten
Haaren. Gauguin zeigte de Haan als Ver-
treter der christlich-jüdischen Tradition,
während die Frauen den Buddhismus und
die Kultur der Maohi verkörpern. Selbst
wenn Gauguin sein Bild als kritischen
Kommentar zum westlichen Einfluss auf
sein Südseeparadies gemalt hatte, so führt
seine Darstellung scheinbar naturhaft
dargebotener weiblicher Blöße doch zum
Kern des Dilemmas.
Dieses liegt nicht in seinem Leben. Bei
einem Künstler, der seine Frau mit fünf
Kindern sitzen ließ und auf Tahiti zwei
Minderjährige, eine davon 13 Jahre alt,
„heiratete“ und schwängerte, kommt man
ohne die Trennung von Künstler und Werk
ohnehin nicht weit. Gewiss, er setzte als
weißer Kolonialherr alle Hebel in Bewe-
gung, um seine sexuellen Fantasien aus-
zuleben. Aber er benahm sich in vielerlei
Hinsicht nicht schlimmer als seine Zeit.
Lässt man all das beiseite, bleiben
dennoch: die Bilder. Die meisten zeigen
Tahitianerinnen – entgegen früheren
Annahmen weiß man nicht genau, welche


  • in den Missionskleidern. Kritiker be-
    mängelten sogar das Fehlen von Bildern
    nackter Frauen, als wolle sich die Schau
    mit Keramiken und Schnitzereien vor den
    unangenehmsten Fragen drücken.
    Aber es ist ja alles da, in einem Bild, ei-
    ner nicht sehr großen Lithografie. „Manao
    tupapau (Der Geist der Toten wacht)“ von
    1892 zeigt seine „Frau“ Teha’amana ausge-
    streckt auf einem Bett, das Gesicht in der
    Hand verborgen, während sich ihr allerlei
    Geister und gehörnte Gestalten nähern. Es
    ist, wie Riopelle zugibt, das „verstörendste
    Bild“ der Ausstellung. Denn bei aller be-
    haupteten Zartheit – und Gauguin erging
    sich ausführlich in zärtlichen Worten über
    seine Kindfrau – liegt in dieser Darstellung
    eines verängstigten, abergläubischen,
    aber nichtsdestotrotz sexuell dargebote-
    nen Kindes ein geradezu gewalttätiger
    Überlegenheitsanspruch: als Erwachse-
    ner, als Europäer, als Mann.
    Bei der ersten Station der Schau im
    kanadischen Ottawa habe es empörte
    Reaktionen gegeben, berichten die Kura-
    toren. Eine Besucherin habe im Gästebuch
    notiert, ihrer Tochter würde sie diese Bil-
    der niemals zumuten. Darf man Gauguin
    also zeigen, darf man ihn anschauen? Man
    muss sogar. „Warum kommen Feministin-
    nen immer zurück zu Gauguin? Weil die
    Ausbeutung der Frauen, die man bei ihm
    sieht, bis heute anhält“, sagt die Co-Kura-
    torin Cornelia Homburg. „Gauguin Por-
    traits“ ist keine makellose Schau. Aber
    dort, wo Gauguins Bilder auf künstlerisch
    unerreichte Weise die Makel der Gegen-
    wart vorwegnehmen, ist sie zwingend.


Gauguin Portraits. London, National Gallery. Bis


  1. Januar. Der Katalog kostet 20 Pfund.


Zehn Romane der Weltliteratur umfasst
die neue SZ-Edition „Soulmates“. Die
Autoren sind: Philip K. Dick, F. Scott
Fitzgerald, Cormac McCarthy, Dashiell
Hammett, Nikos Kazantzakis, Jack Lon-
don, Louis-Ferdinand Céline, Norman
Mailer, Joe Brainard, Robert Falcon
Scott.
Es handelt sich also um Literatur von
Männern, die zu unterschiedlichen Zei-
ten, an unterschiedlichen Orten und
unter ganz unterschiedlichen Bedingun-
gen wenn nicht an sehr düsteren, dann
doch an gebrochenen Männerbildern
gearbeitet haben. „Soulmates“ ist eine
Reihe, in der man nachlesen kann, wie
Männer verschiedener Jahrzehnte über
Männer geschrieben haben.
An dieser Stelle machen wir in den
kommenden Tagen auf jeweils zwei der
Heldentypen aus der Serie aufmerksam.
Etwa auf die Figur des „Vaters“ in McCar-
thys „Die Straße“. Diese 2007 mit dem
Pulitzer Preis für Romane ausgezeichne-
te Dystopie zeigt einen Mann, der in
einer verwüsteten Welt mit seinem Kind
unterwegs ist, das Ziel ist die Küste.
Doch was heißt das schon? Der Mann
sorgt sich um seinen Sohn, will für ihn
eine bessere Zukunft, die nicht von Man-
gel, Hunger, Kälte bestimmt ist, sondern
von Freiheit. Hoffnung also ist McCar-
thys Thema, eine nur schwer gegen die
bittere Realität aufrecht zu haltende
Illusion.
Aber ist sie das nicht immer? Man
muss die Postapokalypse der „Straße“
als eine Versuchsanordnung sehen: Was
sind Zivilisation und Menschlichkeit
wert, wenn die Welt aus den Fugen gera-
ten, der dünne Mantel der Kultur zer-
schlissen ist? Wie sicher oder wie fragil
ist der Weg zwischen Sorge und Selbst-
aufgabe, zwischen Anstand und Verach-
tung? Das wohl ist die Straße, die McCar-
thys Roman beschreitet.

Dashiell Hammetts „Gläserner Schlüs-
sel“ zeigt eine von Männern dominierte
Welt, und um diese Welt steht es nicht
gut. Um falsche Freunde, Egoismen und
Geltungssucht, korrupte Politiker und
kalkulierte Loyalitäten geht es in dem
Roman, der Hammetts Noir um eine
bittere Note Düsternis bereichert.
Ein Glücksspieler gerät in heimliche
Machenschaften, ein bestens organisier-
tes, bestens geschmiertes Komplott um
Macht und Liebe. Ein Mensch kommt
ums Leben, doch die Hinterbliebenen
trauern nicht. Sie sorgen sich mehr dar-
um, dass ihre schmutzigen Geschäfte
und dunklen Interessen durch diesen
Tod nicht behelligt werden.
Orson Welles hat 1939 aus diesem
Roman des Jahres 1930 ein Hörspiel
gemacht, es gibt zwei ältere Film-Adapti-
onen und eine neuere der Coen-Brüder:
„Miller’s Crossing“, der im Jahr 1990 in
die Kinos kam.
In Schweden hat man 1992 einen
Krimi-Preis nach diesem Roman be-
nannt. Kurzum, „The Glass Key“, wie der
Roman im Original heißt, ist das Schlüs-
selwerk der Krimiliteratur. sz

Rastlose Meditation


Das Clubmusik-Projekt „Floating Points“ spart sich auf „Crush“ ein Statement zur Zeit – und ist womöglich gerade deshalb eins


Gauguins Porträts zeigten nicht
Status oder Stimmungen.
Sie waren künstlerische Manifeste

Noch finsterer


Dystopisches aus der SZ-Edition:
McCarthy und Hammett

Auch ich in


Ozeanien


Kann man Paul Gauguins Südseemädchen heute


noch zeigen? Eine Londoner Ausstellung versucht es


Zelebriert wird hier der
Fehler, das Unfertige, nicht
Reproduzierbarr, Irrationale

Hammett zeigt eine von
Männern dominierte Welt, und
um diese Welt steht es nicht gut

Ein Multitalent, ein Musiker ganz alter
Schule. Der inzwischen 18-jährige Pia-
nist und Komponist Sandro Nebieridze
reüssiert in beiden Bereichen glamou-
rös. In seiner georgischen Heimat wur-
de er mehrfach als bester Komponist
ausgezeichnet, und auch als Pianist
errang er Preise. Aber der frühe Ruhm
ist eine Sache, die musikalische Sub-
stanz eine andere. Auf seiner ersten
Solo-CD (harmonia mundi) sucht er die
Herausforderung in Sergei Rachmani-
nows zweiter Klaviersonate und dessen
Études Tableaux sowie in Sergei Prokof-
jews Suite „Romeo und Julia“ und des-
sen vierter Sonate. Der Ernst und die
Leichtigkeit, mit denen er die schwieri-
gen Werke angeht, ist staunenswert
und ganz offensichtlich nicht nur seiner
Jugend geschuldet. Insbesondere bei
Rachmaninow entdeckt er Facetten und
Ausdrucksberei-
che, die man zumin-
dest, bevor Daniil
Trifonov auf den
Plan trat, kaum
vermutete. Dieser
Pianist ist eine
Bereicherung.

Das Repertoire des 1985 in Benevento
geborenen Pianisten Vincenzo Maltem-
po erscheint für italienische, aber auch
für deutsche Verhältnisse recht eigen-
willig. Franz Liszt kennt man, aber wer
sind Sergei Lyapunov, Charles Mayer,
Viktor Kossenko, Charles Alkan? Und
brauchen wir die Klaviersonaten von
Alexander Glasunow oder Mili Alexeje-
witsch Balakirew? Ja, brauchen wir. Vor
allem, wenn sie so leidenschaftlich vor-
getragen werden wie von Maltempo,
dessen Album mit sämtlichen Klavierso-
naten Alexander
Skrjabins (Piano
Classics) ein weite-
res Highlight seiner
anspruchsvollen,
höchst interessan-
ten Diskografie
geworden ist.

Auch er geht weiterhin seinen ganz
eigenen Weg: Martin Stadtfeld , der
einst mit den kleineren Klavierwerken
Johann Sebastian Bachs Erfolg hatte,
hat sich seinen weichen, lyrischen Kla-
vierton bewahrt und verbeugt sich auf
seinem neuen Album „Händel Variati-
ons“ (Sony) bei dem großen Bach-Zeitge-
nossen aus Halle und London. Er hat
dafür recht bekannte Stücke Händels
für Klavier arrangiert und ist dennoch
der Kitsch-Falle
entkommen, weil
er diesen speziellen
Ton hat und aus
jeder Petitesse eine
tiefenräumliche
Meditation entwi-
ckelt.

Wegen Tschaikowskys b-Moll-Konzert,
obgleich sehr fein geboten, wird man
diese CD des Bostoner Pianisten
George Li vielleicht nicht hören. Spätes-
tens bei den darauffolgenden Solostü-
cken aber wird man aufhorchen: ausge-
feilte Technik, Sinn fürs Melodische
und Gesamtklangliche sowie ein grund-
musikalisches gestalterisches Verständ-
nis, das gleichermaßen lyrisch und
dramatisch überzeugt. So gewaltlos
elegant und kraftvoll unpompös hat
man Franz Liszts „Années de pélerina-
ge“ lange nicht gehört; leider spielt er
nur Teile daraus. Gleiches gilt für die
wunderbar schaurigen „Réminiscences
de Don Juan“ (Warner Classics). Es wun-
dert nicht, dass George Li 2015 die Sil-
bermedaille des
Tschaikowsky-
Wettbewerbs er-
hielt und im Wei-
ßen Haus für Oba-
ma und Merkel
spielte. Mehr geht
ja kaum.

Die kompletten Lisztschen Pilgerjahre
gibt es aber, sehr beeindruckend, von
Raymond Lewenthal in der verdienst-
vollen Sony-Reihe der Wiederveröffent-
lichungen zum Teil zu Unrecht vergesse-
ner Pianisten. Zu denen gehört Lewent-
hal zweifellos, allein schon wegen sei-
ner gefassten, ruhigen Liszt-Annähe-
rung, die aufs Hintergründige aus ist
und weniger auf schiere Virtuosenlor-
beeren. Die verdient er sich lieber in
den Stücken des fast nur in Pianisten-
kreisen bekannten französischen Kla-
viermagiers Charles Valentin Alkan. Da
zeigt sich dann doch der glamouröse
Tastenzauberer und ehrgeizige Musiker-
zähler Lewenthal – er ist wahrschein-
lich der beste Alkan-Exeget überhaupt.
Zunächst wurde Lewenthal war mehre-
re Jahre lang als Kinderstar in Holly-
wood bekannt, bevor er bei Lydia Cher-
kassy Klavier studierte, dies an der
Juilliard School fortsetzte, schließlich in
Europa bei Alfred Cortot und Guido
Agosti. 1948 lud ihn dann der legendäre
Dirigent Dmitri Mitropoulos nach Phil-
adelphia – Lewenthals Karriere schien
unaufhaltsam. Bis er 1953 bei einem
Spaziergang im New Yorker Central
Park von einer Schlägerbande kranken-
hausreif geprügelt wurde. Knochenbrü-
che an Armen und Händen legten den
Pianisten physisch, aber auch psy-
chisch, über Jahre lahm. Das große
Comeback gelang
ihm erst zwölf Jah-
re später. Und lei-
der begann er auch
erst dann, Schall-
platten aufzuneh-
men.
helmut mauró

Kritiker bemängeln, dass meist
harmlose Bilder von bekleideten
Frauen ausgewählt wurden

DEFGH Nr. 261, Dienstag, 12. November 2019 (^) FEUILLETON 11
Neurowissenschaftler: Sam Shepherd ali-
as „Floating Points“. FOTO: DAN MEDHURST
Oben: „Merahi metua
no Tehamana (Tehamana
Has Many Parents or
The Ancestors of
Tehamana)“, 1893.
Links: „Manao
tupapau (The Spirit
of the Dead
Watching)“, 1892.
Unten: „Arii Matamoe
(The Royal End)“, 1892.
FOTOS: NATIONAL GALLERY, LONDON
SZ Soulmates. 10 Romane, 98 Euro
im Buchhandel und im Internet unter
szshop.sueddeutsche.de
KLASSIKKOLUMNE SOULMATES
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