Süddeutsche Zeitung - 12.11.2019

(Tuis.) #1
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Unisono hatten die links gerichteten Partei-
en Spaniens vor einem Aufstieg der „Neofa-
schisten von Vox“ gewarnt, allen voran der
sozialistische Premierminister Pedro Sán-
chez. Genützt hat es nichts: Vox stellt im
neuen spanischen Parlament die drittgröß-
te Fraktion. Doch ausgerechnet der linke
Vordenker Iñigo Errejón meinte, dass es
ein Irrtum sei, ihren Anhängern schlicht
Sympathie für die Franco-Diktatur (
bis 1975) zu unterstellen. Dies zeige allein
schon die große Zahl von jungen Wählern,
die Vox ihre Stimme gegeben haben. Viel-
mehr handele es sich mehrheitlich um
Protestwähler, deren Anliegen – Arbeitslo-
sigkeit, blockierte Aufstiegschancen – von
anderen Parteien nicht gebührend berück-
sichtigt würden.
Vox hat in dieser Rolle das linksalternati-
ve Bündnis Podemos abgelöst, das zuletzt
durch interne Machtkämpfe gelähmt war.
Errejón weiß, wovon er redet. Er war einst
Vertrauter des Podemos-Chefs Pablo Igle-
sias, hat ihm aber wegen dessen dog-
matischen neomarxistischen Allüren den
Rücken gekehrt.

Zudem hat Vox viele Wähler angezogen,
die früher für die Sozialistische Partei
(PSOE) stimmten. Bei diesen geben immer
mehr Verwaltungsjuristen, Lehrer und
Dozenten den Ton an, zu der letzten Grup-
pe gehört auch Sánchez. Doch hat die
PSOE, wie Vox-Chef Santiago Abascal, der
sich als moderner Volkstribun inszeniert,
nun selbstbewusst verkündet, die „kleinen
Leute“ aus dem Blick verloren. So hat sich
Vox in sozialen Brennpunkten als „Partei
der Kümmerer“ darstellen können. Diese
Wählerwanderung von links nach rechts
entspricht auch den Erfahrungen in den
ostdeutschen Bundesländern oder in
Polen, wo Rechtspopulisten mit linken So-
zialprogrammen punkten konnten.
Vor allem aber gab der Katalonien-Kon-
flikt Vox Rückenwind. Dass die von Separa-
tisten geführte Regionalregierung in Barce-
lona die Abspaltung vom Königreich Spani-
en betreibt, ohne dafür die Mehrheit der
Wähler in der Region hinter sich zu haben,
empört die große Mehrheit der Spanier.
Bei vielen von ihnen hat dies nationale Ge-
fühle wiedererweckt, die vorübergehend
durch die große Wirtschaftskrise von 2008
an sowie die Folgen der Inkompetenz und
Unmoral der politischen Elite in Madrid
überdeckt worden waren. Abascal fordert
die Verhaftung der Regierung in Barcelona
und die Aufhebung der autonomen Rechte
aller Regionen.
Darüber hinaus propagiert er die Vertei-
digung „traditioneller europäischer Wer-
te“. Das heißt für ihn keine Abtreibungen,
keine gleichgeschlechtlichen Ehen, keine
Frauenquoten und eine Förderung der ka-
tholischen Kirche. Hier versucht er, die Lü-
cke auszufüllen, die die konservative Volks-
partei (PP) hinterlassen hat, nachdem ihr
langjähriger Vorsitzender Mariano Rajoy
sie auf einen Kurs der Mitte getrimmt hat-
te. Rajoy hatte sogar, was im erzkonservati-
ven Milieu einen Skandal darstellte, an der
Hochzeit eines Parteifreundes mit dessen
Lebensgefährten teilgenommen; außer-
dem hatte er nicht an der Fristenlösung für
den Schwangerschaftsabbruch rütteln las-
sen. Zum Programm von Vox gehört auch,
dass der Zuzug von Migranten aus Afrika
weitgehend unterbunden werden soll. In
diesem Punkt aber steht Abascal nicht
allein. Auch die Politik von Pedro Sánchez
läuft darauf hinaus. thomas urban

von thomas urban

D


ie Sprecherin der Sozialistischen Ar-
beiterpartei wirkt schon leicht ge-
nervt: Zum x-ten Mal muss sie sich
an diesem Morgen anhören, dass ihr Boss
sich wohl „verzockt“ habe, als er im Früh-
sommer vorgezogene Neuwahlen ankün-
digte. Angeblich hintertrieb Pedro Sán-
chez, Chef der PSOE und Spaniens ge-
schäftsführender Premierminister, da-
mals, wenige Wochen nach seinem Sieg bei
den Parlamentswahlen im April, die Bil-
dung einer Linksregierung. Angeblich,
weil er darauf gesetzt hatte, in einem weite-
ren Urnengang noch erheblich an Stim-
men dazuzugewinnen. An diesem Sonntag
fanden die Wahlen nun statt, und es ist be-
kanntlich anders gekommen.
Doch der Vorwurf gegen Sánchez ist
falsch, worauf PSOE-Leute nun unermüd-
lich hinweisen. Nach den Wahlen im April
hatte es nie eine Chance für eine Koalition
der Sozialisten mit dem linksalternativen
Bündnis Unidas Podemos gegeben. Es fehl-
ten acht Stimmen zur Mehrheit im Parla-
ment. Als Mehrheitsbeschaffer wären nur
zwei schwierige Partner infrage gekom-
men: entweder die katalanischen Separa-
tisten. Doch deren Forderung nach einem

Unabhängigkeitsreferendum konnte Sán-
chez nicht erfüllen. Oder aber die konserva-
tiven Basken. Die wiederum lehnten das
schuldenfinanzierte Sozialprogramm von
Podemos ab. Also hatte Sánchez damals
gar keine Alternative zu der Neuansetzung
der Wahl an diesem Novembersonntag.
Noch in der Nacht zum Montag hat nun
die linksalternative Oberbürgermeisterin
von Barcelona, Ada Colau, zu einer „Front
der Linken“ aufgerufen. Wenn die nicht zu-
stande komme, werde Spanien zur Beute
der Rechten. „Und wir fahren alle zur Höl-
le!“, rief sie bei ihrer Pressekonferenz aus.
Doch eine linke Mehrheit im Parlament kä-
me nur zustande, wenn die katalanischen
Linksrepublikaner und die baskische
Gruppierung EH Bildu dabei sind. Beides
aber wäre für Sánchez nicht akzeptabel.
Der Vorsitzende der Linksrepublikaner,
Oriol Junqueras, ist vor einem Monat als
angeblicher Rädelsführer des illegalen ka-
talanischen Unabhängigkeitsreferendums
vom 1. Oktober 2017 zu 13 Jahren Gefäng-
nis verurteilt worden. Und EH Bildu wird
in Madrid der Vorwurf gemacht, aus dem
politischen Arm der Terrororganisation
Eta hervorgegangen zu sein – was im Bas-
kenland heftig bestritten wird.
Immerhin ist Sánchez der einzige Partei-
chef, der angesichts der Kräfteverhältnis-
se in den Cortes, dem Unterhaus des Parla-
ments, in der Lage ist, eine Regierung zu
bilden. Allerdings musste die PSOE leichte
Verluste hinnehmen. Ihr Ergebnis von run-
den 28 Prozent bedeutet ein Minus von
0,7 Punkten und drei ihrer bisherigen 123
Sitze. Zwar hat die konservative Volkspar-
tei (PP), die Sánchez im Mai 2018 per Miss-
trauensvotum von der Macht verdrängt
hatte, wieder etwas zugelegt: um 4,1 Punk-
te auf 20,8 Prozent. Doch ihre nun 88 Sitze
reichen lange nicht für ein Bündnis mit
den beiden anderen Fraktionen im rechten
Spektrum, der Bürgerpartei (Ciudadanos)
und den Nationalisten von Vox. Letztere ha-
ben die Zahl ihrer Mandate mehr als ver-
doppelt, von 24 auf 52. Die Zugewinne der
PP und von Vox gingen allerdings auf Kos-
ten der Ciudadanos. Die Rechtsliberalen er-
lebten einen beispiellosen Absturz. Sie fie-
len auf 6,8 Prozent zurück und verloren 47
der 57 Mandate, die sie im April errungen
hatten.
Der 39-jährige Parteichef Albert Rivera
trat am Montagmorgen zurück. Die Ciuda-
danos-Führung hatte auf das falsche Re-
zept gesetzt. Sie hatten mit harten Atta-
cken auf die Katalanen die Nationalisten

von Vox noch überbieten wollen – anstatt
ein Konzept zur Überwindung der Krise
vorzulegen. Rivera hatte es in der Hand, im
April eine stabile sozialliberale Koalition
mit Sánchez zu bilden. Dessen Angebot
hatte er aber ausgeschlagen, in dem Irr-
glauben, der Aufstieg der Ciudadanos wer-
de anhalten und er könne selbst die nächs-
te Regierung bilden. „Hochmut kommt vor
dem Fall“, schrieben nun einige Kommen-
tatoren. Für den einstigen Hoffnungsträ-
ger der politischen Mitte ist der Absturz
besonders bitter, weil er die dringenden
Empfehlungen europäischer Verbündeter,
die Koalition mit Sánchez zu versuchen, ar-
rogant ignoriert hatte. Der französische
Staatspräsident Emmanuel Macron und
die FDP hatten versucht, auf Rivera einzu-
wirken. Nun dürfte er so bald nicht mehr
nach Paris oder Berlin eingeladen werden.

In der Region Andalusien und in der
Stadt Madrid gibt es ein anderes Bündnis-
modell: eine Koalition von PP und den Ciu-
dadanos, geduldet von Vox. Dort hat diese
Allianz die bisherigen Linksregierungen

abgelöst. In den Cortes indes kommen die-
se drei Parteien zusammen nur auf 150 der
350 Sitze. Sie wären auf die Unterstützung
der Regionalparteien angewiesen. Doch
die werden sich hüten. Die Rechten wollen
die Kompetenzen der Regionen gegenüber
der Zentralmacht beschneiden.
So bleiben zwei Optionen für eine neue
Regierung: Sánchez führt weiterhin ein

Minderheitskabinett und sucht sich von
Projekt zu Projekt seine Mehrheiten. Eine
derartige Regierung wäre allerdings
schwach und von den Regionalparteien
abhängig, die sich ihre Zustimmung im-
mer mit teuren Zugeständnissen abkaufen
lassen.
Die Alternative wäre eine noch nie da ge-
wesene Koalition aus Sozialisten und Kon-
servativen nach dem Vorbild der deut-
schen CDU/CSU und der Sozialdemokra-
ten. Kurzfristig scheint dies ausgeschlos-
sen zu sein, beide Parteien haben sich
bislang stets erbittert bekämpft. Hinzu
kommt die unaufgearbeitete Vergangen-
heit, die bis heute das Selbstverständnis
vieler Parteimitglieder prägt. Die PP ist
aus einer postfranquistischen Gruppe her-
vorgegangen, die PSOE wurde von Franco
blutig unterdrückt.

Doch völlig unmöglich scheint ein sol-
ches Zusammengehen mittelfristig nicht
mehr zu sein, wie erste Reaktionen zeigen.
So schrieb die konservative Tageszeitung
El Mundozum Wahlausgang: „Die Allge-
meininteressen des Landes erfordern eine
große Koalition von PSOE und PP.“El Mun-
dohat großen Einfluss in Madrid, nicht zu-
letzt deshalb, weil die Zeitung unabhängig
von der spanischen Politik ist, sie gehört
zum italienischen Konzern RCS Media
Group. Es war die Redaktion vonEl Mun-
do, die einige der großen Korruptionsskan-
dale von PP-Politikern aufgedeckt hat,
über die der letzte konservative Regie-
rungschef Mariano Rajoy im Mai 2018 ge-
stolpert ist. Der junge PP-Chef Pablo Casa-
do, gerade 38 Jahre alt, wird daher die Emp-
fehlung des Leitartiklers der Madrider Zei-
tung nicht einfach ignorieren können.

Ein unmoralisches Angebot


Weder die Linken mit dem sozialistischen Premier Sánchez an der Spitze noch die Rechten
haben die Mehrheit. Eine Möglichkeit zur Regierungsbildung gäbe es indes – doch die ist bisher tabu

Hat er sich verzockt? Spaniens amtierender Premier Pedro Sánchez (oben mit Ehefrau María Begoña Gómez Fernández) hatte sich eine linke Mehrheit erhofft. Statt-
dessen legten die Rechtspopulisten unter Santiago Abascal (rechts unten) zu. In Katalonien blieben die Separatisten stark. FOTOS: PEREZ/REUTERS; VERA/REUTERS; CAPARROS/GETTY

(^2) THEMA DES TAGES Dienstag, 12. November 2019, Nr. 261 DEFGH
Vor allem der Konflikt
um Katalonien gab
den Populisten Rückenwind
Ein Fingerzeig vom
führenden konservativen
Blatt des Landes
Die Liberalen wollten groß
gewinnen – und
wurden abgestraft

Parlamentswahl in SpanienVier Mal in vier Jahren hat das Land jetzt gewählt, und diesmal gibt es einige Bewegung:
Die Rechtspopulisten können auftrumpfen, die bisher starken Liberalen müssen eine heftige Abfuhr einstecken. Eine Antwort auf
die entscheidende Frage allerdings scheint auch dieser Wahlgang nicht zu geben: Wer soll das Königreich künftig regieren?
Im Revier
der Empörten

Warum die Partei Vox mit einem
stramm rechten Kurs Erfolg hat
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