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Am Abend seines Wahlsieges stand Belit
OnaydannwieeinAusrufezeichenaufdie-
ser riesigen Steintreppe in Hannovers
Neuem Rathaus. So neu ist das Rathaus
nicht mehr, das schlossartige Gebäude
entstand vor mehr als einem Jahrhundert
in der Kaiserzeit. Seit Menschengeden-
ken ging da immer ein Sozialdemokrat
miteinemdeutschenNamenalsOberbür-
germeister hinauf und hinab, aber jetzt
hat er diese Stufen erobert: Belit Onay,
erst 38 Jahre alt, Mitglied der Grünen und
Sohn von Zuwanderern aus der Türkei.
Dasist gleicheinedoppelteZeitenwen-
de am Maschsee, wo immer mal wieder
politscheSeilschaftenentstandenundTa-
lente gediehen. Das hannoversche Ambi-
ente bekam auch den Karrieren von Ger-
hard Schröder oder Sigmar Gabriel. Seit
1946 wurde die einstige Zentrale eines
Königreichs stets von der SPD regiert, al-
lein 34 Jahre lang in Gestalt von Herbert
Schmalstieg, es folgte Stephan Weil, der
heutige Ministerpräsident von Nieder-
sachsen. Der Skandal um überhöhte Zah-
lungen an Mitarbeiter brachte im April
den Genossen und OB Stefan Schostok zu
Fall. Jetzt übernimmt also Belit Onay, auf
den plötzlich das ganze Land schaut.
Sein Erfolg ist ja nicht nur das Ende ei-
ner Serie von 73 Jahren SPD in dieser vor-
mals roten Hochburg und dieFortsetzung
eines fast bundesweiten Höhenflugs der
Grünen. Es ist tatsächlich auch das erste
Mal, dass es ein Kind von Migranten an
die Spitze einer deutschen Landeshaupt-
stadt schafft. Wobei es weniger über-
rascht, dass es nun so weit ist, sondern
vielmehr, dass es bis zu diesem Ereignis
im Herbst 2019 so lange gedauert hat.
Belit Olay kam 1981 in Goslar zur Welt,
dortwarenseinetürkischenElternalsHo-
telangestellte und später Gastronomen in
Deutschland zunächst heimisch gewor-
den. Deutsch lernte er erst hauptsächlich
in der Kita oder bei Bekannten, Türkisch
sprichter immernochunddazueinwenig
Russisch,wasbeimStraßenwahlkampf al-
les kein Nachteil war. Nach dem Brand-
anschlag 1993 auf eine türkische Familie
in Solingen dachten sein Vater und seine
Mutterdarübernach,Deutschlandzuver-
lassen. „Was heißt das eigentlich für uns,
für unsere Kinder?“, hätten sie sich ge-
fragt, erzählt er, wenn man ihn auf seine
Herkunft anspricht. Heutzutage gibt es
wiederSorgen,entsprechendverstehtBe-
litOnayseineWahlauchalsSignalinHan-
nover, wo jeder dritte Bewohner einen
sogenannten Migrationshintergrund hat
und Rechtsaußen kaum eine Rolle spie-
len. „Hier läuft’s anders“, sagt er. „Wir er-
kennen Vielfalt als Stärke und nicht als
Schwäche.“
Das rechtsextreme Attentat mit fünf
TotendamalssensibilisiertedenZwölfjäh-
rigen außerdem für die Politik. Als Schü-
ler versuchte er es kurz bei der SPD, die
ihn heute bestens gebrauchen könnte. Als
Jurastudent saß er nachher für den CDU-
nahen Ring RCDS im Studierendenparla-
ment, wobei er bei Fragen zu seiner
Wandlung darauf hinweist, dass es in
Baden-Württemberg sogar einen grünen
Regierungschef mit kommunistischer
Vergangenheit gebe, alles nicht so wild.
Im niedersächsischen Landtag war der
Jurist und Grünen-Abgeordnete Onay
seit2013 SprecherfürInnenpolitik,Kom-
munalpolitik, Migration und Flüchtlinge,
SportundNetzpolitik.Jetztwillermindes-
tens sieben Jahre lang grüne Themen in
dieses alte Neue Rathaus bringen, so lan-
ge dauert eine Amtszeit. Zu seinen Plänen
gehören eine autofreie Innenstadt und
mehr Radwege, bezahlbare Wohnungen
und soziales Miteinander – Hannover mit
seiner guten halben Million Einwohner
hat die üblichen Vorzüge und Probleme
größererStädte.„BrückenbauerinderMi-
grationsgesellschaft“ wolle er sein.
Der groß gewachsene Vater eines Kin-
des trifft offenkundig den Ton der Stadt.
Auch der frühere VW-Manager Eckhard
Scholz, der für die CDU antrat und diese
Stichwahl verlor, schätzt Belit Onay. Und
derPianistIgorLevit,einervonOnayseif-
rigen Helfern, ist „sehr, sehr stolz auf un-
ser Hannover“. peter burghardt
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VERTRETEN DURCH DEN HERAUSGEBERRAT
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E
ndlich, ein wichtiger Schritt ist
getan, die Spitzen von Union
und SPD haben eine kluge Lö-
sung gefunden. Längst drohte
der erbittert geführte Streit ei-
ne zentrale Erkenntnis zu trüben: Die nun
auf den Weg gebrachte Grundrente ist ein
wichtigesProjektfürdiesesLand,ihreBe-
deutung kann von der Öffentlichkeit
kaum überschätzt werden. Wer 35 Jahre
regelmäßig gearbeitet und in die Renten-
kasseeingezahlthat,derdarfamEndesei-
nes Erwerbslebens nicht in die Altersar-
mut abrutschen.
Von diesem Schicksal sind gegenwärtig
Millionen Bundesbürger entweder be-
droht oder längst betroffen. Es sind Men-
schen,diealsgeringbezahlteKräfteinFri-
seurläden, Kaufhäusern und Gastrono-
miebetrieben ihrer Arbeit nachgehen,
überwiegend Frauen. Nach den geltenden
Regeln der gesetzlichen Rentenversiche-
rungschaffenesvielevonihnentrotzjahr-
zehntelanger Beitragszeiten nur auf
Grundsicherungsniveau,also auf Hartz IV
für Ältere. Von 2021 an sollen ihre Bezüge
fühlbar angehoben werden.
EsgehtbeiderGrundrenteaberkeines-
wegs nur um eine Notoperation für Hilfs-
bedürftige. Was in der laufenden Debatte
bisher so gut wie nie erwähnt wurde, ist
dies:DerEingriffistauchdeshalbsowich-
tig,weilsonstMillionenMenschenamun-
terenEndederEinkommensskaladasVer-
trauen in die staatliche Rentenkasse ver-
lieren – und zwar zum Schaden aller. Das
wäre eine schwere Hypothek für die ge-
setzliche Rentenversicherung. Warum?
WerMonatfürMonatBeiträgeandieRen-
tenkasse abführen muss, aber schon im
Vorausahnt odersogarweiß,dassihmdas
im Alter kaum Ertrag bringt, der ist ver-
sucht, dem System der staatlich organi-
sierten Alterssicherung von Anfang an
den Rücken zu kehren, zum Beispiel in
Schwarzarbeit oder in prekärer Selbstän-
digkeit. Bei der Grundsicherung landet
manauchohneBeitragsleistung.Solchne-
gative Anreizwirkung sollten alle beden-
ken, die jetzt eisern den strikten Zusam-
menhang zwischen Rentenhöhe und Bei-
tragsleistungenverteidigen.Dieseswichti-
ge Äquivalenzprinzip droht sich ohne
Grundrente – einen Schutzmechanismus
für langjährig Versicherte gegen Armut –
selbst auszuhöhlen, und zwar von unten.
Ein Scheitern der Reform wäre aber
aucheingroßerSchadenfürdieparlamen-
tarische Demokratie, weil das Vertrauen
in die Lösungskompetenz der regieren-
den Parteien weiter schwände. Gewiss,
dieArtundWeise,inderdieserGrundren-
tenkompromiss zustandekam,wirktemü-
hevoll und zäh, ja quälend. Lange bestand
dieSPDdarauf,dieneueGrundrente ohne
jede Bedürftigkeitsprüfung zu gewähren.
DenEmpfängernsollteeineentwürdigen-
de Durchleuchtung ihrer Vermögensver-
hältnisse möglichst erspart werden. Ein
wahrer Kern steckt darin immerhin: Auch
weil es dieses Procedere gibt, verzichten
heutevieleMenschendarauf,dieihnenei-
gentlich zustehende Grundsicherung in
Anspruch zu nehmen.
Trotzdem wäre es falsch, die neue
Grundrente auch an Menschen auszuzah-
len, die selbst oder deren Partner über er-
kleckliche Einkünfte verfügen, zum Bei-
spiel aus Vermietung und Verpachtung.
Der jetzt gefundene Kompromiss ist aber
nichtnurgutvertretbar,sondernvernünf-
tig. Das Schlüsselwort heißt Bedarfsprü-
fung. Das klingt fast wie Bedürftigkeits-
prüfung, genau das ist auch die Absicht.
Es wird aber nicht das gesamte Vermögen
durchleuchtet, stattdessen werden nur
die Einkünfte geprüft. Die staatliche Ren-
tenversicherung und die Finanzverwal-
tung tauschen künftig Daten aus.
Undja,esstimmt:DieseFormderÜber-
prüfungist nicht lückenlos.Selbstgenutz-
tes Wohneigentum, das Menschen gerade
inZeitensteigenderMieteneinenerhebli-
chen finanziellen Vorteil verschafft, bleibt
unberücksichtigt. Dennoch ist der gefun-
dene Kompromiss gut vertretbar, auch
wennKonservativeundWirtschaftslibera-
le in der Union nun eifrig Beispiele kons-
truieren, mit denen die Unzulänglichkei-
ten der Bedarfsprüfung illustriert werden
sollen, etwa so: Jemand hat drei Villen am
Tegernsee, aber nur ein paar Hundert Eu-
ro Rente. Bekommt der künftig etwa auch
Grundrente? Mit solchen Beispielen mag
man vielleicht ein Proseminar erheitern,
alsGrundlagefür Politik taugensiewegen
Realitätsferne wenig.
Ist das jetzt entworfene Grundrenten-
modell also perfekt? Vermutlich könnte
man es verbessern. Ende 2025, so verein-
barten die Spitzen von Union und SPD,
sollgeprüftwerden,obdieReformzieleer-
reicht sind. Stimmen die jetzigen Zahlen
der Koalition, dann profitieren von der
Grundrente von 2021 an etwa 1,2 bis 1,
Millionen Menschen. Den Staat kostet das
jährlich maximal 1,5 Milliarden Euro aus
Steuermitteln, wie Markus Söder vortrug.
Dem CSU-Chef gebührt an dieser Stelle
ein Lob für seine vermittelnde Rolle im
Grundrentenstreit.JetztsollteBayernsMi-
nisterpräsident die immer noch zweifeln-
denKollegen in der Uniondavonüberzeu-
gen, dass sie nicht etwa eingeknickt sind
vor der SPD. Sondern dass sie eine Weg-
marke in der Rentenpolitik setzen.
von christoph gurk
K
urz nach dem Rücktritt von Evo
Morales brach vollends das Chaos
aus. In La Paz brannten am Sonn-
tag nach Einbruch der Dunkelheit ein
Dutzend Busse aus und Geschäfte wur-
den geplündert. Am Morgen war die
Stadt ein Scherbenhaufen – und tragi-
scherweise könnte dies ein Vorge-
schmack sein auf das, was dem Land in
den nächsten Wochen bevorsteht.
Auf der einen Seite ist das die Schuld
von Evo Morales selbst. Fast 14 Jahre hat
erseinLandregiert.Millionensindindie-
ser Zeit aus der Armut aufgestiegen, die
Wirtschaft wächst. Es gibt mehr weibli-
che Abgeordnete als in jedem anderen
Land Lateinamerikas, und Bolivien ist
qua Verfassung ein plurinationaler Staat.
Bei allen Verdiensten versanken Morales
undseine Partei aberzunehmend auch in
Selbstherrlichkeit. Öffentliche Posten
wurden fast nur noch mit Parteimitglie-
dern besetzt. Der Präsident machte keine
Anstalten, einen Nachfolger aufzubauen,
stattdessen klammerte er sich an die
Macht. Erst beugte Morales per Richter-
spruch die Verfassung, um weiter im Amt
bleiben zu können. Dann ließ er anschei-
nend die Abstimmungsergebnisse der
letzten Präsidentenwahl fälschen, um
sich nicht einerStichwahlstellen zumüs-
sen. Morales wusste, dass die Zeiten der
üppigen Mehrheiten für ihn vorbei sind.
VieleBolivianerwollen einen Wandelund
nicht „Evo for Ever“. Und sogar das Mili-
tär, das von Morales immer hofiert und
üppig finanziert worden war, stellte sich
am Schluss gegen ihn.
Wenn Morales nun von einem Putsch
spricht,istdasnichtfalsch.DieVorausset-
zungen aber hat er selbst geschaffen. Es
wäre an der Zeit, sich das einzugestehen,
auch um seine Anhänger zu beruhigen
und einen friedlichen Übergang zu ge-
währleisten.
Allerdings – und das ist das Problem –
hatauchdieOppositionscheinbarkeiner-
lei Interesse an geordneten Verhältnis-
sen. Schon in den Tagen vor dem Rück-
tritthatsiejedesAngebotzumDialogaus-
geschlagen. Als Morales am Sonntag
dann den Weg für Neuwahlen frei mach-
te, war auch das nicht genug. Der Präsi-
dent sollte weg, sofort. Dass so am Ende
ein Machtvakuum entstanden ist, störte
nicht weiter. Im Gegenteil: Viele der Mi-
nister und Abgeordneten, die gemein-
sammitMorales zurückgetretensind,ta-
ten das nicht aus politischer Überzeu-
gung,sondernausAngst umLeibundLe-
ben.Wohnungenwurdenangesteckt,Re-
gierungsgegner plünderten allem An-
schein nach sogar das Haus von Morales.
Videos davon gelangten ins Netz. Auch
das wahrscheinlich kein Zufall.
Bolivien ist nach mehr als einer Deka-
de politischer Stabilität ein tief gespalte-
nes Land. Auf der einen Seite ist da das
Hochland, geprägt von seinen vor allem
indigenen Bewohnern und ihrer Kultur.
Auf der anderen Seite ist da das Tiefland.
HierlebenvorallemNachfahreneuropäi-
scher Einwanderer, von denen viele zur
wirtschaftlichen Elite des Landes gehö-
ren. Und so kommt auch einer von Mora-
les’ derzeit größten Widersachern aus
der Provinz Santa Cruz im Tiefland: Luis
Fernando Camacho, ein Anwalt und
christlicher Fundamentalist, der eine
rechtskonservative Bürgerbewegung an-
führt.CamachoträgtdenBeinamen„Ma-
cho“ und er kultiviert von sich selbst das
Bild des starken, unbestechlichen Man-
nes. Ein Profil, das in Lateinamerika im-
mer dann Popularität genießt, wenn die
Zeiten besonders chaotisch sind.
von mike szymanski
S
o präsent war das Militärische in
Deutschland lange nicht mehr: Das
ersteMalseit 2013werdenamDiens-
tag Soldaten vor dem Reichstag in Berlin
öffentlich geloben, Deutschland treu zu
dienen und „das Recht und die Freiheit
des deutschen Volkes tapfer zu verteidi-
gen“. Verteidigungsministerin Annegret
Kramp-Karrenbauer hat sich das so ge-
wünscht. Die CDU-Politikerin meint, die
TruppegehörestärkerinsBewusstseinge-
rückt.ImnächstenJahrwerdendieUSAin
einer Großübung wie es sie seit Jahrzehn-
ten nicht gegeben hat, 20000 Soldaten
und ihr Gerät quer durch Deutschland in
Richtung Osten verlegen. In der Übung
gehtesnichtnurumdieFrage,obdieBun-
deswehreine solchelogistischeHerausfor-
derung noch stemmen kann. Es geht auch
darum: Regt sich noch etwas in dieser Ge-
sellschaft, wenn wieder Militärkonvois
auf den Landstraßen rollen wie in den
Achtzigerjahren?
Kehren die alten Muster von vor 1989
zurück,womöglichgareingruseligerMili-
tarismusundeinaufbegehrenderAnti-Mi-
litarismus? Gewiss nicht, auch wenn sich
schon die Gegner der Truppe rüsten. Die
Zeiten haben sich verändert, vor allem
aberistdieBundeswehrnichtmehrdieal-
te. Das macht den Unterschied.
Gewöhnungsbedürftig ist trotzdem,
was passiert: Jetzt wird öffentlich weithin
sichtbar, was sich sicherheitspolitisch in
Deutschland seit der Annexion der Krim
durchRusslandunddemdamitverbunde-
nen Aufleben alter Feindbilder verändert
hat. Das wiederbelebte Konzept der Lan-
des- und Bündnisverteidigung verlässt
den Raum derpolitischenDebatte und die
Sphäre der militärischen Planer. Es
kommt, gelobend und kettenrasselnd auf
der Straße an – in einer Gesellschaft, für
die jene Abstinenz des Militärischen zur
Normalität geworden war. Sie lebt in Frie-
den und muss wenig Zweifel daran haben,
dass sich daran in diesem Land so schnell
etwas ändert. Nur, welchen Platz ist diese
Gesellschaft bereit, der Bundeswehr noch
zuzugestehen?
InJahrendesKaltenKriegeswarvonei-
ner Schicksalsgemeinschaft die Rede, in
der sich Bürger und Soldaten befanden.
Bedrohtfühltensichalle.Militärwarallge-
genwärtig,wennauchnichtüberallakzep-
tiert. Heute tritt die Bundeswehr als Kon-
kurrentin um knappe Ressourcen auf. Sie
steht mit der Wirtschaft in einem harten
Wettbewerb um gut ausgebildete junge
Leute. Wenn die Bundeswehr, die wieder
wachsen soll, Kasernen reaktiviert, dann
löstdasnichtunbedingtFreudeinderPoli-
tik aus – die Bürgermeister wollen Woh-
nungen schaffen.
Verteidigungsministerin Kramp-Kar-
renbauer beklagt jetzt eine regelrechte
Entwöhnung von der Bundeswehr, die
durchdie AussetzungderWehrpflichtein-
getreten sei. Es ist mehr als das. Die Bin-
dungandieGesellschaftdrohtverloren zu
gehen, wenn sie das nicht schon ist. Weni-
ge Bürger dürften den Überblick darüber
haben, wo die Deutschen überall im Ein-
satz sind und was sie dort leisten. Das Zu-
trauen in dieFähigkeiten der Bundeswehr
schwindet. Vorgängerin Ursula von der
Leyen hatte derart die Ausrüstungsmän-
gel und Systemschwächen in den Vorder-
grund gestellt, dass sich der Eindruck ei-
ner Trümmer-Truppe verfestigte. Beim
Gelöbnis in Berlin mag man das überspie-
len können. In Hessen hat die Bundes-
wehrnichtgenügendRekrutenfüreinsol-
ches Gelöbnis zusammenbekommen. Das
zeigt dann doch, wie sehr die Truppe für
und mit sich kämpfen muss.
W
enn es die Absicht des französi-
schen Präsidenten Emmanuel
Macron gewesen sein sollte, mit
seinen drastischen Worten über die Nato
vor allem die Deutschen aufzuschrecken,
so ist ihm das gelungen. Macrons Befund,
die Nato sei „hirntot“, hat Kanzlerin,
Außenminister und viele andere in Berlin
alarmiert. Nicht, weil ihnen Macron ir-
gendwelche Neuigkeiten eröffnet hätte.
Sie alle wissen, was US-Präsident Donald
Trump und der türkische Staatschef Re-
cep Tayyip Erdoğan in der Nato angerich-
tet haben. Größere Sorge bereitet ihnen,
was Macron anzurichten gedenkt.
Nicht mehr zu verschleiern ist ein
grundlegenderstrategischerKonfliktzwi-
schen Paris und Berlin. Zwar setzen sich
Franzosen wie Deutsche für stärkere Ver-
teidigungsanstrengungen der Europäer
und auch für mehr Zusammenarbeit ein.
Doch Deutschland geht es dabei vor allem
darum, durch stärkere europäische An-
strengungendieAmerikanerbeiderStan-
ge zu halten und die Zukunft der Nato zu
sichern. Frankreich hingegen will, dass
Europa sich auch ohne die USA verteidi-
gen kann.
Sicherlich wollte Präsident Macron mit
seinemAlarmrufdereuropäischenVertei-
digung einen Schub verleihen. Erreicht
aber hat er das Gegenteil – und das Miss-
trauen ihm gegenüber verstärkt. Auch in
Berlin. daniel brössler
T
ürkis ist eine wandelbare Farbe. Je
nach Mischverhältnis changiert sie
mehr ins Blaue oder auch in Rich-
tung Grün. Sebastian Kurz hat also wieder
einmal mit Bedacht gehandelt, als er der-
einstseinerstarr-schwarzenÖVPdenFar-
benwechsel verordnete. Nach dem ge-
scheiterten Regierungsversuch mit der
blauen FPÖ kann er jetzt umso leichter
umschalten zu den Grünen.
Allerdings sind die nun vereinbarten
Koalitionsverhandlungenfürbeide Seiten
noch mehr ein Versuch als eine Versu-
chung. Die inhaltlichen Gegensätze sind
groß, die jeweiligen Wählererwartungen
grundverschieden und das Lebensgefühl
ist sowieso eher schwer kompatibel. Ein
Scheitern der Regierungsbildung ist also
nicht ausgeschlossen.
Dennoch hat das Neue durchaus einen
Reiz,für beide Parteien undfürsLand:Se-
bastian Kurz könnte sich als moderne
Kraft der Veränderung präsentieren und
wäre mit einem Schlag den Makel los, in
seinervorigenRegierungdieRechtspopu-
listen salonfähig gemacht zu haben. Die
Grünen um ihren pragmatischen Chef
Werner Kogler könnten Verlässlichkeit
und Gestaltungskraft als Regierungspar-
teibeweisen. Und fürÖsterreichwäreeine
türkis-grüne Regierung ein überzeugen-
der Neuanfang nach dem Ibiza-Desaster.
Dafür lohnen sich auch schwierige Ver-
handlungen. peter münch
D
ie prodemokratische Bewegung in
Hongkong wirkt in diesen Tagen
wie ein seltenes Gewächs. Welt-
weit scheint die Demokratie in der Krise.
Autokratische Staaten sind auf dem Vor-
marsch. Die Menschen in Hongkong aber
kämpfen für ihre Freiheit. Seit Monaten
gehen sie auf die Straße. Die Unverwüst-
barkeit ihres Freiheitswillens ist bewun-
dernswert. Ihre Widerstandsfähigkeit
bringt Pekings Machthaber um den
Schlaf. Hongkongs Freiheitskampf ver-
dient Unterstützung.
DasmachtdieBewegungabernichtun-
angreifbar. Die Mehrheit der Hongkonger
geht friedlich auf die Straße. Sie beklagen
zu Recht die Polizeigewalt. Die Regierung
hat den Rechtsstaat ausgehöhlt. Die Ge-
waltenteilung und die freiheitlichen
Grundrechte, die Peking der Stadt zugesi-
chert hat, sind unter Druck. Gleichzeitig
habensichabereinigeDemonstrantenra-
dikalisiert. Mehrfach haben sie Menschen
gezielt angegriffen und verletzt. Die Ver-
zweiflung ist nachvollziehbar. Die Gewalt
ist es nicht. Die friedlichen Demonstran-
ten müssen sich deshalb von der Gewalt
distanzieren. Ihr Schweigen schadet. Die
Gewaltbilder dienen Peking als Munition.
Die Bewegung muss beharrlich blei-
ben. Die Menschen fordern aber politi-
sche Rechte ein. Das bringt auch Pflichten
mitsich.Verantwortlichkeitgegenüberan-
deren gehört dazu. lea deuber
Beim Repräsentieren
kommt es nicht unwesent-
lichaufdenRahmenan,gera-
de auf Staatsebene. Da darf
geprahlt werden mit dem,
was man hat. Italien zählt eine fast uner-
schöpfliche Anzahl von Bühnen für einen
standesgemäßen Empfang, die barocke
Villa Doria Pamphili (oder Pamphilj) im
gleichnamigen Stadtpark Roms ist eine
davon. Sie steht dem Ministerpräsiden-
ten für die Bewirtung ranggleicher Gäste
zurVerfügung:GiuseppeConteludKanz-
lerin Angela Merkel am Montagabend
dorthin zum „Arbeitsessen“. Damit man
den schwülstigen, dreistöckigen Palazzo
mit seinem Stuck, den Statuen und Sta-
tuetten, den Fresken und Goldbordüren
vom umliegenden Park unterscheiden
kann, nennen ihn die Römer auch Casino
del Bel Respiro. Oder Casino Algardi. So
hießseinArchitekt.Derwurdeim17. Jahr-
hundert von der Adelsfamilie Pamphilj
angestellt,demFürsten Camilloeinestol-
ze Residenz auf ihrem Agrarland zu er-
richten. Es gab etwas zu feiern. Ein ande-
res Familienmitglied, Giovanni Battista
Pamphilj, war einst Papst geworden: In-
nozenz X. (1644 bis 1655). Der Glanz soll-
te auf alle strahlen. Vor sechzig Jahren
ging das Landhaus mit seinen franzö-
sisch angehauchten Gärten an den italie-
nischen Staat. Der 184 Hektar große Park
gehörtallenRömern.EristSpielplatz,Oa-
se und Lunge der Stadt. om
(^4) MEINUNG Dienstag, 12. November 2019, Nr. 261 DEFGH
GRUNDRENTE
Schutz vor Armut
von hendrik munsberg
Nur so ist das Vertrauen
vieler Bürger in das
Rentensystem zu retten
FOTO: HAUKE-CHRISTIAN DITTRICH/DPA
BOLIVIEN
Bitteres Erwachen
BUNDESWEHR-GELÖBNIS
Soldaten im Frieden
NATO
Schub fürs Misstrauen
ÖSTERREICH
Chance auf Neuanfang
HONGKONG
Protest und Verantwortung
sz-zeichnung: sinisa pismestrovic
AKTUELLES LEXIKON
Villa Pamphili
PROFIL
Belit
Onay
Hannovers
neuer grüner
Bürgermeister
Die Opposition hat derzeit
kein Interesse an
geordneten Verhältnissen
Die Bindung der Truppe
an die Gesellschaft droht
verloren zu gehen
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