Süddeutsche Zeitung - 12.11.2019

(Tuis.) #1
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Weißrussland galt lange als politisch ab-
hängiges Anhängsel Russlands. Seit dem
Ukraine-Konflikt aber sieht sich Minsk zu-
nehmend in einer Vermittlerrolle. Es be-
tont seine Souveränität, das Verhältnis
zum Westen entspannt sich allmählich, die
meisten EU-Sanktionen sind aufgehoben,
an diesem Dienstag besucht Präsident
Alexander Lukaschenko Österreich. Gleich-
zeitig drängt Moskau den Nachbarn zu
mehr Integration. Weißrusslands Außen-
minister Wladimir Makei schildert im In-
terview, warum seine Landsleute so vor-
sichtig sind, an der Todesstrafe festhalten
und den Partner China besonders interes-
sant finden.

SZ: Im Osten Russland, im Westen die EU;
was ist schön, was schwer an dieser Lage?
Wladimir Makei:Wir sind in einer heiklen,
sehr sensiblen Situation. Gut ist, dass wir
in alle Richtungen Handel treiben können.
Gleichzeitig befinden wir uns an der Bruch-
linie zwischen zwei riesigen geopoliti-
schen Akteuren. Und die Konfrontation, in
der sich beide befinden, beeinflusst uns
und unsere Nachbarn. Das gilt zuallererst
für die Sanktionen und Gegensanktionen
zwischen Russland und den Ländern des
Westens, unter denen wir als offenes, ex-
portorientiertes Land sehr leiden.
Wie reagieren Sie darauf?
Wir wollen eine ausbalancierte Beziehung
zu allen.
Gilt das auch für Russland?
Wir betrachten Russland als unseren größ-
ten Verbündeten, als unseren natürlichen
Nachbarn ...
... und großen Bruder?

Warum nicht? Wenn wir über die Vergan-
genheit sprechen, ich meine die frühere So-
wjetunion, kann man schon sagen, dass
wir slawischen Völker Brudervölker sind.
Und wie sind die Beziehungen?
Sehr gut. Und wir wollen sie auch für die Zu-
kunft stärken. Aber das heißt nicht, dass
wir nur auf Russland schauen müssen.
Warum?
Wir haben zuletzt bei der großen Weltfi-
nanzkrise erlebt, dass die Abhängigkeit
von einem Land für unsere Wirtschaft
schädlich ist. Deshalb möchten wir unsere
Beziehungen diversifizieren und betrach-
ten die Europäische Union als unseren
zweitwichtigsten Wirtschaftspartner. Wir
möchten gute Beziehungen zur EU, aber
auch zu den anderen Staaten in der Welt.
Sieerwähnten dieUkraine:WaslernenSie
aus der Geschichte Ihres Nachbarn, der in
einer ähnlichen Situation war – und heute
ein kriegszerrissenes Land ist.
Die Ukraine ist unser zweitgrößter Wirt-
schaftspartner. Wir haben sehr gute Bezie-
hungen. Wir verstehen – sagen wir: die Lo-
gik – der ukrainischen Führung. Aber ich
muss ehrlich sagen, dass die Ukraine heute
für uns ein negatives Beispiel ist. Daran ist
aus meiner Sicht aber auch die EU schuld,
die in der Vergangenheit versucht hat, die
Ukraine so schnell wie möglich an die EU
zu binden. Ich verstehe das Bestreben der
Ukraine, enger bei Europa zu sein. Wir wol-
len dieser Logik aber nicht folgen.
Was heißt das?
Gleiche Beziehungen in alle Richtungen,
vielleicht ein bisschen mehr zu Russland.
Wir wollen die Fehler der Ukraine nicht wie-
derholen. Und wollen alle Gefahren berück-
sichtigen bei unserem Bemühen, mit der
EU stärker zu kooperieren. Die Vorsicht
liegt in der Mentalität der Belarussen. Wir
wollen ein Land sein, das zur Stabilität bei-
trägt, nicht zu Turbulenzen.
Die Stadt Minsk steht auch für die Frie-
densbemühungen um die Ostukraine.
Würden Sie den Prozess als Erfolg be-
schreiben – oder eher als Misserfolg, weil
der Konflikt nicht gelöst ist?
Ich würde eindeutig von einem Erfolg spre-
chen. Im Februar 2015 wurden ganz kon-
krete Beschlüsse gefasst: Waffenstill-

stand, Gefangenenaustausch, zeitweilige
Beruhigung der Kämpfe. Gleichzeitig sind
nicht alle Lücken geschlossen worden. Und
jetzt sagt jede Seite etwas anderes, wenn es
darum geht zu erklären, was heute los ist.
Trotzdem hoffe ich, dass es bald die Mög-
lichkeit für ein neues Gipfeltreffen im Nor-
mandie-Format gibt.
Was macht Ihnen Hoffnung?
Ein Gespräch unseres Präsidenten mit
dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir
Selenskij. Wir haben den Eindruck, dass Se-
lenskij aufrichtig bestrebt ist, diesen Kon-
flikt in der Ostukraine zu lösen. Deshalb
braucht er jetzt viel Unterstützung.
Was könnte Deutschland dabei tun?
Die Bundeskanzlerin war von Anfang an
die Lokomotive in diesem Prozess. Und sie
könnte es auch jetzt wieder werden.
Ihr Land hat sich auf Visa-Erleichterun-
gen mit der EU verständigt. Warum?
Alles, was uns näher an die EU bringt, ist
wichtig. Visa-Erleichterungen und Rück-

nahmeabkommen sind für uns ganz beson-
ders wichtig. Das Interesse der Belarussen
ist riesig, sich mit Europa vertraut zu ma-
chen. Und es ist für unsereins ein riesiger
Unterschied, ob ein Visum heute 80 oder
künftig 35 Euro kostet. Und der wachsende
Austausch wird für die Entwicklung unse-
rer Zivilgesellschaft sehr wichtig sein.
Wenn Studenten, Wissenschaftler, Unter-
nehmer immer mehr Kontakte pflegen.
Die EU ist nicht nur eine Wirtschaftsge-
meinschaft, sondern auch eine Union der
Werte. Demokratie, Menschenrechte,
Rechtsstaat sind wichtige Elemente. Be-
deutet Ihr Bemühen sich anzunähern,
dass Sie sich öffnen werden?
Wir haben nie gesagt, dass für uns Men-
schenrechte nicht wichtig sind oder wir
nicht bereit wären, daran zu arbeiten. Das
Problem besteht darin, dass wir etwas an-
dere Vorstellungen von Menschenrechten
haben. Die EU denkt eher an die individuel-
len Rechte, wir immer schon an die sozia-
len Rechte wie das Recht auf Arbeit, auf ei-
ne Wohnung, auf Schulen und eine soziale
Versorgung. Wir haben die alte sowjetische
Denkweise, dass das am wichtigsten ist.
DieTodesstrafehat mit den sozialenMen-
schenrechtennicht vielzutun.Warumver-
abschieden Sie sich nicht davon?
Wir sind ein sehr junger, unabhängiger
Staat, gerade mal 30 Jahre alt. Und vor die-
ser Zeit haben wir zu lange in der alten So-
wjetunion gelebt. Das prägt uns. Was die
Todesstrafe betrifft: Wir verweigern uns
nicht der Idee, sie in der Zukunft abzu-
schaffen. Und schon heute gilt sie nur für
brutale Morde, verbunden mit schwersten
Verbrechen. Aber: 1996 haben sich mehr
als 82 Prozent der Menschen bei uns in ei-
nem Referendum für den Erhalt der Todes-
strafe ausgesprochen. Jetzt arbeiten wir
daran, diese Meinung zu ändern.
Sie beobachten, was in der EU passiert:
das Brexit-Drama, Konflikte etwa über
die Flüchtlingspolitik. Sind Sie besorgt
oder haben Sie etwas Schadenfreude?
Wir sind sehr besorgt. Wir möchten die EU
unbedingt als etwas Einheitliches, etwas
Geschlossenes, etwas Starkes haben. Als ei-
nen geostrategischen Spieler, der verläss-
lich ist und weiß, was er will.

Warum besorgt Sie das?
Weil wir dann viel weniger Aufmerksam-
keit erhalten. Wir möchten aktiver arbei-
ten, auch im Rahmen der Initiative Östli-
che Partnerschaft. Wir haben Vorschläge
gemacht, bei der Energie-Diversifizie-
rung, bei der Infrastruktur, bei der Digitali-
sierung. Aber da steht vieles still, weil die
Aufmerksamkeit der EU anderswo ist.

Früher waren EU und USA engste Partner.
Im Augenblick ist das nicht mehr ganz so.
IstdasgutfürSie,weilSie malhierhinund
mal dorthin blinken können?
Wir würden es begrüßen, wenn die transat-
lantische Kooperation problemlos und ver-
lässlich wäre. Das wäre für uns bequemer.
Wir leiden unter den Handelskriegen zwi-
schen den USA und China, zwischen den
USA und der EU. Wir wollen eine Situation,
in der alle nach klaren Regeln spielen. Wir
exportieren bis zu 60 Prozent unserer Gü-
ter und wollen im Handelsfrieden leben.
China engagiert sich in Weißrussland er-
heblich. Warum suchen Sie dessen Nähe?
Wir hatten in der Vergangenheit Probleme
durch die EU-Sanktionen. Und wir hatten
Probleme auch mit unseren russischen Ver-
bündeten. Beim Gas, beim Öl, beim Zu-
cker. Und deshalb hat die Führung von Be-
larus entschieden, sich einen anderen stra-
tegischen Partner zu suchen. Einen, der kei-
ne politischen Bedingungen stellt.
Haben Sie keine Angst vor Abhängigkeit?
Diese Sorge ist nicht da. Wir haben keinen
Grund und Boden an China verkauft. Das
ist bei uns verboten. Genauso haben wir
keine Betriebe verkauft. Wir versuchen,
die Augenhöhe zu bewahren.
Wenn Sie einen Wunsch frei hätten, was
würden Sie sich wünschen?
Dass Belarus zur Schweiz Osteuropas wird.
Das wär’s.

interview: stefan braun

Wien – Österreich steuert auf eine türkis-
grüne Bundesregierung zu. Sechs Wochen
nach der Parlamentswahl und ausführli-
chen Sondierungsgesprächen verkündete
Sebastian Kurz als Vorsitzender der Öster-
reichischen Volkspartei (ÖVP) am Montag
seine Bereitschaft, in offizielle Koalitions-
gespräche mit der Umweltpartei einzu-
treten. Die Grünen hatten ihre Verhand-
lungsbereitschaft bereits am Vortag im er-
weiterten Bundesvorstand beschlossen.
Die beiden Parteien kommen im National-
rat zusammen auf eine nicht allzu üppige
Mehrheit von 97 der 183 Abgeordneten.
Ihr Bündnis wäre auf Bundesebene ein No-
vum. Mit Blick auf die erheblichen inhaltli-
chen Unterschiede betonen beide jedoch,
dass auf dem Weg zur Regierungsbildung
noch große Hürden zu überwinden seien
und ein positiver Abschluss keinesfalls
sicher sei.

Kurz hob bei seinem Auftritt in der Wie-
ner ÖVP-Zentrale gleich mehrmals hervor,
dass die Aufnahme von Koalitionsverhand-
lungen „ein ergebnisoffener Anfang eines
durchaus herausfordernden Prozesses“
sei. Als Beispiel für Politikfelder, auf denen
die Positionen der beiden Parteien weit
auseinander lägen, nannte er die für die
grüne Wählerschaft zentralen Umwelt-
und Klimafragen sowie die bei der ÖVP im
Fokus stehenden Bereiche Migration und
Wirtschaft. Da werde „viel Kreativität not-
wendig sein“. Parteiintern abgesichert hat
er sich vor Aufnahme der Koalitionsver-
handlungen bei einem Treffen mit allen
ÖVP-Landeschefs am Sonntagabend. Dort
sei die Entscheidung einstimmig gefallen,
erklärte er.
Einstimmig war auch der Beschluss bei
den Grünen ausgefallen. Dies darf als Si-
gnal an die Volkspartei verstanden wer-
den, in deren Reihen die neuen Verhand-
lungspartner wegen ihrer gern gepflegten
Heterogenität eher als unsichere Kantonis-
ten gelten. Parteichef Werner Kogler ist es
nach dem Wahlerfolg am 29. September,
bei dem die Grünen mit 13,9 Prozent der
Stimmen den Wiedereinzug ins Parlament
geschafft hatten, jedoch gelungen, Einig-
keit und Ruhe in die eigene Partei zu brin-
gen. Selbst die als besonders ÖVP- und
Kurz-kritisch geltenden Wiener Grünen
hatten im Verlauf der Sondierungsgesprä-
che nur positive Signale ausgesendet.
„Unsere Hand zur ÖVP ist ausgestreckt“,
sagte Kogler nun. Zugleich sprach er je-
doch von einem „Wagnis“ und einer „Pio-
nierarbeit“, die nun geleistet werden müs-
se. „Wie das ausgeht, wissen wir nicht.“ Zur
Stärkung seiner Position berief er sich
schließlich noch auf den Schweizer Schrift-
steller Friedrich Dürrenmatt: „Was alle an-
geht, können nur alle lösen.“
Im Klartext heißt dies, dass die Grünen
als Regierungspartei anders als in der Op-
positionsrolle nun eine Chance ergreifen
wollen, die Politik konkret zu verändern.
„Es macht einen Unterschied, ob eine Mit-
te-rechts-Partei mit einer rechtsrechten
Partei oder mit den Grünen koaliert“, argu-

mentiert Kogler. Österreich werde bei ei-
ner Beteiligung der Grünen an der Re-
gierung anders aussehen als unter der Vor-
gänger-Koalition der ÖVP mit der FPÖ.
Explizit verwies der Grünen-Chef auch dar-
auf, dass es „auf europäischer Ebene“ Be-
deutung hätte, „wenn so ein Experiment
gelingen würde“.
Als Pragmatiker nimmt Kogler damit
seine eigene Partei in die Verantwortung
und schwört sie darauf ein, Zugeständnis-
se zu machen: „In der parlamentarischen
Demokratie, wie wir sie kennen, dürfen
wir Kompromisse nicht diffamieren“, sag-
te er. Obendrein stellte er als Ziel nicht nur
eine Regierungszusammenarbeit für eine
Legislaturperiode, sondern gleich für zehn
Jahre in Aussicht.
Bis es tatsächlich so weit kommen könn-
te, sind jedoch nun erst einmal schwierige
Verhandlungen zu überstehen. Auf einen
Zeitplan wollte sich niemand festlegen.
Kurz bezeichnete die zweimonatigen Koali-
tionsgespräche, die er nach der Wahl 2017
mit der FPÖ geführt hatte, als „irrsinnig zü-
gig“. Er versprach nun lediglich, „aufs Tem-
po zu drücken, gleichzeitig aber auch auf
die Qualität zu achten“.
Auch die Grünen wollen sich nicht unter
Zeitdruck setzen lassen. Zudem wirkt bei
ihnen noch ein Trauma aus dem Jahre
2003 nach. Auch damals hatten sie nach ei-
ner gescheiterten schwarz-blauen Regie-
rung mit der ÖVP unter Wolfgang Schüssel
über eine Koalition verhandelt. Am Ende
aber blieben die Gegensätze zu groß, und
Schüssel ließ sich dann doch auf eine
Neuauflage des Bündnisses mit den Frei-
heitlichen ein.
Kurz versucht nun erst gar nicht, dieses
Trauma zu lindern. Im Gegenteil: Die An-
kündigung der Koalitionsverhandlungen
mit den Grünen verband er mit einem aus-
drücklichen Lob für FPÖ-Chef Norbert
Hofer. Er bedauere es, dass die FPÖ nach ih-
rer Wahlniederlage entschieden habe, vor-
erst keine Verhandlungen zu führen, sagte
Kurz und fügte später an: „Aber manchmal
ändern sich Dinge in der Politik.“ So hat er
die Tür für die Grünen geöffnet und zu-
gleich für die FPÖ noch nicht zuge-
schlagen.peter münch  Seite 4

„Ich wünsche mir,
dass Belarus zur Schweiz
von Osteuropa wird“

London – Nigel Farage hat eine Kehrt-
wende vollzogen: Der Chef der Brexit Party
kündigte am Montag an, dass seine Partei
bei den britischen Parlamentswahlen nun
doch nicht in allen Wahlkreisen antreten
werde. „Die Brexit Party wird sich nicht
um die 317 Mandate bewerben, die bei der
vergangenen Wahl von der konservativen
Partei gewonnen wurden“, sagte Farage
bei einem Wahlkampfauftritt in der engli-
schen Hafenstadt Hartlepool. Er wolle das
Votum all jener, die einen EU-Austritt ihres
Landes befürworten, nicht spalten. Die Bre-
xit Party werde sich nun auf Wahlkreise
konzentrieren, die bislang von Labour und
Pro-EU-Parteien wie den Liberaldemokra-
ten vertreten werden.
Noch am Wochenende hatte Farage ei-
nen Pakt mit den Tories von Premierminis-
ter Boris Johnson abgelehnt, solange sich
die Konservativen nicht zu einem „echten
Brexit“ bekennen würden. Johnson strebt
bei der Wahl am 12. Dezember eine Mehr-
heit an, um seinen mit Brüssel ausgehan-
delten Brexit-Vertrag durch das Unterhaus
zu bringen. Diesen Deal hatte Farage bis-
lang entschieden abgelehnt, da es sich da-
bei nicht um einen „echten Brexit“ handle.
Ausgelöst wurde Farages Kehrtwende
nun angeblich durch eine Äußerung John-
sons. Der Premierminister habe sich dazu
bekannt, die künftigen Beziehungen mit
der EU im Rahmen eines Freihandels-
abkommens nach dem Vorbild Kanadas zu
gestalten, sagte Farage. Dies mache für ihn
„einen großen Unterschied“; schließlich
sei bislang immer die Rede von einer en-
gen und besonderen Partnerschaft gewe-
sen, erklärte der Brexit-Party-Chef. Ob
dies jedoch tatsächlich der Grund für
Farages plötzlichen Sinneswandel gewe-
sen ist, blieb am Montag zunächst unklar.
Britischen Medienberichten zufolge war er
am Wochenende unter starken Druck aus
den eigenen Reihen geraten.
Inwieweit Farages Umdenken eine Hilfe
für Johnson ist, wird sich wohl erst am
Wahltag zeigen. Für einen deutlichen
Wahlsieg braucht der Premierminister vor
allem Stimmen von Brexit-Befürwortern
in traditionellen Labour-Hochburgen –
doch dort will Farages Brexit Party weiter
antreten. alexander mühlauer

von daniel brössler
und matthias kolb

Berlin/Brüssel – Als Frankreichs Staats-
präsident Emmanuel Macron am Sonntag
zum Abendessen erschien, kam er der Bun-
deskanzlerin vermutlich gerade recht.
„Die Nato, das transatlantische Bündnis,
ist der zentrale Pfeiler unserer Verteidi-
gung“, hatte Angela Merkel gerade in ih-
rem wöchentlichen Video-Podcast verkün-
det, und es spricht eine Menge dafür, dass
sie Macron beim feierlichen Abendessen
auf Einladung von Bundespräsident Frank-
Walter Steinmeier im Schloss Bellevue an-
lässlich des 30. Jahrestages des Mauerfalls
eine etwas deutlichere Version dieser Fest-
stellung serviert hat. Die Interview-Äuße-
rung Macrons, wonach die Nato „hirntot“
sei, hat das politische Berlin in höchste
Alarmbereitschaft versetzt.
So sehr, dass sich die französische Bot-
schafterin Anne-Marie Descôtes am Mon-
tag zu einem ungewöhnlichen Schritt ent-
schließt. Überraschend sitzt sie am Mor-
gen bei einer länger geplanten Konferenz
der Bundesakademie für Sicherheitspoli-
tik und der Deutschen Atlantischen Gesell-
schaft zur Zukunft der Nato, bei der sie ei-
gentlich gar nicht hätte auftreten sollen,
auf dem Podium. Ihr Präsident habe „sehr
emotionsreiche Worte“ gewählt, räumt sie
ein, um dann – ebenfalls ungewöhnlich –
in etwa darzulegen, wie Macron sich beim
Abendessen mit der Kanzlerin erklärt hat.

„Natürlich wollte er eine Art Elektroschock
verursachen, weil er besorgt ist, und das
hat er gestern noch mal gesagt: Natürlich
will ich eine starke Nato. Natürlich ist Arti-
kel 5 wichtig“, erläutert die Botschafterin.
Genau das war in Berlin in dem Inter-
view, das Macron demEconomistgegeben
hatte, anders gelesen worden. Für größte
Irritationen sorgen nicht nur Macrons
„Hirntod“-Äußerung, sondern auch seine
Einlassungen zu Artikel 5 des Nordatlantik-
Vertrages, der den Bündnisfall regelt. Auf
die Frage, ob auf den Verlass sei, antworte-
te Macron: „Ich weiß nicht.“ Das war auf

den türkischen Alleingang in Syrien und
die Frage gemünzt, was im Falle eines syri-
schen Gegenschlages geschieht, legte aber
offen, dass der Präsident eines der wich-
tigsten Nato-Länder Zweifel daran hegt, ob
das Verteidigungsbündnis im Ernstfall
überhaupt zur Verteidigung bereit ist.
Das Entsetzen darüber ließ in Berlin die
auch in Nato-Fragen oft uneinige Koalition
an einem Strang ziehen. Neben der Kanzle-
rin meldete sich auch Bundesaußenminis-
ter Heiko Maas (SPD) zu Wort. „Es wäre ein
Fehler, wenn wir die Nato unterminieren
würden. Ohne die Vereinigten Staaten sind
weder Deutschland noch Europa im Stand,

sich wirkungsvoll zu schützen“, schrieb er
in einem Beitrag bei Spiegel Online.
Die Nervosität ist in Berlin deshalb so
groß, weil die Äußerungen Macrons nicht
als Wutausbruch aus Ärger über US-Präsi-
dent Donald Trump und den türkischen
Staatschef Recep Tayyip Erdoğan gewertet
werden, sondern als Ergebnis sehr grund-
sätzlicher strategischer Überlegungen, die
der französische Präsident in dem ausführ-
lichen Interview auch skizziert. Man müs-
se angesichts der US-Politik die Nato „neu
bewerten“, fordert Macron. Seiner Mei-
nung nach habe Europa die Kapazitäten,
sich selber zu verteidigen. „Europäische
Länder haben starke Armeen, vor allem
Frankreich“, stellt er fest. Man sei folglich
in der Lage, sowohl die Sicherheit des eige-
nen Territoriums sicherzustellen als auch
Operationen außerhalb dieses Territori-
ums durchzuführen. Keinen Zweifel lässt
er daran, dass er die Zukunft in einer viel
stärkeren und auch eigenständigen euro-
päischen Rolle in der Verteidigung sieht.
Genau das wird außerhalb Frankreichs,
vor allem auch in Berlin, fundamental an-
ders gesehen. „Eine Außen- und Sicher-
heitspolitik ohne Washington wäre unver-
antwortlich, eine Entkopplung europäi-
scher und amerikanischer Sicherheit ge-
fährlich“, warnt Maas. Man wolle „das star-
ke und souveräne Europa“, aber „als Teil ei-
ner starken Nato und nicht als deren Er-
satz“. Nicht mehr zu verbergen ist der Dis-
sens: Während die Bundesregierung durch

die verstärkte europäische Verteidigungs-
zusammenarbeit nicht zuletzt den „euro-
päischen Pfeiler“ der Nato stärken will, er-
wecken die traditionell Nato-skeptischen
Franzosen eher den Eindruck, das Bünd-
nis auf lange Sicht ersetzen zu wollen.
Auch im Rest Europas wird Macron
scharf kritisiert. Dessen Wortwahl sei „ge-
fährlich“, klagt Polens Ministerpräsident
Mateusz Morawiecki in der Financial
Times. Die Nato sei „die wichtigste Organi-
sation für die Wahrung von Frieden und
Freiheit“, sagt Morawiecki, in dessen Land
US-Soldaten als Schutz vor Russland statio-
niert sind. Er betont auch, dass Frankreich
anders als Polen nicht zwei Prozent der
Wirtschaftsleistung in Militär investiere.
Mehr Geld für Verteidigung fordert auch
Charles Michel, der als Nachfolger von
Ratspräsident Donald Tusk bald die EU-
Außenpolitik mitprägen wird: „Dies muss
innerhalb und mit der Nato geschehen.“
Beim EU-Außenministertreffen in Brüs-
sel berichtet Maas von „Beunruhigung“,
die Macron bei den Partnern ausgelöst ha-
be. Typisch für die höfliche Verpackung
des Ärgers ist die Aussage des Slowaken Mi-
roslav Lajčák, der das Interview „nicht hilf-
reich“ nennt. Frankreichs Europaministe-
rin Amélie de Montchalin zeigt sich hinge-
gen ungerührt. Paris wolle, dass Europa
souverän sei und mit einer starken, geein-
ten Stimme spreche, sagt sie: „Das hat Prä-
sident Macron schon mehrfach gesagt und
imEconomistnur wiederholt.“  Seite 4

Türkis-grünes


Experiment


In Österreich wollen ÖVP und Grüne Koalitionsgespräche führen


„Wir wollen die Fehler der Ukraine nicht wiederholen“


Weißrusslands Außenminister Makei strebt eine stärkere Zusammenarbeit mit der Europäischen Union an, hält Russland aber für den größten Verbündeten


Britische Brexit-Partei


hilft den Tories


Allein auf weiter Flur


Mit Entsetzen reagiert man in Deutschland und Europa auf die Aussagen des französischen Präsidenten,
die Nato sei „hirntot“. Ohne das Militärbündnis im Rücken sei man nicht in der Lage, sich wirkungsvoll zu schützen

Wladimir Makei , 61, will,
dass die EU eine starke
und geschlossene Union
ist, denn sie ist für Weiß-
russland der zweitwich-
tigste Wirtschaftspartner.
Über ein Ende der von
Brüssel kritisierten Todes-
strafe zeigt er sich offen.
FOTO: JOHANNES EISELE/AFP

Bundeswehr-Soldaten nehmen im niedersächsischen Munster an einer Trainingseinheit teil. Dort ist die schnelle Eingreiftruppe der Nato stationiert. FOTO: P. STOLLARZ/AFP

(^6) POLITIK Dienstag, 12. November 2019, Nr. 261 DEFGH
Sebastian Kurz hält der FPÖ die Tür noch
ein wenig offen. FOTO: REUTERS
Bei den Grünen wirkt ein Trauma
aus dem Jahr 2003 nach. Damals
waren die Gegensätze zu groß

Zeugt vom gemeinsamen Erbe mit Mos-
kau: Lenin-Denkmal in Minsk. FOTO: REUTERS
Die Nervosität in Berlin ist groß,
weil aus Macron nicht die Wut
spricht, sondern kühle Strategie

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