Süddeutsche Zeitung - 12.11.2019

(Tuis.) #1
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von maike albath

V


ielleicht sind wir längst alle Figuren
eines neuen Romans. Den Elena Fer-
rante dann irgendwann schreiben
wird, wenn sich die Aufregung ein biss-
chen gelegt hat und die Zeit reif ist für eine
Milieustudie der 2010er-Jahre. Noch ist es
nicht so weit, noch scheint sie aus sicherer
Entfernung die spätkapitalistischen Wer-
bestrategien zu beobachten, die allgemei-
ne Medienhysterie, die ihr grundsympathi-
scher Verlag E/O so wirkungsvoll losgetre-
ten hat. Es geht um Aura-Bewirtschaftung,
um die Verdichtung von Geheimnissen,
um Täuschungen und Irrtümer. Lauter ur-
ferranteske Themen, insofern hätte sie es
selbst nicht besser erfinden können.
Ein verlegerischer Coup ist es zweifellos.
Der Auftakt war – natürlich – ein Tweet
von E/O gleich nach der italienischen Som-
merpause Anfang September: Am 7. No-
vember werde ein neuer Roman von Elena
Ferrante erscheinen, verriet der Verlag, der
Titel sei aber nochtop secret. Zum Trost
wurden einige Zeilen zitiert. Wieder eine
weibliche Stimme, wieder gehe es um Nea-
pel, vermerkten die ersten Kommentato-
ren aufgeregt. Vielleicht sogar eine Fortset-
zung der weltberühmten Neapel-Reihe der
„Genialen Freundin“, die in Italien gerade
als TV-Serie unter der Regie von Saverio
Costanzo, produziert von der RAI und HBO,
große Erfolge feierte und von sieben Millio-
nen Zuschauern gesehen wurde. Die zweite
Staffel kommt im Januar ins Fernsehen.

Die Verkaufszahlen der Tetralogie, die in
vierzig Sprachen übersetzt wurde, liegen in
Italien nach Auskunft von E/O bei rund
1,5 Millionen, weltweit sind es über 12 Milli-
onen. Die Höhe der Erstauflage des neuen
Buches behält der Verlag für sich, aber es
ist die höchste, die das unabhängig geführ-
te Familienunternehmen je gedruckt hat.
DasTime Magazinesetzte Elena Ferrante
auf eine Liste der hundert einflussreichs-
ten Persönlichkeiten der Welt. Die Nach-
richt des neuen Romans sowie das Zitat
wurden in Italien und etlichen anderen Län-
dern aufgegriffen.
Die Öffentlichkeit war angefüttert, das
Terrain bereitet, es prasselte Tweets von
ungeduldigen Lesern. Wann es endlich
soweit sei? Ob man auch in Brasilien mit
der Veröffentlichung rechnen dürfe? Dann
lagen auf einmal Postkarten mit den besag-
ten ersten Sätzen in allen Buchläden aus,
auf der Rückseite stand: „Der neue Roman
von Elena Ferrante. Bestell’ dir hier dein
Exemplar“. Am 29. Oktober wurde der Ti-
tel enthüllt und der Umschlag lanciert: „La
vita bugiarda degli adulti“, „Das verlogene
Leben der Erwachsenen“, passend dazu
eine Schwarz-Weiß-Fotografie mit den
Händen zweier Mädchen.
Am Montagabend der vergangenen
Woche erreichte eine raunende E-Mail des
E/O-Pressechefs Giulio Passerini die italie-
nischen Literaturredakteure. Man werde
spät in der Nacht ein verschlüsseltes PDF
mit den Druckfahnen verschicken, die nur
mit einem Passwort zugänglich sei. Für die
Lektüre solle man fünf bis sechs Stunden
einrechnen, es sei ein großartiger, span-
nungsreicher Roman. Der Verlag behielt
weiter alle Zügel in der Hand, denn der An-
druck der meisten Tageszeitungen ist um
23 Uhr. Einige Kollegen lasen bis zum Mor-
gengrauen, die erste Rezension erschien
am Dienstagfrüh um 7.51 Uhr. Im Verlauf
des Tages brachten die großen Blätter
Corriere della Sera,La RepubblicaundLa
Stampa onlineBesprechungen, außerdem
der römischeMessaggeround der neapoli-
tanischeMattino, weitere folgten, aber in
den gedruckten Ausgaben waren sie erst
am Mittwoch zu finden, also rund 12 Stun-
den vor Verkaufsbeginn. Eine bessere Wer-
bekampagne, noch dazu umsonst, gelingt
nicht einmal Apple.
Er habe eine Nacht mit Elena Ferrante
verbracht, bemerkte der Rezensent der
Repubblicasüffisant, womit er indirekt
das harsche Urteil des Romans über die
unausrottbaren patriarchalen Strukturen
Italiens bestätigt. Insgesamt ist der Tenor
der Besprechungen positiv, die Autorin ha-
be ihren charakteristischen Ton getroffen,
alle typischen Elemente ihrer Bücher seien
enthalten: das neapolitanische Ambiente,
Familienzwist, Freundschaft. Ab 24 Uhr
und eine Minute konnte man das Buch

dann in der Nacht zum Donnerstag tatsäch-
lich auch kaufen, weshalb in allen großen
italienischen Städten Ferrante-Nights
anberaumt waren, Buchhandlungen und
Literaturhäuser luden ein, Radiomodera-
toren und Schauspieler waren involviert,
es gab Gewinnspiele mit Preisen.
Das Gründerehepaar von E/O Sandro
Ferri und Sandra Ozzola und ihre Mitar-
beiter trafen sich in der Buchhandlungs-
kneipe Altroquando in der Via del Governo
Vecchio, wo man sich bis Mitternacht die
Zeit mit Klaviermusik, Wein und einem
Quiz vertrieb. Die WirtschaftszeitungIl So-
le 24 ore, die 2016 die vermeintliche Identi-
tät der Autorin auf reißerische Weise ent-
hüllen ließ, gab schlecht gelaunt erste An-
weisungen, wie man das Ganze überleben
könne. Den Lesern gefiel es, sie kamen, fei-
erten und kauften.

Sie werden nicht enttäuscht sein. „Das
verlogene Leben der Erwachsenen“ ist die
Geschichte einer Jugend im Neapel der
frühen Neunzigerjahre. Ein weiblicher
Entwicklungsroman mit Krisen, Brüchen,
Katastrophen und der Demontage zweier
bürgerlicher Familien. Die Erzählerin, am


  1. Juni 1979 geboren, rollt die Geschehnis-


se aus der Retrospektive auf. Ihr knapp
vierzigjähriges Ich blitzt an drei, vier Stel-
len durch. Giovanna, auch Giannina oder
Giannì genannt, ist fast dreizehn, als die
Handlung einsetzt, und sechzehn, als sie,
frisch entjungfert, mit ihrer Freundin Ida
zu einer Reise nach Venedig aufbricht. „Im
Zug versprachen wir einander, so erwach-
sen zu werden, wie es keiner anderen je ge-
lungen war“ lautet der letzte Satz, und tat-
sächlich gibt es genügend lose Fäden, aus
denen sich mindestens zwei weitere Bände
mit demselben Personal stricken ließen.
Der Einstieg ist glänzend: Auf der ersten
Seite lauscht Giovanna einem Gespräch,
das nicht für ihre Ohren bestimmt war. Die
von Teenagerallüren befallene Tochter
werde hässlicher und hässlicher, vertraut
der charismatische Intellektuelle Andrea
Trada, Lehrer für Geschichte und Philoso-

phie, seiner Ehefrau Nella an, Latein- und
Griechischlehrerin. Giovanna ähnle im-
mer mehr seiner Schwester Vittoria. Scho-
ckiert betrachtet sich Giovanna von nun an
stündlich im Spiegel und beobachtet ihren
sich wandelnden Mädchenkörper. Ausge-
rechnet ihr Vater, den sie liebt und verehrt,
spricht so über sie. Denn seine Verwandt-
schaft ist tabu. Andrea ist froh, der neapoli-
tanischen Unterschicht entkommen zu
sein. Giovanna entscheidet, dass sie ihre
Tante kennenlernen will.
Und so setzt ein Emanzipationsprozess
ein, der viel mit der Entdeckung der Sexua-
lität zu tun hat, kurioserweise aber auch
mit Gott und Gebeten. Das wohlbehütete
Mädchen aus dem feinen Wohnquartier
am Vomero besucht die Tante im Industrie-
gebiet. Vittoria ist ruppig, vulgär, bestim-
mend und zugleich faszinierend. Sie er-
klärt der Nichte, was es heißt, ordentlich
„gevögelt“ zu werden. Ihr sei das mit dem
verheirateten Enzo gelungen. Wenn sie
das nicht schaffe, sei ihr Leben nichts wert.
Ihre vermeintlich so fortschrittlichen El-
tern, die sie nicht einmal getauft haben,
solle sie sich genau anschauen, vieles sei
ganz anders, als es scheine.
Und tatsächlich: Die kultivierten, gemes-
senen Umgangsformen sind nur Fassade,
auf einmal geht alles den Bach runter. Zu
einem mysteriösen Band zwischen den ab-
gespaltenen Wurzeln der Herkunft und
Giovanna wird ein Armreif, der immer
wieder neue Konstellationen zum Vor-
schein bringt. Durch die schuldhaften
Verstrickungen der Erwachsenen verliert
das Mädchen ihre Kindheitsfreundinnen,
die Schwestern Angela und Ida. Sie wird
zur Eigenbrötlerin, in ihr herrscht ein „zer-
zauster Schmerz ohne Erlösung“. Etwas
verschiebt sich, als sie bei einem Kirchen-
besuch mit ihrer Tante einem Philosophie-
dozenten begegnet, der ihre Wissbegier
anfacht. Um Roberto willen liest sie das
Evangelium und diskutiert mit ihm über
Bußfertigkeit.

Wie in den anderen Ferrante-Romanen
entsteht eine klaustrophobisch-bedrän-
gende Atmosphäre, die in der vielschichti-
gen Psyche der Figuren ihren Ursprung hat
und einen Teil der Faszination ausmacht.
Zwar ist „Das verlogene Leben der Erwach-
senen“ längst nicht so schmissig wie die Te-
tralogie der „Genialen Freundin“, die mit
rasanten Kehrtwendungen, melodramati-
schen Momenten und Cliffhangern eine
Fülle von niederen Leserinneninstinkten
geweckt hatte, aber auch als sozialge-
schichtliches Panorama über die Bedingun-
gen der Peripherie packend gewesen war.
Dieses Mal ist das Personal überschau-
barer, der Rhythmus ruhiger. Die Dialoge
sind gewohnt prägnant, und die zweite
Hälfte von „Das verlogene Leben der Er-
wachsenen“ gewinnt dann eine interessan-
te Dynamik, was mit der Ambivalenz
Giovannas und dem Sujet der Gewalt zu-
sammenhängt. Dieses Wilde, das in der Ur-
sprungsfamilie des Vaters offener zutage
tritt und eben auch in der Sexualität eine
Rolle spielt, ist unheimlich und überwälti-
gend zugleich. Während die Sprache eher
eindimensional bleibt, verfängt das Motiv-
gewebe der Spiegelungen und Täuschun-
gen. Die neue Fähigkeit zur Lüge verleiht
Giovanna eine nie gekannte Freiheit.
Bei Ferrante muss man den Kontext des
Gesamtwerks und auch die Inszenierung
mitdenken. Setzt die immer noch aus dem
Verborgenen schreibende Stimme wirk-
lich nur Genealogien weiblichen Erzählens
fort, die von Matilde Serao, Sibilla Alera-
mo, Elsa Morante und Annamaria Ortese
bis zur Gegenwart reichen? Geht es um
Selbstermächtigung oder handelt es sich
nicht vielmehr um einen äußerst schillern-
den, groß angelegten Versuch über die
Bedingungen von Fiktion?
Die Mutter der Heldin, die in ihrer ge-
beugten, unterwürfigen Art am schlechtes-
ten wegkommt, korrigiert im Nebenberuf
für einen Verlag Heftchenromane. Sie
schreibe sie häufig völlig um, betont Gio-
vanna drei Mal. Diese Nella müsste im
selben Alter wie die Ich-Erzählerin Lenù
der Neapel-Serie der „Genialen Freundin“
sein. Viele hatten sich über die kitschigen
Buchumschläge der Reihe, die bewusst auf
ein weibliches Lesepublikum abzuzielen
schienen, gewundert. Es ist ein Spiel mit
lauter Masken.

Mit ihrem Start haben Nicolas Stemann
und Benjamin von Blomberg das Zürcher
Publikum umgarnt und begeistert. Der
Plan, die ersten Wochen ihrer gemeinsa-
men Intendanz mit acht bestehenden Re-
giearbeiten der acht Hausregisseurinnen
und -regisseure (einer davon ist Co-Inten-
dant Stemann selbst) zu bestreiten, ging
auf. Die Zürcher waren neugierig auf ihr
neues Theater, nahmen verwundert das
nun im LED-Licht gleißende Foyer der bür-
gerlichen Repräsentationsbühne, des Pfau-
en, hin, dem Anschein nach liefen nicht
einmal die alteingesessenen Abonnenten
davon, sondern wurden Teil eines deutlich
verjüngten, hippen, bunten Publikums.
Das wirkte schon alles wie die erfolgrei-
che Erprobung eines Stadttheaters der
Zukunft, und in diese Atmosphäre hinein
positionierte Christopher Rüping dann die
erste, echte Neuinszenierung am Schau-
spielhaus, im Pfauen. Es geht um Armut.
1939 beschrieb John Steinbeck in
seinem Roman „Früchte des Zorns“ die
Folgen der großen Depression. Im klima-
tisch harten Südwesten der USA verlieren

Kleinbauern ihren Landbesitz, machen
sich auf nach Kalifornien, verdingen sich
als unterbezahlte Erntehelfer, haben
kaum genug zu essen, um zu überleben.
Steinbeck schildert dies anhand der Fami-
lie Joad, im Kern Mutter, Sohn und Toch-
ter, um die herum weitere Familienmit-
glieder und Fremde kreisen, der Mann der
schwangeren Tochter macht sich davon,
ein Prediger, Jim Casy, taucht auf und wird
von Schlägern der Landbesitzer getötet.

Dieses große Elendstableau unterfüttert
Steinbeck mit einer mystisch anmutenden
Hoffnung auf Solidarität. Im Schlussbild
des Romans wie auch der Aufführung wird
geschildert, wie Rose, die Joad-Tochter,
nach ihrer Totgeburt einem verhungern-
den Landstreicher die Brust gibt.
Rüping nähert sich dem Stoff aus
großer Distanz. Weder will er Steinbecks
Roman als Sozialreportage auf die Bühne
bringen, noch so tun, als wäre dessen Spra-

che, dessen Ton heute von unmittelbarer
Treffsicherheit, was nichts an der paradig-
matischen Wucht der Geschichte ändert.
So stehen die drei Joads – Maja Beckmann
als Mutter, Nils Kahnwald als Sohn Tom
und Nadége Kanku als Rose – in schlich-
tem, schwarzblauem Gewand auf der Büh-
ne und tappen hinein in Steinbecks Text.
Dieser Vorgang thematisiert auch die Skep-
sis dreier in Zürich wohlbestallter Schau-
spieler, Armut so einfach runterspielen zu
können. Rüping inszeniert diese Annähe-
rung intellektuell sehr klug, aber bar jeder
Sinnlichkeit. Allein Beckmann, gerade mit
dem „Faust“-Preis als Schauspielerin ge-
kürt, hat als Mutter Joad mit deren hemds-
ärmeligen Optimismus tolle Momente.
Um die drei herum tobt die „Gucci-
Gang“, fünf in einen grellbunten Luxus-
markenverhau gehüllte Schauspieler, die
den Joads den Rest ihrer Würde nehmen.
Kotoe Karasawa singt von der Verheißung
Kaliforniens, zum Hohn werden Plastikpal-
men aufgeblasen und tragen die „Guccis“
die herrlichen Früchte, von denen die Jo-
ads nur träumen können. Benjamin Lillie

zerrt die Klima- und Elendsflüchtlinge in
eine improvisierte Talkshow, um ihnen
den Rest zu geben. In den besten Momen-
ten hat die Vorführung des krassen Zynis-
mus der Reichen beklemmende Kraft.
Wenn sie sich von der Meta-Theatertheo-
rie befreit. Am Ende ist sich Rüping mit
Steinbeck einig: „Deine Not ist das Abfall-
produkt von Menschen ohne Not.“
Wenige Tage später liefert Stemann
selbst seine erste Zürcher Neuinszenie-
rung ab. Was für ein Statement: Der Inten-
dant macht das Kinderstück, schrieb für
„Schneewittchen Beauty Queen“ zum
ersten Mal selbst einen Text, frei nach den
Brüdern Grimm, aber natürlich postdra-
matisch verschärft. Der Beginn knüpft
durchaus an Rüpings Inszenierung an: Der
Märchenonkel Lukas Vögler hat keine Lust
mehr, für einen lausigen Stundenlohn den
Kindern Märchen zu erzählen, er will ih-
nen die Wahrheit über die Welt verkünden.
Das klappt dann auf Umwegen auch sehr
gut, denn Märchen haben schon immer
einen dunklen Kern enthalten, und der
wird, obwohl ein Mordsspaß, freigelegt.

Stemann selbst macht mit zwei Kolle-
gen Musik, die manchmal klingt, als habe
eine Band nicht mitgekriegt, dass die Bar
bereits geschlossen hat, dann aber wieder
munter nach vorne geht. Dazu entwirft er
ein Märchen-Patchwork mit einem furcht-
los-emanzipatorischen Rotkäppchen (Hen-
ni Jörissen) und einem Schneewittchen (Gi-
orgina Hämmerli), das die Zwerge zur
Hausarbeit animiert. Der Jäger kann keine
Tiere töten, der herrliche Kay Kysela spielt
auch den Spiegel, der immer wahr spre-
chen muss. Der König ist selten da, weil er
daran arbeitet, wie er „die armen Men-
schen noch ärmer und die Umwelt noch
dreckiger machen kann“, damit er der
reichste Mensch der Welt wird. In der
Pause gibt es „vegane Äpfel“, und am Ende
rettet die Königin den Märchenwald vor
des Königs Neubauprojekt mit all dem für
Schönheitsoperationen angesparten Geld,
die Tabita Johannes ohnehin nicht
braucht. Ein Ende wie im Märchen. Im De-
zember bringt Stemann die Erwachsenen-
version heraus; doch hier ist schon alles
drin. egbert tholl

„Zwei Jahre, bevor mein Vater uns verließ, sagte er zu meiner Mutter, dass ich


sehr hässlich sei. Der Satz wurde mit leiser Stimme ausgesprochen, in der Wohnung,


die meine Eltern, frisch verheiratet, im Rione Alto gekauft hatten, oberhalb von


San Giacomo dei Capri. Alles – Neapels Räume, das blaue Licht des eisigen Februars,


diese Worte – blieb stehen. Ich dagegen geriet ins Rutschen und gerate auch jetzt ins


Rutschen, in diesen Zeilen, die mir eine Geschichte geben wollen, wohingegen sie nichts sind,


nichts, das meines wäre, nichts, was tatsächlich begonnen oder zu irgendeinem


Schluss geführt hätte: nur ein Durcheinander, von dem niemand, nicht einmal derjenige,


der in diesem Moment schreibt, weiß, ob es den passenden Faden einer


Erzählung aufnimmt oder nur ein zerzauster Schmerz ist, ohne Erlösung.“


Mariss Jansons, der Chefdirigent des Sym-
phonieorchesters des Bayerischen Rund-
funks (BRSO), musste am Samstagabend
seine Teilnahme an einem Konzert in der
New Yorker Carnegie Hall absagen. Grund
dafür waren gesundheitliche Probleme,
wie das BRSO mitteilte. Beim letzten Tour-
neeauftritt des Jahres wurde der 76 Jahre
alte Lette kurzfristig vom russischen Diri-
genten Vasily Petrenko vertreten. Wie das
KlassikportalNew York Classical Review
berichtet, sei Jansons am Freitagabend
während des ersten der beiden BRSO-Kon-
zerte in der Carnegie Hall sichtlich er-
schöpft gewesen und habe seine Arme nur
unter Schwierigkeiten auf Höhe der Parti-
tur heben können. Der Beginn der zweiten
Konzerthälfte habe sich daraufhin um et-
wa zwanzig Minuten verzögert.
Schon in der vergangenen Woche hatte
sich Jansons, der das BRSO seit 2003 leitet,
bei drei Konzerten von seinem britischen
Kollegen Daniel Harding vertreten lassen.
Im Sommer musste Jansons gemäß ärztli-
cher Weisung auf die Teilnahme an den
Salzburger Festspielen und den BBC
Proms verzichten. Er habe von Juni bis Au-
gust eine „Regenerationspause“ eingelegt,
so das BRSO. Laut dessen Website soll der
Dirigent, der seinen Vertrag erst im vergan-
genen Jahr bis 2024 verlängert hat, Anfang
2020 wieder auf der internationalen Büh-
ne stehen. Am 17. Januar dirigiert er das SZ-
Benefizkonzert des BRSO mit dem Pianis-
ten Igor Levit in München. Danach ist eine
kurze Tournee in Spanien vorgesehen. Jan-
sons’ erneuter Krankheitsfall dürfte aber
die seit einiger Zeit geführten Diskussio-
nen weiter anfachen. Dabei geht es um die
Frage, ob der Dirigent den Strapazen sei-
ner Ämter noch gewachsen ist. diec

Elena Ferrante : La vita
bugiarda degli adulti.
Edizioni E/O, Rom 2019,
336 Seiten, 19 Euro.
Die deutsche Ausgabe soll
im Herbst 2020 im Suhr-
kamp Verlag erscheinen.

Neues aus Neapel


Gerade eben kam Elena Ferrantes jüngster Roman „Das verlogene


Leben der Erwachsenen“ in die italienischen Buchhandlungen.


Die Veröffentlichung ist eine gigantische Inszenierung


Der Anfang des Romans. Aus dem Italienischen von Maike Albath

Sollten noch Zweifel daran bestanden ha-
ben, dass nicht auch Spotify, das sich gerne
als Kraft des Guten darstellt, alle Möglich-
keiten nutzt, um Geld zu verdienen, kann
man sie jetzt ausräumen. Der schwedische
Musikstreaming-Dienst hat soeben verlau-
ten lassen, dass es Plattenfirmen und ande-
ren Unternehmen der Musikindustrie bald
möglich sein wird, dafür zu bezahlen, dass
Künstler gezielt vorgeschlagen werden.
Konkret bedeutet das, dass beim Spotify-
Nutzer eine sogenannte „Brand New Music
For You“-Pop-up-Anzeige erscheinen
wird. Ähnliches gibt es bislang schon im
Fall neuer Veröffentlichungen von Künst-
lern, die ein Nutzer besonders häufig hört.
In Zukunft wird diese Pop-up-Info aber ei-
ne Information sein, für die Spotify Geld
bezahlt wurde. Nur Premium-Kunden wer-
den die Möglichkeit haben, die gekauften
Empfehlungen dauerhaft auszuschalten.
Spotify möchte auf diesem Weg seine Wer-
beeinnahmen erhöhen, die bislang gerade
einmal knapp zehn Prozent der jährlichen
Einnahmen von rund 1,67 Milliarden Euro
ausmachen. Für die kleineren Künstler
und Labels bedeutet es, dass es für sie bei
Spotify noch schwieriger, ihr Publikum zu
erreichen. Oder sehr teuer. crab

DEFGH Nr. 261, Dienstag, 12. November 2019 9


Spieglein, Spieglein an der Wand, wer sind die Ärmsten im ganzen Land?


Christopher Rüping inszeniert am Schauspielhaus Zürich John Steinbecks „Früchte des Zorns“, Hausherr Nicolas Stemann das Märchen „Schneewittchen“


Dieses Mal ist das
Personal überschaubarer,
der Rhythmus ruhiger

Feuilleton
Mag man Paul Gauguins
Südsee-Mädchen noch sehen?
Eine Schau in London 11

Literatur
Ein Studiobesuch bei dem
großartigen Illustrator
Nikolaus Heidelbach 12

Wissen
Egal wie oft, egal wie schnell:
Selbst in geringer Dosis hilft
Bewegung der Gesundheit 14

 http://www.sz.de/kultur

Abgesagt


Dirigent Mariss Jansons
ist wieder erkrankt

Spotify wird


noch käuflicher


Um die Arbeiterfamilie Joad
herum tobt die „Gucci-Gang“

Für das „Time Magazine“ ist sie
eine der hundert einflussreichsten
Persönlichkeiten der Welt

FEUILLETON


Im Märchen-Patchwork „Schneewittchen
Beauty Queen“ spielt auch Rotkäppchen
(Henni Jörissen) mit. FOTO: ZOÉ AUBRY

FOTO: DAVID ALAN HARVEY/MAGNUM PHOTO/AGENTUR FOCUS

HEUTE


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