Frankfurter Allgemeine Zeitung - 12.11.2019

(Michael S) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Medien DIENSTAG, 12.NOVEMBER 2019·NR.263·SEITE 13


I


nRusslandliegt dieZahl der Men-
schen, die sichpolitischeVerände-
rungen wünschen,bei beinahe
sechzig Prozent, und die Moskauer Pro-
zessegegen friedliche Demonstranten
fürehrlicheWahlen,vondenen elfvor
Gerichtstehenund sieben zu Haftstra-
fenverur teilt wurden,verstärk en insbe-
sondere beider Jugendund derGroß-
stadtintelligenzija Aversionen gegen
dasRegime. Daswar Anlassgenug,
am 7.November, dem25. Oktober
nac hdem altenKalender,der von
Kommunisten nochimmerals Tagdes
Oktoberumsturzesgefe iertwird, im
russischenStaatsfernseheneinenWie-
dergängervonWladimir Leninauft re-
tenzulassen, umvorden schlimmen
FolgenrevolutionärerUmbrüche zu
warnen.Das Format warzeitgemäß
ironischund glamourös. DieFernseh-
moderatorinXeniaSobtschak,die als
PatentochtervonWladimirPutin gilt
undimletzten Präsidentschaftswahl-
kampf symbolischgegen ihn antrat,
traf sichmit de mals Lenin hergerichte-
tenFilmschauspieler JewgeniStytsch-
kinimStudiovonTV-3zum Interview.
XeniaSobtschak, die eineWeilemit
derOppositionliebäugelte, Affären
mit Oppositionspolitikern inbegriffen,
haterstunlängstinden Schoß der Sys-
temloyalen und damit auchzum Staats-
fernsehen zurückge funden.Justdaim
Herbstdie Moskauergeg en Wahlfäl-
schungauf dieStraße gingen, beging
Sobtschak ihreHochzeit mitdem Thea-
terregisseur Konstantin Bogomolow
alsopulentes Ritual,zuder dieBraut-
leut eauf einemKatafalk angefahren
kamen und dasdie Neuvermähltemit
ein em Tanz krönte, bei demsie si ch
voneiner Nonne in eineStripperin ver-
wandelte. Das Fest,das neben Promis
ausdem ShowbusinessauchPutins
Pressesp recher DmitriPeskowbegeis-
terte, empfahlSobtschakals ideale
Gast geberinfür dunkleMäch te,wie
sieMichail BulgakowinseinemRo-
man „Der Meisterund Margarita“ be-
sang. Beiihrem Tête-à-têtemit Lenin,
derimkonservativen Dreiteiler auf-
trat ,sie höflichmit Vor- und Vatersna-
men ansprachund Textpassagenaus
seinengesammeltenWerken vortrug,
erkl ärte sie sichals entschiedeneRevo-
lutionsgegnerin. Nach Exkursen über
sein geruhsames LebeninEurop awoll-
te sie wissen,warumerRussland,wo
er dasSklaventu mund denversklaven-
denStaat ausrotten wollte,mit Terror-
wellen überzogen habe,woraufihr Ge-
genübererwiderte, ersei dazugezwun-
genworden.Und warumhabe er sich
beiseinemUmsturzwerk vomAusland
finanzierenlassen, fragteSobtschak,
dieden „Spiegel“mit einer Berech-
nung zitierte, wonach derdeutsche
Staat im Ersten Weltkrieg an die Bol-
schewikenumgerechnet 75 Millionen
Eurogezahlt habe.Der Lenin-Darstel-
ler weistdas als Lüge zurü ck,sodass
Sobtschak,alleFaktenverdrehend, lä-
chelndsuggerieren konnte: Werin
Russland heuteeinenRegimewechsel
erhofft,befürwortet Gewalt und ist
vomAuslandgekauft.

DiesenFall solltendie DetectivesRobRi-
ley(Killian Scott) undCassie Maddox
(Sar ah Greene) nichtübernehmen.Un-
terkeinenUmständen,wie Cassieihren
KollegenRobbeschwört.Wennihr Chef
O’Kelly(Conleth Hill)vonRobsGe-
schichteerfährt,könnenbeideihreZu-
kunftbei de r„Dublin Murder Squad“, der
Kriminalstellefür Tötungsverbrechen,
vergessen undStrafzettel schreiben.
Im Wald bei Knocknaree wurde auf ei-
nem Altar auskeltischerFrühzeit dieLei-
cheder dreizehnjährigenKaty entdeckt.
Die Archäologen, die Funde sichernwoll-
ten, bevordie al tenBäume für eineneue
Landstraßeabgeholztwerden, sind ner-
vös. Der Bauunternehmer,der überall
Landkauftund über einHeer vonBau-
kränen in den Dubliner „Docksides“ge-
bietet, wo glasglitzernde Luxusappart-
ments entstehen, willlieber heuteals
morgendie Planierraupen schicken. Aber
das öffentlicheInteresse an demFall ist
groß. Nicht nur,weil dastote ,feenhafte
Mädchengerade an derRoyal Ballet
School in London angenommen wurde,
sondern weil imAugust1985 im selben
Wald drei Kinderverschwanden,vonde-
nen nur eines,Adam, traumatisiert mit
blutbeschmiertenFüßen und zerschnitte-
nemT-Shirtgefunden wurde.
Jetzt, im Sommer 2006, zur Hochzeit
des EU-subventionierten Finanzbooms,
in denen der „keltischeTiger“ als Erfolgs-
modell der EuropäischenUnion gefeiert
wird, sind die damaligenErmittlerver-
storben, aber ihreProtokolle und unaus-
gewerteteBeweise existieren noch.Und
die Gedächtnisse vieler.Die meisten
schweigen, wie die vier Jugendlichen,
nun Erwachsenen, die 1985 als Letzte
die Kinder sahen. Einerdavon istKatys
Vater.Ein Jahr später heirateteerseine
Frau, die die Gruppe im Kinogesehen ha-
ben wollte. Sie hat es nun „mitden Ner-
ven“. Rosalind(Leah McNamara), die äl-
testeTochter,wirkt seltsam;KatysZwil-
ling hat, euphemistischausgedrückt,

ernsthafteLernschwierigkeiten. DerVa-
terdes vermissten Petererhängtesich
zehnJahredanachimWald; die Mutter
vonJamie, dem einzigenverschwunde-
nen Mädchen,ist unzurechnungsfähigge-
worden. Adam selbstwurde beiNacht
und Nebelvonseinen Elterninein engli-
sches Internatgebracht undgabsich ei-
nen neuenNamen–Rob. Nun arbeiteter
als vermeintlichbritischerKollegebei
der irischenPolizei.Den irischenZun-
genschlag hat sichRobabtrainiert.
Auch Cassie hat einezweiteIdentität.
GleichzuBeginnder Serie „DublinMur-
ders“, die Sarah Phelpskongenial nach
denersten beidenRomanenvonTana
French, „Grabesgrün“und „Totengleich“,
in ein beide Geschichten verwickelndes
Drehbuchübertragen hat, sagt sievorGe-
richtgegen einenVerbrecher aus. AlsUn-
dercover-Agentin Lexiesammelte sie zu-
vorein Jahr lang Indizien,gabdie Freun-

din desVerdächtigen. Siekam knappmit
dem Leben davon. Ihr ehemaliger Einsatz-
leiter spioniert ihr nach,dennLexie
scheintwieder da zu sein.Undliegtbald
erstochen in einerRuine–eine andere
Frau,Cassie wieaus demGesichtge-
schnitten.
Acht einstündigeFolgenlang ver-
schränkt Phelps in derKoproduktion, die
vonStarzplay als „Original-Serie“gezeigt
wird, abervonder BBCkoproduziert wur-
de, Robs und CassiesRecherchen in ein
exzellentdicht erzähltes, atmosphärisch
weit ausgreifendes Thrillerdrama. Killian
Scott undSarah Greenespielendie bei-
den Traumatisierten, die nurbeieinander
Nähe finden,brillant .Pädophilie spielt
eine Rolle, Geschichteund Geschichtsver-
lust, Erinnerung und Identität. Bleiern
hängt in denRückblenden dieBigotterie
in den Gardinenfalten ehrbarer Häuser.
Viele Szenen erzählen mehrereMentali-
tätsgeschichtengleichzeitig, so wie dieTo-
tenwache amweißen SargKatys im be-
engtenWohnzimmer der Familie, das
vomunbedingten Bemühen umRespekta-
bilität zeugt.„DublinMurders“ istimmer
schon da,wodie kürzlichausgestrahlte
deutsche Produktion „Der Irland-Krimi“
erst nochhin will.Die irisch-britischeSe-
riegräbt psychologischtief durch ihre Bil-
der hindurch,mutet demPublikum Schre-
ckenstableausohnetelegeneAbmilderun-
genzuund suchtnicht dasschön wilde,
sondern eherihr verhasst borniertesIr-
land-Bild (Hauptregie Saul Dibb).
Statt EU-Erfolgsgeschichtezeigt
Frenchinder Anthologie-Reihe „Dublin
Murder Squad“ dieVerlierer desWirt-
schaftsbooms und seinerFolgen. In der
nächstenStaffelwirdein anderer Ermitt-
ler in den Blickpunkt rücken. Dassdie
erstenachtFolgenvorallem inNordir-
landgedreht wurdenstatt in derRepu-
blik,ist eine ironischeFußnote für das
Brexit-Tagebuch. HEIKEHUPERTZ

Dublin Murders–nachTaraFrenchläuft
aufdem AbokanalStarzplay beiAmazonPrime.

Revol utionärin


VonKerstin Holm


Irland sehen und schaudern


In „Dublin Murders“ wirft ein Fall zwei Ermittler auf ihreeigene Kindheit zurück


Im „PhilosophischenWörterbuch“ wird
unterdem Stichwort„Hass“ aufdie „Lie-
be“verwiesen:„VerdrängteLiebe“könne
„nac hder Tiefenpsychologie inihr Gegen-
teil, in Hassumschla gen“, der als „bis zur
LeidenschaftgesteigertenAbneigung“ de-
finier twird. SowaresimJahr 1982 zu le-
sen.VonHassals Triebfederpolitischer
undgesellschaftlicher Entwicklungen
warnicht dieRede.Das hatsichinzwi-
schengeändert:Der Hass, und dasheißt
immer seine Bekämpfung, prägt die politi-
sche Debatte in denwestlichenDemokra-
tien. In„Warum wirhassen“versuchen
GeetaGandbhirund SamPollar ddiese
menschlicheRegung zuverstehen. Die
beidenersten Folgen der sechsteiligen,
vonStevenSpielbergund Alex Gibney
prod uziertenDokumentationliefen
schon am Sonntag auf ZDFinfo.
Um welchenWiderspruchdes Mensch-
lichen esgeht,wirdschon im ersten Satz
deutlich:Wirhätten,heißt es da,„die ein-
zigartigeFähigkeit zu lieben, aber wir han-
deln auchgrausam undvollerHass“. In
derFolge, die das ZDF-Hauptprogramm
heut eAbend zeigt,geht es um dasevolu-
tionäre Erbe desMenschen, das ihnvon
anderen Primaten unterscheidet. Dassun-
sere Grundausstattungjener der aggressi-
venSchimpansengleicht und nichtjener
derfriedlichen Bonobos, gilt unter An-
thropologen alsgesicherte Erkenntnis.
Nichtzuletzt deshalb operiertder Mensch

bis heute in der LogikvonStämmen.
Loyalität und Solidarität gilt zuerst der ei-
genen Gruppe.Inder Dokumentation
konkretisier tsich,wasdas Wörterbuch
abstrakt mit einemZitat des Empidokles
formulierte:Hassund Liebe als „bewir-
kende Kräfte derWeltentwicklung“.Die
Erkenntnisse der Neurowissenschaften
dazu faszinieren dieAutoren sehr,wes-
halb sie„Weltentwicklung“aus derPer-
spektive vonAnthropologen,Neurowis-
senschaftle rn und Psychologen beschrei-
ben. Das bestimmtden Blickauf Themen
wie „Propaganda“, „Extremismus“oder
„Völkermord“, so dieTiteldreier Folgen.
Dochwas sagt uns das über die zuneh-
mendePolarisierung nicht nur in den
VereinigtenStaaten? Hilftesuns weiter,
zu wissen,welche Spuren Hassinunse-
renGehirnen hinterlässt?Skepsis gegen-
über den Einsichten derWissenschaft
kommt in den vierStunden nurverein-
zelt zumAusdruck. Etwawenn erklärt
wird,warumMobbing in denVereinig-
tenStaaten nicht mehr bloß als unver-
meidlicher „Initiationsritus“ unter Kin-
dernund Jugendlichen definiertwird:
Weil am EndetatsächlichMordund Tot-
schlagstehen. Oderwenn die Beobach-
tung mitgeteilt wird, der Hasswerde zu
einer Bedrohung für die Institutionen in
der amerikanischenPolitik.
Über die Gründe dafürkönnen uns
weder Hirnforscher nochAnthropolo-

genetwas sagen.Wirunterscheiden uns
schließlichvon Schimpansen und Bono-
bos durch unsereFähigkeit, den Begriff
des Primaten überhauptzudefinieren.
Undwir erfindenkomplexe Institutio-
nen, um unsereKonfliktezuregeln. Die
digitalisiertenMediensystemevonheute
wiederum sprechen unserearchaischen
Dispositionen an und überwölben unse-
re Institutionen (siehe nebenstehenden
Text). ImNetz wirdnachBestätigung
vonVorur teilengesucht.Das kann zur
sozialenÄchtung Einzelner undganzer
Gruppen führen. Die Entmenschlichung
des Artgenossenwarschon immerVor-
aussetzung desVölkermords, ob in NS-
Deutschland, Ruanda oder inKambo-
dscha. Selbstdie Bekämpfung des Has-
ses unterliegt bisweilen derselbenfata-
len Stammeslogik: Hassen tun in mani-
chäischenWeltbildernimmernur die an-
deren. Mit Hassist Hass abernicht zu be-
kämpfen.Diese Serie istzuempfehlen,
miteiner Einschränkung: Nicht–nur –
der Hassist unser Problem, es istdie zu-
nehmendeUnfähigkeit unserer Institu-
tionen,Konfliktezuregeln. Dazu erfah-
renwir aus den Bildernüber unsere
Hirnaktivitäten nichts, auchnichtvon
Steven Spielberg. FRANKLÜBBERDING

Warumwir hassen–Extremismus,heute
um 20.15 Uhr im ZDF und um 22.30 Uhr bei
ZDFinfo. DortlaufenweiterenFolgen am Mitt-
woch,kommenden Montag und Dienstag.

Hass im Zaum zu halten,stellt sichals zivilisatorischeAufgabe imNetzzeitalter auf neueWeise. FotoPictureAlliance


B


undesjustizministerin Christine
Lambrechthat in dieserZeitung
(F.A.Z.vom4.November) erläu-
tert,wie die Bundesregierung
sicheine Reform des Netzwerkdurchset-
zungsgesetzesvorstellt.UmBeleidigung,
Hassrede undVolksverhetzung Einhalt zu
gebieten, sollen sozialeNetzwerke künftig
Hass undHetze anStaatsanwaltschaften
un dPolizei melden, auch wenn niemand
anderes dieVerfehlungen angezeigt hat.So-
zialeNetzwerkesollenalsoinihrenPlattfor-
menselbst„aufStreif e“ gehen, ihreNutzer
kontrollieren undBeiträgeauf strafrechtli-
cheRelevanz prüfenund anzeigen.
Wasnach Ereignissen wie demrechts ter-
roristischmotivierten Mord an Walter Lüb-
ckeund dem Angriff auf die Synagoge in
Halleverständlich erscheint, istbei genaue-
remHinsehen leiderwenig praktikabel und
greiftzukurz.Staatsanwälte undPolizei
sindmit dem Phänomenvon Hass und Het-
ze imNetz zurzeit so überlastet,dassinein-
zelnenBundesländernkaumnochErmitt-
lungengegenPersönlichkeitsrechtsverlet-
zungenaufgenommenwerden.Nun sollen
vierhundertneueStellenbeim Bundeskri-
minalamtAbhilfeschaffen. VieleErmitt-
lungenzuBeleidigungen undHassrede im
Netz werden halbherziggeführ toder ver-
laufenimSande,wasein Grundfür niedri-
ge Anzeigeratenist.Esist zu bezweifeln,
dasssozialeNetzwer ke großeAnstrengun-
genunternehmen, Hass und Hetzezu mel-
den,wenn dasnicht einmal die eigenen
Nutzer tun,zumal die Prüfung juristisch
Sachkundigeleistenmüssen.
Wichtig wäre es jetzt,zufragen, welche
Regulierungder Plattformen effizienter
seinkönnt eund warumsichHassund Het-
ze gerade online so deutlich manifestieren.
DieJustizministerin meint, sozialeNetze
seien nicht dasProblem, aber dasInternet
diene alsBrandbeschleuniger fürHass, der
zu Gewalttaten führe. Genau dasGegen teil
istder Fall: Das Internet selbst istnicht das
Problem, es sindNetzwer ke wie Instagram,
Twitter oderFacebook,deren Empfehlungs-
algorithmen als Brandbeschleuniger für
Hass undHetze wirken. Sie belohnen Bei-
träg emit großerReichweite, also auchsol-
che, die populistischoder provozierend
sind. Dassorgt aufder Plattformfür Bewe-
gung undmotiviert andere, es denlaut Tö-
nendengleichzutun, um den nächstenZu-
stimmungs-oder Provokationstsunami zu
erzeugen. Beiträge, dievielZustimmung
oderReaktion erzeugen, sind für die Platt-
formen bares Geldwert.Sie übertönen Bei-
träge, die ambivalent sind,moderatge-
schriebenoder vielZeit zum Lesen benöti-
gen. Einen Dislike-Button gibtesnachwie
vornicht, aufkeinenFall soll sich ein Nut-
zer wegeneinesPosts zurückgesetz tfühlen.
Das Schlimmste,waseinemNutzerpassie-
renkann,ist,nicht beachtet zu werden.
Dann muss halt beim nächstenMalein Bei-
trag mehrzugespitztwerden.Esentsteht
eineRückkopplungsschleife aus populisti-
schen oder provokanten Beiträgen, die
dann auchindividuell mitnochmehr Reich-
weitebelohntwerden, wenn sie ohnehin er-
folgreichsind. Nutzer,die dieses Prinzip be-
herrschen,werden erfolgreiche Kanäleha-
ben. Die Meister dieserDisziplinwerden
oftprofessionelleYoutube-Stars.
DasEmpfehlungsprinzip funktioniert
bei 98Proz ent aller Inhaltehervorragend.
Es istder Grund,weswegenKatzenbilder
oder simple Entertainmentinhalte unsere
Newsfeeds undTimelines dominieren.Für
politische Meinungsäußerungen lässtes
sichselbstverständlichebenfallseinsetzen.
Dieser Effekt der Algorithmenhat dazuge-
führt,dassder HassimNetzallgegenwärtig
geworden is tund vielfachals „normal“hin-
genommen wird.Dassder politische
RechtsruckinvielenStaaten derWelt von
Parteien ausgeht, dievorallem im Internet
ihrenWahlkampf betreiben, istkein Zufall.
Der Rechtsruckist auchinternetgemacht.
Aber können diese Algorithmentatsäch-
lichsowirkmächtig sein, dass sie andere
Medien derartüberlagern? Im „Medienviel-
faltsmonitor“, einerLangzeitstudie der
deutschenLandesmedienanstalten, hatdas
Internetbereits 2018 alleanderen Medien-
gattungen in Sachen Meinungsbildungsrele-
vanz überholt, zuletzt sogar dasFernsehen.
Anstelle neutraler Medien,die eine Ge-
samtgesellschaft ansprechen,tritt die indi-
vidualisierte Ansprache aufKanälen,die
genauauf unsere Bedürfnisse zugeschnit-
tenist.Populismus schlägt so Objektivität,
die Sensation schlägtdie Gelassenheit.
Undinden dunklenEckender sozialenMe-
dienfindenAbgehängte undUnzufriedene
zusammen und geben sichdem Trug-
schlusshin, sieseien die demokratische
Mehrheit.Das verschafft auch denRän-
dernden Eindruck, repräsentativzusein.

Diesegesells chaftli cheSpaltung lässt sich
nichtdurch mehrStrafanzeigenund mehr
Ermittlungenauflösen.
DasNetzwerkdurchsetzungsgesetz, das
2017 entstand, um HassimNetzzube-
kämpfen, verfolgt einwichtiges Ziel, aber
es greiftzukurz. Zwar istestendenziell
richtig, die Unterregulation dergroßen
Plattformenaufzugreifen.Seit 2017muss
Facebook zum Beispielpersönlichkeits-
rechts verletzendeKommentareprüfenund
die strafbaren schnelllöschen, einePrü-
fung, die nurMenschenvornehmenkön-
nenund diefür diePlattformmit modera-
tenKosten verbundenist.Das istein
Schrittindie richtigeRichtung,aber es
wird übersehen,dassmit dem Löschenvon
Postingskeine Selbstre gulationder Nutzer
erfolgt.Gesetze sollen jedochNormen
transportieren.Die zu lernendeNorm des
Netzwerkdurchsetzungsgesetzesist leider:
HetzerkommenimNetzinder Regelunge-
schoren davon, übleKommentare können,
sprachlichleichtverändert, abermalsgepos-
tetwerden.Inden wenigs tenFällenkommt
es zu einer Ermittlung, die einen hohen be-
hördliche nAufwand nachsich zieht.
Sinnvollerwäre ein Gesetz, das sowohl
die Selbstregulierung der Plattformen als
auchdie derNutzerverbessert. Daz umüs-
sen Plattformen und rechtsverletzende
Nutzereine verstärkte Mitverantwortung
für vonihnenverursachten Hassund Het-
ze in sozialenMedien zugewiesen bekom-
men.Unddazu wiederum mussman die
weitgehende Anonymität der Nutzer auf
solchen Plattformen kritischhinterfragen.
Die Beiträgeeines Nutzersreichen in den
öffentlichenRaum hinein, siekönnen die
Freiheit und dieRechteanderertangieren.
Die HandlungenvonNutzernauf Strea-
mingplattformen und sozialen Medienlas-
sen sichmit einemStraßenverkehr verglei-
chen, in dem nichtnur Fußgänger undRad-
fahrer ,sondernalleTeilnehmer ohne
Kennzeichen unterwegs sind und in dem
sichkeine Verkehrssicherheit einstellt,
weil Verstöße kaum geahndetwerden.Fol-
genwir der JustizministerinChristine
Lambrecht, sollen nun dieAutohersteller
die Verstöße ihrerFahrer an die Behörden
melden (was übrigens in einigenchinesi-
schen SmartCarsbitter eRealitätist).
Besserwäre eine Regulierung, bei der
im Normalfall eine „Pseudonymität“ der
Nutzergewährleistetsein muss, so dasssie
nicht auf den ersten Blickerkennbar sind,
eventuelle Persönlichkeitsverletzungen
aber auchzivilrechtlichverfolgt werden
können. Hierzu sollten Nutzer auf sozialen
Plattformen wirksam verifizier tsein. Der
Klarname istnicht erforderlich,wohl aber
eine Pseudonymität, bei der nur die Platt-
form oder eineanderedritteStelle sicher
weiß, wersichdahinterverbirgt.Kann
oder will die Plattform eine solcheVerifi-
zierbarkeit nicht leisten, wasauchweiter-
hin eine Option bleiben muss, so haftetsie
selbstgegenweiter gehende Ansprüche für
die Kommunikation ihrer Nutzer.Darüber
hinaus mussdie Plattformeine Beschwer-
de schnell und durch einen Menschen prü-
fenlassen, umfestzustellen, ob diese be-
gründetist.Wennja, kann die Plattform
oder einedritteStelle die Identitätdes
Rechtsverletzersenthüllen, aber nur dem
Beschwerdeführer oder der Ermittlungsbe-
hördegegenüber.Sotrügen die Plattfor-
men dieKosten für dengesellschaftlichen
Schaden, den ihreEmpfehlungsalgorith-
men anrichten. Das istder bessereAnreiz
für die sozialen Medien,ihreAlgorithmen
so zu überarbeiten,dass weniger Beschwer-
den anfallen undweniger Hassrede ent-
steht.Die sozialen Medien haben es selbst
in der Hand, denTrend zu Hetzeund Ge-
reiztheit umzukehren.

G

leichzeitig wüssten verifizierte
Nutzer,dasssie fürrechtsver-
letzende öffentliche Postings
belangtwerden können, eine
Voraussetzung für Selbstkontrolle. Hier
könnteeine zivilrechtlicheVerfolgungs-
optionStaatsanwaltschaftenund Polizei-
behörden empfindlichentlastenund
Rechtsverletzer treffen, wo es ihnen am
ehestenweh tun dürfte: in ihremPorte-
monnaie. Über eine Persönlichkeits-
rechtsverletzung hinausgehende Delikte,
wie etwa Volksverhetzung, würdenweiter-
hin vonder Staatsanwaltschaftverfolgt.
Die Artund Weise, wie wir im Internet
Haftungslücken zugelassen haben, erlaub-
te es nicht nurgroßen Plattformen wie
Facebook undYoutube,ins Unermessliche
zu wachsen, sie unterscheidetsichaucher-
heblichvon unsererrealenWelt.Dortha-
ben wir zum Beispiel das Presserecht, das
die Verant wortungfür PubliziertesRedak-
teuren oder den im Impressumgenannten
Verantwortlichen zuweist.
Wirmüssen uns allmählichder Erkennt-
nis stellen, dassdas Experiment einerflä-
chendeckenden Anonymität imNetz als
gescheitertzubetrachtenist,wenn es den
öffentlichenRaum sotangiert, wie es so-
ziale Medien undStreaming-Plattformen
tun. Das zeigen auchdie Auswüchse ano-
nymerForenwie „4chan“ und „8chan“,
die zu einem Schmelztiegel fürrassisti-
sche, frauenfeindliche und pornographi-
sche Aktivitäten wurden, und in dem sich
spätere Gewalttäterradikalisierten. Diese
Entwicklung ließesichdurch eineverbind-
lichvorgeschriebene,gesicherte Pseudo-
nymität sehrwahrscheinlicheindämmen.
Wielangewollenwir nochwarten?

Der Netzpolitik-ExperteStefan Herwighat in
EssenKommunikationswissenschaftstudiert. Er
berätUnte rnehmenund Politik zu Themen wie
Digitalisierung und Datenschutz.

Die deutscheJournalistin Souad Mek-
hennetwirdvom Simon-Wiesenthal-
Zentrum mit dem „InternationalLea-
dershipAward“ ausgezeichnet. Damit
würdigeman unter anderemihreBe-
richterstattung über denArabischen
Frühling und über islamistischenTerro-
rismus. Souad Mekhennetsei zudem
die erstePersönlichkeit mit muslimi-
schenWurzeln, die einezentrale Rolle
bei derSuche nacheinem NS-Kriegs-
verbrechergespielt habe.Die vielfach
preisgekrönteJournalistin hatterecher-
chiert, dassder 1992verstorbeneSS-
Arzt AribertHeim nach Kairogeflo-
hen war, wo er alsTarekHusseinFarid
unterfalschemNamen lebte. Heim hat-
te im Konzentrationslager Mauthau-
sen Häftlingegequält und ermordet.
DasSimon-Wiesenthal-Zentrum wür-
digte, dassMekhennetunter Lebensge-
fahr die Aktentasche Heimsaus Ägyp-
tengeschmuggelt habe. Mit den darin
enthaltenen Dokumentenhabe man
beweisenkönnen,dassessich beiFa-
ridtatsächlich um Heimhandelte. Sou-
ad Mekhennetsagte, der Holocaust-
Überlebende SimonWiesenthal habe
„unsgelehrt, dass es ohne die ehrliche
Aufarbeitungkeine gerechte und
menschliche Gesellschaftgeben
kann“. Sie begreife den Preis als An-
sporn, „weiterhin umfassend über die
Menschen zu berichten,die aus Hass
auf andere Menschengruppen zuTä-
tern werden“. DiegebürtigeFrankfur-
terin, die auch für dieseZeitungge-
schriebenhat,arbeit et heutefür die
„WashingtonPost“. F.A.Z.

Siespielen die beidenVorbelasteten: Sa-
rahGreeneund KillianScott FotoStarzplay

Gegenden Wolf im Menschen


Hat Steven SpielbergsDokudie Antwortauf dieFrage„Warumwir ha ssen“?


Machtsie

verantwortlich!

DieBu ndesregierung


will,dassPlattformen


Hass undHetze imNetz


künfti gselbs tanzeigen.


DaswirdStaatsanwälte


überlasten undgreiftzu


kurz:Wir müssen an die


Konzerne selbst heran.


VonStefanHerwig


Preis für Souad


Mekhennet

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