Die Zeit - 14.07.2019

(Jacob Rumans) #1
DIE ZEIT

WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR


PROTEST ZUKUNFT DER NATO

Der Bundespräsident warnt Klima-Aktivisten davor, die Demokratie


schlechtzureden. Er warnt die Falschen VON BERND ULRICH


Obwohl die Europäer den US-Präsidenten verachten, setzen sie in


der Sicherheitspolitik noch auf die alte Supermacht VON JOSEF JOFFE


Murmelnde Macht Trump im Ärmel


L


änger schon schwelt ein Thema, das
nun auch vom Bundespräsidenten
aufgegriffen und damit gewisserma-
ßen offiziell wurde. Es geht um die
Frage: Ist die Erderwärmung mit
demokratischen Mitteln zu stoppen?
Frank-Walter Steinmeier warnt in einem
Interview mit dem Tagesspiegel die jungen Leute
von Fridays for Future davor, die Demokratie
schlechtzureden: »Wir kommen nicht weiter,
wenn wir jede Woche apokalyptische Bedrohun-
gen beschreiben. (...) Denn Apokalypse lähmt!
Und – absichtlich oder nicht – dadurch werden
die Möglichkeiten der Demokratie immer klei-
ner geredet.« Will der Präsident damit unterstel-
len, relevante Kräfte in der Klimabewegung hät-
ten die Absicht, die Demokratie kleinzureden?
Richtig daran ist, dass die potenzielle Mons-
trosität der Klimakrise Menschen dazu verfüh-
ren kann, für sich selbst einen außergesetzlichen
Notstand zu reklamieren, mit dem Argument,
keine demokratische Mehrheit habe das Recht,
die Lebensgrundlagen aller zu zerstören. Das
scheint plausibel, ist aber eine Falle: Denn wenn
die einen den Notstand für sich reklamieren, wa-
rum sollten die anderen es nicht auch tun? Auf
diesem Weg kommt man in Teufels Küche.

Bei der Klimapolitik gilt das Prinzip:
Verschieben ist verschärfen

Weswegen ihn auch kaum ein Klima-Aktivist
beschreitet. Wenn hier eine Gefahr für die De-
mokratie lauert, dann geht sie weniger von einer
winzigen Minderheit unter den Klimabewegten
aus als von der herrschenden Politik. Womit wir
bei den Denkfehlern des Präsidenten wären:
Zunächst einmal wählt er den falschen Adres-
saten. Denn natürlich ist es die Aufgabe der
Regierenden, die Demokratie klimatauglich zu
gestalten, was ihnen ausweislich ihrer verfehlten
Klimaziele bisher misslang. Die Beweislast dafür,
dass die Demokratie ohne Naturzerstörung aus-
kommen kann, liegt bei der regierenden Politik.
Zudem: Steinmeier gehört seit zwanzig Jahren
zu den mächtigsten deutschen Politikern, folglich
sollte er sich als höchster Repräsentant des Staates
zuerst einmal bei den jungen Leuten für das –
auch von ihm – Versäumte entschuldigen. Zu-
mindest aber müsste er analysieren, was in dieser
Zeit beim Klima so gründlich falsch gelaufen ist
und wie dies nun gründlich geändert werden soll.

Hinzu kommt, dass Steinmeier – wie auch
der Autor dieser Zeilen – zu jener Babyboomer-
Generation gehört, die historisch den größten
CO₂-Abdruck aufweist. Die Kriegsgeneration
konnte noch nicht so viel verbrauchen, die Jün-
geren dürfen es nicht mehr. Vielleicht sollten wir
CO₂-Bonzen uns mit Mahnungen an andere
Generationen etwas zurückhalten.
Auch seine Warnung vor der lähmenden
Wirkung apokalyptischen Redens steht auf dem
Kopf. Schließlich ist es der Politik in den ver-
gangenen Jahrzehnten ganz gut gelungen, die
Brisanz der Klimakrise zu verdrängen; beispiels-
weise war es nie ein zentrales Wahlkampfthema.
Nicht Apokalyptik scheint das primäre Problem,
sondern systemische Apathie.
Es ist schon wahr: Wenn dauernd so dringlich
darüber gesprochen wird, wie die Lage dringlich
ist, dann können die Menschen es bald nicht mehr
hören, andererseits: Wer nie dramatisch spricht,
verfälscht die Wirklichkeit. So oder so ist auch die
Frage des Tons keine, die sich zuerst an die jungen
Leute richtet, sondern an jene, deren klimapoliti-
sches Murmeln in die Untätigkeit geführt hat: Wie
wollen wir reden, Herr Präsident?
Steinmeier beklagt, dass die Fähigkeit der
Demokratie zur Selbstkorrektur unterschätzt
werde. Damit verpasst er die Logik der Klimapoli-
tik. Denn wenn die Reduktionsziele in diesem Jahr
nicht eingehalten werden, dann kann man sie –
anders als bei anderen Fragen – ein Jahr später nicht
einfach korrigieren, vielmehr gilt: Was heute ver-
säumt wird, muss morgen doppelt erledigt werden.
Darum liegt die wahre Krux bei der Klima-
wende darin, dass ein »maßvolles« Tempo alsbald
zu maßlosem Druck führt – oder aber zu uner-
messlichen Schäden für das Klima, die Menschen
und für die Demokratie, die allzu viel Notstand
nicht gut verträgt. So unbequem das auch sein
mag, aber: Verschieben ist verschärfen.
Die überkommene Mitte-Politik wird durch
die Klimakrise, die sie selbst mit verursacht hat,
enorm gefordert, weil der Sache mit den alten
Methoden nicht beizukommen ist.
Die alte Mitte müsste nun lernen, vieles rasch
und grundlegend zu verändern, ohne dabei ihre
Mitte zu verlieren, sie müsste also neue Mitte
werden. Die Klimakrise bringt uns noch lange
nicht an die Grenzen der Demokratie. Nur an
die Grenzen unserer politischen Gewohnheiten.

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D


r. Macron bescheinigt der Nato
den »Hirntod«. Dr. Merkel
knurrt: Diese »Sichtweise ent-
spricht nicht meiner«. Mit
ihrer »zweiten Meinung« liegt
sie richtig, zumal das Konsilium
der Bündnispartner ihr beipflichtet. Die alte Dame
Nato (70) ist quicklebendig, was zwei Rätsel auf-
wirft. Erstens: Warum lebt sie überhaupt noch?
Denn Allianzen sterben, wenn sie siegen und so


  • wie nach dem Zerfall der Sow jet union 1991 –
    ihre Daseinsberechtigung verlieren.
    Zweitens: Warum macht Donald Trump sei-
    ne Drohungen nicht wahr? Seit Amtsantritt böl-
    lert der Wüterich etwa so: »Zahlt oder wir ziehen
    ab!« Tatsächlich aber hat Trump die US-Präsenz
    in Europa verstärkt, die Obama reduziert hatte.
    In der Nato-Übung »Trident Juncture 2018«
    waren 20.000 GIs dabei, um Kampfbereitschaft
    zu demonstrieren. Im kommenden Jahr will
    »Defender Europe 20« mit 20.000 US-Soldaten
    abermals Reaktionsfähigkeit beweisen.
    So agiert eine Supermacht nicht, die sich in
    der »Festung Amerika« einbunkern will. Die
    Logik ist simpel; es regiert nicht die Liebe zu
    Europa, sondern das Eigeninteresse. Wie seit eh
    und je denkt Amerika nicht daran, 500 Millio-
    nen Europäer und die zweitgrößte Wirtschaft
    der Welt in Putins Machtbereich abgleiten zu
    lassen. Der ist zwar kein Stalin, aber doch ein
    begnadeter Stratege, der jede Chance nutzt, um
    nach Westen und Nahost auszugreifen.


Die bequemen Zeiten des »Geh du voran«
sind vorbei, Trump hin oder her

Obwohl die Westeuropäer Trump verabscheuen,
bleiben sie nüchtern. Sie sind reich und mit 1,
Millionen Soldaten etwa so stark wie die USA –
doch nur auf dem Papier. Denn 27 ergeben keine
1 – den gemeinsamen Staat, der Kräfte bündelt
und über Krieg und Frieden entscheidet. Russi-
schen Pressionen ausgesetzt, haben die Osteuro-
päer andere Sorgen als die weit entfernten Spa-
nier und Portugiesen. Italien fühlt sich von Nord-
afrika her bedroht, Griechenland von der Türkei.
Frankreichs Emmanuel Macron will wie Charles
de Gaulle selig die Führung an sich reißen, doch
wird sich Berlin, der Stärkere im Bunde, nicht
unterordnen – trotz aller Freundschaftsschwüre.
Wenn schon Gefolgschaft, dann lieber unter
dem Schirm der Supermacht, die weltweit ein-

greifen und Russland wie China die Lust am
Abenteuer vergällen kann. Frankreich ging schon
nach ein paar Tagen im Libyen-Luftkrieg die
Munition aus; dann musste die U. S. Air Force
nach vorn. Für ein drittklassiges Krisengebiet wie
Mali reichen die deutsch-französischen Kräfte,
nicht aber an der Ostgrenze der Nato. Hier hält
ein Dutzend EU-Staaten Wache, aber entschei-
dend ist das US-Kontingent, hinter dem die
größte Militärmacht auf Erden steht. Putin wird
sich hüten, einen »Stolperdraht« auszulösen, der
direkt nach Washington führt.
So bitter solche Einsichten auch in europäi-
schen Ohren klingen, bestimmen sie doch die
Wirklichkeit seit Jahrzehnten – seit Frankreich
1954 die Europäische Verteidigungsgemein-
schaft, ein rein europäisches Projekt, torpedierte.
Europa versagt bei der Selbstverteidigung nicht,
weil die Mittel fehlen. Die sprudeln inzwischen
reichlich. Doch bringen die Europäer sie nicht
auf, weil die einstigen Weltbeherrscher das stra-
tegische Handwerk verlernt haben, vorweg die
Deutschen. Warum auch nach der Katastrophe
1914 bis 1945 wieder Machtpolitik betreiben,
wenn der große amerikanische Bruder eine
Sicherheitsgarantie zum Discount-Preis gibt?
Appelle, die mantramäßig Selbstbehauptung
anmahnen, nützen wenig, wenn sie nicht eine
»Kulturrevolution« auslösen, welche die Fähig-
keit zum strategischen Handeln wiederherstellt.
Gerade in Deutschland, dem zweifach gebrann-
ten Kind, dominiert ein mächtiger Abwehrreflex.
Nirgendwo ist die Armee nach dem Mauerfall so
gründlich verrottet wie hier, nirgendwo unter
den Großen klafft eine so breite Lücke zwischen
Gewicht und Verantwortungsbewusstsein für
die Sicherheit in dunkleren Zeiten. Deshalb sei
Verteidigungschefin Kramp-Karrenbauer für
ihren Todesmut zu loben, wenn sie fordert:
»Nicht nur abwarten, ob andere handeln«, dazu
einen wachsenden Wehretat und einen »Natio-
nalen Sicherheitsrat«, der die »Koordination un-
serer strategischen Instrumente gewährleistet«.
Denn die bequemen Zeiten des »Geh du
voran« sind vorbei, Trump hin oder her. Um als
»Friedensmacht« zu bestehen, muss die Republik
auch etwas für den Frieden tun. Dass der nicht
nur moralischen (und moralisierenden) Einsatz,
sondern auch militärischen verlangt, muss sich
in den Köpfen noch durchsetzen.

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Mensch,


wir werden


weniger!


Wenn die Erde immer mehr Bewohner


zu tragen hat, wird sie kaum noch zu


retten sein. Doch Forscher sagen


voraus: In einigen Jahrzehnten kehrt sich


die Entwicklung um. Und dann? D O S S I E R


Titelillustration: Sébastien Thibault für DIE ZEIT

Weltbevölkerung


Menschenleer rauscht jeden Mor-
gen ein Zug durch Thüringens
Dörfer Salza, Niedersachswerfen,
Woffleben und Ellrich. Einsteigen
dürfen Reisewillige erst in Walken-
ried, Niedersachsen. Grund: Thü-
ringen sind 66 Euro Stationsgebühr
pro Tag zu teuer. Unser Musiktipp
für den Geisterzug: Chris tian An-
ders, lyrically remastered: »Es fährt
ein Zug nach Nirgendwo – mit Irr-
sinn allein als Passagier«. PED

Bahnsinn!


PROMINENT IGNORIERT

Kl. Bilder (v.o.): Meiko Herrmann für ZEIT Online;
Iris Loonen/plainpicture; Harald Schön/Picture-
Press

PREIS DEUTSCHLAND 5,50 € 14. NOVEMBER 2019 No 47

Wir sind fremd


geblieben


Die Kinder und


Enkel von


Gastarbeitern


klagen an
Streit, Seite 10

Lecker!


Wie Kochprofis


ihren Kindern


sogar Gemüse


schmackhaft


machen ZEITmagazin


PREISE IM AUSLAND:
DK 58,00eFIN 8,00eE 6,80e
CAN 7,30eF 6,80eNL 6,00e
A 5,70eCH 7.90eI 6,80eGR 7,30e
B 6,00eP 7,10eL 6,00eH 2560,

Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,
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