Die Zeit - 14.07.2019

(Jacob Rumans) #1
Ich bin froh, dass ich kein Dicker bin
Denn dick sein ist ’ne Quälerei
Ich bin froh, dass ich so ’n dürrer Hering bin
Denn dünn bedeutet frei zu sein
Er ist wieder da. Dicke, der Hammer-Hit
von Marius Müller-Westernhagen aus dem
Jahr 1978. Was haben wir ihn mitgegrölt,
damals, in den frühen Achtzigern, als wir
selbst noch dürre Heringe waren. Egal ob
wir Mohrenköpfe oder Zigeunerschnitzel in
uns reinstopften – wir wurden einfach nicht
dick. Würden wir das heute mit Schaumküs-

sen und Paprikaschnitzel machen, wäre das
anders. Aber machen wir ja nicht. Weil wir
uns weiterentwickelt haben. Auch sprach-
lich, na ja, manche wenigstens.
Mit Dicken macht man gerne Späße
Dicke haben Atemnot
Für Dicke gibt’s nichts anzuziehen
Dicke sind zu dick zum Fliehen
Selbst Menschen, die, nun ja, gewichts-
mäßig herausgefordert waren, rockten da-
mals die Tanzfläche, sobald Dicke ertönte.
Ich habe das selbst erlebt. Allerdings han-

delte es sich dabei um zwei Amerikaner, die
zum Austausch an unserer Schule waren.
Vielleicht haben die beiden die Ironie, die
im Soundtext mitschwingt, damals schon
besser verstanden als all die Eiferer, die sich
über Westernhagen bis heute aufregen.
Wahrscheinlicher ist aber, dass die beiden
nach wenigen Wochen Deutschland schlicht
nicht verstanden, was Marius sang.
Dicke haben schrecklich dicke Beine
Dicke ham ’n Doppelkinn
Dicke schwitzen wie die Schweine

Stopfen, fressen in sich rin
Mit 70 Jahren hat Westernhagen, dünn
wie eh und je, sein Kult-Album Mit Pfeffer-
minz bin ich dein Prinz neu aufgenommen,
vorige Woche ist es erschienen. Und natür-
lich gefällt vielen nicht, dass auch heute, in
Zeiten des Vollschlankseins, Dicke wieder
mit dabei ist. Hätte Dicke von Pfefferminz
nicht so rigoros entfernt werden müssen wie
Kevin Spacey aus House of Cards?
Dicke haben Blähungen.
Dicke ham ’nen dicken Po

Und von den ganzen Abführmitteln
Rennen Dicke oft aufs Klo
Ich bin sehr froh, dass Marius zu Dicke
steht wie der Müller zu Westernhagen. Aus
ganz persönlichen Gründen. Unter den
amerikanischen AustauschschülerInnen war
damals auch Amy Hildebrand. Bei Dicke
haben wir uns das erste Mal geküsst. Amy
war toll. Und – es tut mir leid, das nun sagen
zu müssen – sehr dünn.
Und darum bin ich froh, dass ich kein
Dicker bin, denn ...

LIEBE

Marius Müller-Westernhagen hat Mut: Der dünne Mann steht zu seinem Lied »Dicke« VON PETER DAUSEND


Peter Dausend
ist Politischer
Korrespondent
im Hauptstadt-
büro der ZEIT

it einem kleinen Wort hat die katholi-
sche Kirche die evangelische Kirche in
große Erklärungsnot gebracht: Kir-
chensteuer. Mit derlei Geld will der
Missbrauchsbeauftragte der Deutschen
Bischofskonferenz (DBK), Stephan
Ackermann, künftig Opfer sexueller
Gewalt entschädigen, gab er am vori-
gen Sonntag in Trier bekannt. Das
Brisante an Ackermanns Botschaft: Die
verspätete Geste der Gerechtigkeit wird
teuer für alle Katholiken. Statt einer bisherigen Pau-
schale von 5000 Euro solle bald ein Vielfaches an Be-
troffene gezahlt werden – von 40.000 bis 400.000 Euro
pro Fall ist die Rede. Wenn es so käme, lägen die Ge-
samtkosten schätzungsweise bei einer Mil liarde Euro.
Dagegen klang die Zahl mickrig, mit der die Protes-
tanten zwei Tage später ihren Bericht zur Missbrauchs-
aufarbeitung krönten. Eine Million Euro stelle man aus
dem Haushalt 2020 bereit, versprach am Dienstag in
Dresden Bischöfin Kirsten Fehrs. Fehrs, seit einem Jahr
»Sprecherin des Beauftragtenrates zum Schutz vor se-
xualisierter Gewalt« bei der Evangelischen Kirche in
Deutschland (EKD), ist das protestantische Pendant zu
Ackermann. Was beide allerdings zu verkennen scheinen:
Um die enorme Schuld der Kirchen aufzuarbeiten,
braucht es mehr als Geld. Egal wie hoch die Summe ist.
Immerhin, der Vorzug der einen Million der Protes-
tanten im Gegensatz zur Milliarde der Katholiken be-

steht darin, dass sie kein fernes Versprechen ist, sondern
eine konkrete Zahl in der wichtigsten Drucksache der
aktuellen Dresdner EKD-Synode, also des Kirchen-
parlaments. Auch kommt sie als Extraposten zu bereits
bewilligten 1,3 Millionen Euro für die Missbrauchsauf-
arbeitung hinzu. Und das Geld hat einen klaren Ver-
wendungszweck: für einen neu zu gründenden Betrof-
fenenbeirat, für ein Netzwerk für Betroffene, für eine
bereits bestehende zentrale Anlaufstelle »help!« sowie
Aufarbeitungsstudien und Fortbildung.
Ackermanns Vorstoß bei den Entschädigungszah-
lungen setzt auch die Protestanten unter Zugzwang. Nun
fragen viele Kirchensteuerzahler, warum sie für unge-
sühnte Verbrechen einzelner Pfarrer und Kirchen-
hierarchen geradestehen sollen. Die Antwort ist einfach,
für beide Konfessionen: Weil der Missbrauch und seine
Vertuschung ein systematisches Problem sind. Und weil
die Kirchen, in deren Machtbereich die Täter geschützt
wurden, nun mal aus Kirchenmitgliedern bestehen.
Viele Laien empfinden das bereits schamvoll. Deshalb
schnellte ja die Zahl der Kirchenaustritte seit dem Auf-
branden jüngster katholischer Missbrauchsskandale in
die Höhe. Aus diesem Grund kommt die neue elfseitige
Aufarbeitungsagenda der EKD gerade noch rechtzeitig,
um den Betroffenen das Gefühl zu geben, dass endlich
etwas geschieht: fast zehn Jahre nach Ruchbarwerden der
Missbrauchsfälle am katholischen Canisius-Kolleg und
fast zehn Jahre nachdem die erste von 20 evangelischen
Landeskirchen eine eigene Untersuchung veranlasste.

Das Ausmaß von Missbrauch in der evangelischen
Kirche bleibt aber bis heute unklar. 479 Fälle waren der
Synode vor einem Jahr bekannt, nun sind es laut Bericht


  1. In Dresden wurde beschlossen: Regionale Aufarbei-
    tungsergebnisse aus den Landeskirchen sollen bald in
    einer Gesamtstudie zusammenfließen. Darüber hinaus
    soll es eine »Dunkelfeldstudie« mit 100.000 Befragten
    geben. Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-
    Strohm sagte der ZEIT, seine Kirche sei bereit, die Kon-
    trolle über die Aufklärung von Missbrauch und deren
    Ergebnisse an unabhängige Gremien abzugeben.
    Und dann? Tatsächlich will die Mehrheit der evan-
    gelischen Synodalen, anders als die Mehrheit der katho-
    lischen Bischöfe, die Aufarbeitung nicht mehr selber
    kontrollieren. Ein Betroffenenrat soll 2020 seine Arbeit
    aufnehmen. Doch an dem Fehrs-Bericht fällt auf, dass er
    harte Aufarbeitungsvokabeln vermeidet. Er spricht weder
    von Verbrechen noch von Vertuschung oder gar Straf-
    vereitelung. Darin aber, in der systematischen Verhin-
    derung rechtzeitiger juristischer Schritte gegen die Täter,
    besteht der wahre Sündenfall beider Kirchen. Er lässt sich
    weder durch Ackermanns sechsstellige Entschädigungs-
    summen wettmachen noch durch Fehrs’ gute Worte für
    die Opfer. Beide Kirchen müssen noch beweisen, dass
    sie auch diese Kosten zu tragen bereit sind: Schuldige aus
    der eigenen Hierarchie zu belangen.


Siehe auch Glauben & Zweifeln, Seite 66:
Ein Missbrauchsopfer erzählt seine Geschichte

Das ging aber daneben! Unsere
Kolumnistin Anja Reschke über
den Twitter-Tiefpunkt der Woche

Es war klar, dass der Vorschlag von Finanz-
minister Olaf Scholz Empörung auslösen
würde. Wie immer, wenn es um Geschlech-
tergerechtigkeit geht. »Absolut überzogen«,
sagte der bayerische Finanzminister. Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion werde das
verhindern, schickte der Kollege aus NRW
hinterher. Und Wirtschaftsstaatssekretär
Thomas Bareiß sieht nichts Geringeres als
die Freiheit bedroht. Erwartungsgemäß se-
kundiert vom FDP-Frontmann Christian
Lindner.
Freiheit, welch großes Wort! »Wohl
spricht man viel von Freiheit für alle, aber
man ist gewöhnt, unter dem Wort ›alle‹ nur
die Männer zu verstehen«, schrieb schon
1848 die Frauenrechtlerin Louise Dittmar,
nachdem für die Nationalversammlung in
der Frankfurter Paulskirche nur Männer
zugelassen waren.
Olaf Scholz will Steuervorteile für
Männervereine abschaffen, lauten unisono
die Schlagzeilen. Entrüstung auf Twitter.
Erstaunlich, wie viele plötzlich am Schick-
sal von Männergesangsvereinen Anteil
nehmen.
Liebe Herren, bevor Sie Schnapp-
atmung kriegen: Recherche kann helfen.


  1. Das Ganze ist kein Wahlkampfschla-
    ger der SPD, sondern fußt auf einem Ur-
    teil des Bundesfinanzhofs aus dem Jahr
    2017, der entschieden hatte, dass ein Ver-
    ein nicht gemeinnützig sein kann, wenn er
    ein Geschlecht ohne sachlichen Grund
    ausschließt.

  2. »Ohne sachlichen Grund« – gelesen?
    Es könnte also sein, dass der gemeinnützige
    Bundesverband Prostatakrebs nicht unter
    diese Regelung fällt. Auch wenn ein Twitte-
    rer mit diesem hämischen Vorschlag billige
    Likes eingesammelt hat. (Übrigens, in der
    Satzung des Vereins gibt es keinen Passus,
    der Frauen die Mitgliedschaft verwehrt.)

  3. »Ein Geschlecht« – gelesen? Im Ur-
    teil ist nicht von Männern die Rede. Selbst-
    verständlich gilt das genauso für Frauen-
    vereine, die grundlos Männer ausschließen.
    Männer könnten sich also mit vollem Elan
    bei den Landfrauen engagieren.

  4. Kein Männerverein wird verboten.
    Ruhig Blut. Jeder Verein kann als Männer-
    verein gerne weitermachen. Nur halt ohne
    Steuervorteile. Das schafft jeder Bart- und
    Schnauzerclub auch.
    Es ist doch nicht so schlimm, meine
    Herren. Sie müssen nur den Passus in der
    Satzung streichen, der Frauen den Zutritt
    verwehrt. Vielleicht haben Sie ja Glück,
    und die Damen wollen gar nicht in Ihre
    schlagende Studentenverbindung, in Ihre
    traditionsreiche Schützenbrüderschaft oder
    in Ihren elitären Ruderclub. Und selbst
    wenn, vielleicht wird es ja ganz lustig? Aller-
    dings einfach zwei Frauen als Putzkräfte
    einstellen, wie ebenfalls ein Herr auf Twit-
    ter vorschlug, wird für die Gemeinnützig-
    keit vermutlich nicht reichen.


VERTWITTERT

Geld allein reicht nicht


Die Kirchen müssen bei der Missbrauchsaufarbeitung endlich Schuldige in ihren Reihen benennen


VON EVELYN FINGER

Absurd, schändlich und lächerlich? So nennt der österreichische Grüne Josef Scheinast die Piste,


welche die Kitzbüheler Bergbahnen auf der Resterhöhe angelegt haben. Viele Gäste nahmen das Angebot


zuletzt bei fast 20 Grad trotzdem an – Skitourismus überlebt offenbar selbst den Klimawandel


Foto: Johann Groder/dpa

@aktuelle_stunde

Keine Steuervorteile mehr für Vereine, die
nur Männer aufnehmen. Der Finanzminister
ist dafür, die CSU dagegen.

getwittert am 10. Nov. 2019 um 20.29 Uhr

60
ZEILEN
...

M

Anja Reschke
moderiert die
ARD- Sendung
»Panorama«.
An dieser Stelle
schreibt sie im
Wechsel mit Ulf
Poschardt, dem
Chefredakteur
der Welt- Gruppe

kl. Fotos: Norman Hoppenheit für DIE ZEIT; Urban Zintel für DIE ZEIT (u.)

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IRGENDWAS IST JA IMMER


12 STREIT 14. NOVEMBER 2019 DIE ZEIT No 47

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