Die Zeit - 14.07.2019

(Jacob Rumans) #1

Das erste Mal habe ich mich von der Gastronomiebranche betrogen
gefühlt, als ich fünf Jahre alt war. Unsere Eltern machten mit uns


Ferien in Franken. Eines Abends gingen wir essen in einer Gast-
stätte. Gaststätten waren für mich beeindruckende Orte. Man saß


an großen Tischen, bekam die Teller von streng dreinblickenden
Herren vor die Nase gestellt, und dann sollte man alles vollständig


aufessen und sich dabei »benehmen«. Was benehmen war, wusste
ich: alles unterlassen, was Spaß machte. Sehr vielversprechend fand


ich dagegen die Gerichte der Kinderkarte, die meine Eltern mir
vorlasen: Es gab »Donald Duck«, »Micky Maus«, »Biene Maja« und


»Räuber Hotzenplotz«.
Ich stellte mir vor, ein Steak in Donald-Duck-Form zu bekommen,


eine gebackene Biene-Maja-Figur oder einen mit einem Räuberhut
bedeckten Teller. Ich entschied mich für Räuber Hotzenplotz – und


erlebte eine Enttäuschung. Denn ich bekam einfach Essen geliefert.
Ein Schweineschnitzel mit Kroketten – weit und breit nichts von


einem Räuber. Soweit ich mich erinnere, machte ich aus meinem
Unmut kein Geheimnis. Soweit ich mich erinnere, fanden meine


Eltern anschließend, ich hätte mich nicht benommen.
Das ist 40 Jahre her. Die ganze Welt ist seitdem anders gewor-


den. Deutschland wiedervereinigt, die D-Mark abgeschafft, das
iPhone erfunden. Was sich nicht geändert hat, ist die Speisekarte


für Kinder. Zumindest Micky Maus und Donald Duck treffe ich
dort regelmäßig an. Für Biene Maja springt nun öfter einfach der


Disney-Fisch Nemo ein. Und auch die Gerichte, die sich hinter
diesen Code namen verbergen, sind leider die gleichen geblieben:


Chicken-Nuggets, kleines Schnitzel und Fischstäbchen.
Ich habe heute selbst vier Töchter, die meine Frau und ich in Restau-


rants dazu ermahnen, doch aufzuessen und sich zu benehmen. Sie
mögen leider keine frittierten Hühnerteile, auch nicht so gerne pa-


nierte Fischteile und auch kein platt geklopftes Schweinefleisch mit
Panade. Was dann? Die Antwort der Bedienung ist oft ein Schulter-


zucken. Mit etwas Glück lässt sich dann Rührei oder Spätzle oder
Spaghetti mit Tomatensoße aushandeln. Ich kann schon verstehen,


dass es für Restaurants bessere Kundschaft als Kinder gibt. Sie essen
wenig, machen dafür viel Dreck und trinken nicht einmal Alkohol.
Aber nach 40 Jahren Kinderhelden-Essen könnte man sich schon
einmal etwas Neues einfallen lassen. Beschwerden gibt es inzwischen
genug: Vor einigen Monaten sorgte eine Untersuchung des Mann-
heimer Instituts für Public Health, So zial- und Präventivmedizin
für Aufregung. Eine Auswertung von 1800 deutschen Speisekarten
hatte ergeben, dass 80 Prozent der angebotenen Kinderspeisen un-
gesund seien. Alles in allem unterbiete die deutsche Gastronomie
sogar die Fast-Food-Ketten in den USA. Auch die Bundesregierung
wird nun aktiv. Ernährungsministerin Julia Klöckner von der CDU
hat einen Wettbewerb um die »beste Kinderspeisekarte Deutsch-
lands« ausgerufen. Man muss also von höchster Stelle intervenieren,
um die Fake- Micky- Mäuse von der Speisekarte zu vertreiben.
Wenn man Gastronomen fragt, warum sie so unverdrossen
Chicken- Nuggets anbieten, verweisen sie auf die Zwänge des
Marktes. Die Kinder würden eben genau dies verlangen. Vielleicht
kann man hier ja mal von Amerika lernen. In den Zwanziger- und
Dreißigerjahren wurden dort für Kinder in Restaurants die beson-
ders gesunden Speisen angeboten, pochierte Eier, Gemüse suppen,
Lammkoteletts und Spargel, wie in dem gerade in den USA er-
schienenen Sachbuch Kid Food von Bettina Elias Siegel nach-
zulesen ist. Die Gastronomie dort sah sich nämlich nicht nur als
Erfüller von Marktwünschen, sondern hatte auch den Anspruch,
gesunde Ernährung zu lehren. Wie schön wäre es, würde ich beim
nächsten Restaurantbesuch mit Ideen nach Hause gehen, was ich
für die Kinder nachkochen könnte.
Neulich bin ich wieder auf einen Räuber Hotzenplotz auf einer
Speisekarte gestoßen. Ich fragte die Bedienung, welches Gericht da-
mit gemeint sei, und bekam zur Antwort, das sei überhaupt kein Ge-
richt, sondern ein leerer Teller: Das Kind dürfe sich damit von den
Eltern etwas »räubern«. Ein leerer Teller namens Hotzenplotz – das
wäre das Einzige gewesen, was mich als Fünfjährigen noch mehr
frustriert hätte als ein Schnitzel ohne Hut.

Vo n TILLMANN PRÜFER Illustration ISABEL BLUMENTHAL


Der ewige Hotzenplotz


Paniertes oder Frittiertes, das den Namen von Kinderhelden trägt –


warum steht in deutschen Restaurants immer das Gleiche auf der


Speisekarte für Kinder?


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