Die Zeit - 14.07.2019

(Jacob Rumans) #1
Ich träumte mal vom Haus meines Großonkels und meiner Großtante in New Orleans. Sie sind beide nicht mehr am Leben, aber ich wohnte ein Jahr lang bei ihnen, als ich fünf war. Mein Großonkel fertigte Grabsteine an. Sie lebten in einfachen Verhältnissen, in ihrem Haus gab es nicht mal warmes Wasser. In diesem Traum war ich also wieder zurück in dem Haus. Es ist ein lauter Traum, er beginnt mit dem Bellen von Hunden. Ich muss dazu erklären, dass das Haus in einer wilden Gegend lag, in der man nachts regelmäßig Schüsse und solche Sachen hörte. Auf den Straßen in der Umgebung geschahen ständig irgendwelche wilden Dinge, und es war einfach immer laut. Aber in diesem Traum hörte ich auf ein-mal einen Chor singen:

»Won’t you

come by, Lord«.

In diesen

Gesang stimmte dann meine Großtante ein, die im wahren Leben niemals gesungen hat, sie summte immer nur, etwa Spirituals. Von dem Traum beflügelt, habe ich nach dem Aufwachen gleich ein Stück komponiert.New Orleans, wo ich aufgewachsen bin, ist ein mythischer Ort, an dem viele verschiedene Glaubensrichtungen und Kulturen zusammenkommen: weiße Menschen, schwarze Menschen, überhaupt Menschen aus aller Welt. New Or-leans war aber auch ein Ort der Rassentrennung, so habe ich

ihn zumindest oft erlebt. Und er ist das nach wie vor. Es do-miniert diese Südstaaten-Ignoranz, die immer schon da war. Und trotzdem ist New Orleans auch ein lyrischer, poetischer Ort, voll mit kreativen Menschen. Mein Vater ist Musiker und Musiklehrer, er ist bis heute ak-tiv. Meine Mutter ist Sozialarbeiterin. Also wurde zu Hause Musik schon immer mit einem sozialen Bewusstsein ver-bunden. Meine Eltern hatten ihre eigenen Träume, die sie sich erfüllen wollten. Ein Traum meines Vaters war es im-mer gewesen, nach New York zu gehen, um dort Musik wie die von Charlie Parker zu spielen. Meine Mutter träumte von sozialer Gerechtigkeit. Sie reagierte empfindlich auf jede Form von Vorurteilen und Ignoranz und engagierte sich, wo immer es möglich war, für die Rechte und die Würde von Afroamerikanern. Ich habe diese beiden Träume meiner Eltern zu meinem Traum gemacht. Mein Vater hat allerdings stets darauf geachtet,

dass

ich nicht abhebe. Er ist ein sehr anständiger, vernünftiger Mann. Nachdem ich als 22-Jähriger je einen Grammy

in der

Jazz- und in der Klassiksparte gewonnen

hatte, gab sich mein

Vater nicht weiter beeindruckt. Er hielt die ganze Veranstal-tung nämlich für einen Zirkus. Nach der Verleihung war ich mit ihm und meiner Mutter im Hotel, und wir waren gerade

dabei, uns für die After-Show-Party zurechtzumachen. Da nahm er mich beiseite, schaute mich streng an und sagte: »Ich freue mich, dass du gewonnen hast – aber du denkst deswegen jetzt hoffentlich nicht, dass du auch wirklich spielen kannst, oder?« Dafür, dass er mich so in der Realität verankert hat, bin ich ihm bis heute dankbar.

»Von dem Traum beflügelt, habe ich nach dem Aufwachen gleich ein Stück komponiert«


Wynton Marsalis, 58, ist Trompeter und Komponist. Er ist der einzige Musiker, der im selben Jahr je Foto Ossi PiispanenAufgezeichnet von Christoph DallachZu hören unter http://www.zeit.de/audio
einen Grammy für Jazz und Klassik gewonnen hat,
und das gleich zweimal in Folge, 1983 und 1984. Zuletzt veröffentlichte die Violinistin Nicola Benedetti ein Album mit seinen Kompositionen unter
dem Titel »Violin Concerto / Fiddle Dance Suite«
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