Die Zeit - 14.07.2019

(Jacob Rumans) #1

7,7 Milliarden Menschen ...


Nigeria


Während draußen auf den Straßen von Agege die
Männer zusammenströmen und ihre Gebetsteppiche
ausrollen, während sie in tausendfacher Gleichzeitig­
keit ihre Häupter Richtung Mekka beugen und der
Verkehr, der Lärm, das Gewusel dieser Stadt im Süd­
westen Nigerias für einen Moment zum Erliegen
kommen, sitzt Hadizatu Ahmed hinter ihrem Haus
und denkt laut darüber nach, wann sie ihr erstes Kind
geboren hat.
Sie sei ungefähr 70 Jahre alt, sagt Hadizatu Ah­
med, genau wisse sie das nicht. Geheiratet habe sie
mit fünfzehn. Einen Schneider. Ein Jahr später habe
sie ein Mädchen auf die Welt gebracht, Habiba. Ein
Jahr später eine Fehlgeburt. Zwei Jahre später kam
Danjuma, ein Junge.
Dann nahm sich ihr Mann eine zweite Frau.
Hadizatu Ahmed bekam die beiden Räume rechts
des Flures, die sie noch heute bewohnt. Die andere
Frau die beiden links. Hadizatu Ahmed setzte sich
zum Ziel, ihrem Mann mehr Kinder zu gebären als
die andere.
Kurz darauf brachte sie Tiggani zur Welt, den
zweiten Jungen. Noch im selben Jahr entband die
andere Frau ein Mädchen.
Ein Jahr später bekam Hadizatu ein Mädchen,
Ladi. Und die Zweitfrau einen Jungen.
Hadizatu: eine weitere Tochter, Teni. Dann noch
eine, Mariam. Die Zweitfrau: einen Sohn, dann eine
Tochter.
Hadizatu: wieder eine Tochter, die aber bald die
Malaria holte. Die Zweitfrau: einen Jungen.
Hadizatu: wieder ein Mädchen, Fatima. Und die
Zweitfrau kurz darauf das letzte Kind dieser Familie,
ebenfalls ein Mädchen.
Hadizatu Ahmed hatte den familieninternen
Wettbewerb gewonnen, acht zu sechs, aber es habe


sich angefühlt wie eine Niederlage, sagt sie, weil sie
nur zwei Söhne hatte und die andere drei.
Vierzehn Kinder – ihr Mann habe in der Nach­
barschaft gut dagestanden, sagt sie, aber es war
nichts gegen den alten Bello, der habe es auf drei­
ßig gebracht, allerdings mit vier Frauen. Und
schon gar nichts gegen Kabii, bei dem müssen es
um die vierzig Kinder gewesen sein.
Nach dem Ende des Gebets werfen die Männer
vor Hadizatu Ahmeds Haus wieder ihre Mo tor­
räder an. Frauen balancieren Plastikschalen auf
dem Kopf. Kleine Kinder gehen an den Händen
der größeren. Menschen hängen außen an einem
gelben Sammeltaxi, das in die Schlaglöcher hinein­
und wieder aus ihnen herausrumpelt. Menschen
sitzen auf dem Dach eines Lastwagens. Menschen
winken, Menschen lachen, Menschen schreien.
Überall Menschen.
Als Hadizatu Ahmed jung war, stand hier Wald.
Heute ist Agege Teil der 21­Millionen­Metropole
Lagos, der größten Stadt Afrikas. Seit Hadizatu Ah­
med ihr erstes Kind bekam, hat sich die Bevölkerung
Nigerias vervierfacht, auf 200 Millionen.
Jede Nigerianerin bekommt durchschnittlich
5,4 Kinder.
Das ist nur Nigeria. In den Nachbarländern
sind die Zahlen ähnlich. Niger hat die höchste Ge­
burtenrate der Welt: 7,2 Kinder pro Frau. Mali:
5,9. Tschad: 5,8. Burkina Faso: 5,2.
Und das ist nur Afrika. Afghanistan: 4,4. Je­
men: 3,8. Papua­Neuguinea: 3,6.
In jeder Sekunde werden irgendwo auf der
Welt vier Kinder geboren, während zwei Men­
schen sterben. Seit Sie angefangen haben, dieses
Dossier zu lesen, ist die Weltbevölkerung um etwa
200 Menschen angewachsen.
Schon lange ahnen die Menschen, sie könnten
einmal zu viele werden. Maler haben die drohende
Enge auf der Erde in Öl gebannt. Hollywood hat

... leben auf der Welt. Jede Sekunde kommen zwei hinzu. Aber wie lange noch? In Zukunft könnte nicht mehr Überbevölkerung das Problem der


Menschheit sein, sondern etwas ganz anderes VON BASTIAN BERBNER


New York


Im 19. Stock eines Hochhauses in Midtown Man­
hattan arbeiten zwölf Wissenschaftler daran, die
Zukunft der Menschheit vorherzusagen. Ihr Chef,
Frank Swiaczny, ist ein 52 Jahre alter Deutscher,
der mal Fotograf für den Mannheimer Morgen war.
Als er keine Lust mehr hatte, Bilder von Auto­
unfäl len zu knipsen, studierte er Geografie. Heute
leitet er für die Vereinten Nationen ein Team aus
Statistikern und Demografen, das berechnet, wie
sich die Weltbevölkerung entwickeln wird.
Um die Zukunft vorherzusagen, müssen
Swiacznys Leute erst einmal die Gegenwart ver­
stehen – und die Vergangenheit.
Seit 1950 fließen jedes Jahr neue Angaben in
die Datenbank der Vereinten Nationen, es sind
Geburts­ und Sterberaten, Ein­ und Auswande­
rungszahlen aus 235 Ländern und Territorien.
Manchmal sind die Daten sehr genau, wie jene aus
Norwegen, wo man per Knopfdruck jederzeit
nachsehen kann, wie viele Einwohner das Land
aktuell hat. Manchmal sind die Daten sehr unge­
nau, wie jene aus dem Libanon – letzte Volkszäh­
lung 1932 – oder aus Syrien und dem Kongo, wo
es Kriege seit Jahren unmöglich machen, die Ein­
wohner zu zählen.
Swiacznys Leute verifizieren die Daten, berei­
nigen sie, wühlen sich sogar durch Erhebungen,
die jene Menschen zu fassen versuchen, die schwer
zu fassen sind, wie die Obdachlosen auf den Stra­
ßen New Yorks und die Nomaden in den Wüsten
Arabiens.
All diese Zahlen formt der Computer zu Ent­
wicklungslinien, und die zeigen meist nach oben.
Die Weltbevölkerung wächst, seit Jahrtausen­
den schon. Als die Jäger und Sammler vor 12.
Jahren sesshaft wurden, lebten wahrscheinlich

keine zehn Millionen Menschen auf der Welt.
Jesus von Nazareth hatte bereits 300 Millionen
Mitmenschen. William Shakespeare im 16. Jahr­
hundert 400 Millionen. Überall auf der Welt be­
kamen Frauen damals viele Kinder. Aber da viele
von ihnen früh starben, blieb die Bevölkerungs­
größe stabil. Manchmal sorgten Epidemien oder
Kriege sogar für einen Rückgang.
Dann stiegen die Zahlen im 18. Jahrhundert
auf einmal an, ausgehend von Europa. Dank
produktiverer Landwirtschaft und besserer me­
dizinischer Versorgung überlebten jetzt viel
mehr Kinder. Um das Jahr 1800 gab es erstmals
eine Mil liar de Menschen auf der Welt. Es folg­
ten Revolutionen, die den Menschen länger
leben ließen: Impfungen, Krankenversicherung,
Antibiotika.

1928 zwei Mil liar den.
1959 drei Mil liar den.
1973 vier Mil liar den.
1986 fünf Mil liar den.
1998 sechs Mil liar den.
2010 sieben Mil liar den.

Um die weitere Entwicklung der Weltbevölke­
rung vorherzusagen, benutzt Frank Swiacznys
Team ein Modell, das im Detail sehr kompliziert,
im Kern aber sehr einfach ist: Die Bevölkerungs­
zahl des nächsten Jahres entspricht jener des der­
zeitigen Jahres plus Geburten minus Todesfälle.
Das lässt sich dann, basierend auf Wahrschein­
lichkeiten, Jahr für Jahr weiterrechnen. Die Ver­
einten Nationen pro gnos ti zie ren die Zahlen bis
ins Jahr 2100.
Alle zwei Jahre geben sie neue Vorhersagen be­
kannt, und so nimmt im Juni dieses Jahres Frank


  1. NOVEMBER 2019 DIE ZEIT No 47 DOSSIER 15


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11 Weltbevölkerungin Mrd. wahrscheinlichstesSzenario

1928

1959

1973

1986

1998

2010

2023

2037

1850 19 0 0 1950 2000 2050 2100

Ein Freibad im südkoreanischen Seoul. Die Hauptstadt ist das größte Ballungszentrum des Landes – aber auch eines der letzten. In der Provinz schrumpft die Bevölkerung schon seit Jahren

Fortsetzung auf S. 16

Foto: Seunggu Kim/INSTITUTE; ZEIT-Grafik/Quelle: Vereinte Nationen

Filme gedreht, in denen Kolonien auf fernen Pla­
neten entstehen, weil es auf der Erde nicht mehr
genug Nahrung gibt. Der Schriftsteller Dan Brown
hat in einem Roman eine Verschwörerbande be­
schrieben, die ein Virus verbreitet, das ein Drittel
der Menschheit unfruchtbar macht. Das Buch
heißt Inferno.
Es stimmt ja: Ein Mensch braucht Essen. Die
Nahrung muss irgendwo gedeihen. Ein Mensch
braucht Kleidung. Die Baumwolle muss irgendwo
wachsen. Ein Mensch braucht ein Dach über dem
Kopf. Das Haus muss irgendwo stehen.
Der Platz auf der Erde ist begrenzt. Sie kann
nur eine endliche Zahl an Menschen tragen. Der­
zeit sind es 7,7 Mil liar den.
Wie lange noch bis zum Inferno?

Die Prognose der


Vereinten Nationen


TITELTHEMA: MENSCH, WIR WERDEN WENIGER!

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