Die Zeit - 14.07.2019

(Jacob Rumans) #1
Bettina Wegner im Garten ihres Hauses in Berlin-Frohnau, wo sie seit ihrer Ausbürgerung 1983 wohnt

Wir fanden das System alle scheiße. Wir wollten nicht den
Sozialismus abschaffen, aber wir fanden es verlogen, dass
uns in der Schule erzählt wurde, wie wunderbar die Arbeits-
welt ist. In Wahrheit kotzten alle ab, lebten in schimmligen
Wohnungen und malochten sich zu Tode.

Was für einen Sozialismus wünschten Sie sich?
Einen, in dem man überall und offen seine Meinung sagen
kann und frei ist. Das war einfach nicht möglich. Das habe
ich auch schon in der Schule gemerkt, als ich mal einen un-
erwünschten Artikel an die Wandzeitung gepinnt habe. Wir
hatten im Unterricht einen Film über das Warschauer Ghet-
to geschaut. In dem Film versuchen Kinder, durch ein Loch
im Zaun Rüben ins Ghetto zu schmuggeln, und werden
dabei von SS-Männern erwischt. Während wir den Film an-
schauten, lachte eine Klassenkameradin plötzlich und sagte:
»Ach, ich habe eine Laufmasche!« Ich war wie erschlagen.
Also habe ich einen Artikel darüber geschrieben, dass man
in solchen Momenten vielleicht mal darüber nachdenken
sollte, wie wichtig Laufmaschen wirklich sind. Dafür habe
ich richtig Ärger bekommen. Ich musste den Text abneh-
men, und meine Mutter wurde in die Schule bestellt.


Was war denn der Vorwurf der Schulleitung?
Erst mal war ich an diesem Tag nicht für die Wandzeitung
eingeteilt. Man durfte seine eigene Meinung, auch wenn
sie nicht staatskritisch war, nicht einfach in einem Artikel
an die Pinnwand hängen. Schon ulkig, aber so war es.
1968, kurz nach der Geburt Ihres ersten Sohnes Benjamin,


wurden Sie verhaftet und von der Schauspielschule exmatri-
kuliert, weil Sie Flugblätter verteilt hatten, die Solidarität


mit dem Aufstand in Prag bekundeten. Wie kam es dazu?
Thomas hatte bereits mit anderen Freunden Flugblätter
verteilt und sich mit den Tschechen solidarisiert. Alle wa-
ren erwischt worden, und er sagte zu mir: »Ich werde in
den Knast kommen, aber mach bitte nichts, wegen dem
Baby.« Ich wiederum dachte: Wenn jetzt einfach jemand
weitermacht, dann sieht das vielleicht so aus, als hätten sie
die Falschen geschnappt. Ich habe mit einem Kumpel neue
Flugblätter verteilt, mit Sprüchen wie »Glaubt nicht den
Zeitungslügen, sonst werdet ihr mitschuldig«, »Stalin lebt«
oder »Es lebe das rote Prag«.
Aber Ihr Plan ging nicht auf.


Wir sind mitten in der Nacht durch die Mühlenstraße in
Pankow gelaufen und haben überall, wo die Türen offen
standen, Flugblätter in die Briefkästen geworfen. Auf dem
Weg lag auch eine kleine Fabrik. Dort haben wir die Flug-
blätter über den Zaun geworfen. Auf der S-Bahn-Brücke
gegenüber standen zwei Polizisten und haben uns dabei
zugeschaut. Als wir die beiden gesehen haben, bin ich
schnell in meine Wohnung in der Florastraße gegangen
und habe die restlichen Flugblätter in den Abfluss ge-
steckt. Am nächsten Vormittag haben sie mich trotzdem
abgeholt. Gott sei Dank war ich gerade bei meinen Eltern
und konnte mein Baby bei ihnen lassen. Mir war sofort
klar, dass ich ins Gefängnis kommen würde. Wir wussten
alle, wie viel es auf staatsfeindliche Hetze gibt: Das Min-

destmaß war ein Jahr, die Höchststrafe waren fünf Jahre.
Aber meine größte Angst war, dass sie mir mein Baby weg-
nehmen, es in ein Kinderheim stecken oder irgendeinem
Arschloch geben würden. Solche Dinge sind ja passiert.
Am Ende wurde ich zu einem Jahr und vier Monaten Haft
verurteilt. Ich musste die Strafe aber nicht im Gefängnis
absitzen, sondern hatte zwei Jahre lang Arbeitsplatzbin-
dung in der Produktion.
Wenn Sie heute zurückblicken: War es das wert?
Ja. Bei der Verhandlung fragte mich die Richterin: »Haben
Sie denn nicht an Ihr Kind gedacht?« Aber gerade weil
ich an meinen Sohn Benjamin gedacht habe, habe ich die
Aktion gemacht. Ich wollte ihm später sagen können, dass
ich, als diese Revolutionäre und ihr Streben nach Freiheit
niedergeschlagen wurden, nicht einfach geschwiegen, son-
dern etwas gemacht habe.
Haben Ihre Söhne Sie denn später danach gefragt?
Als Benjamin drei Jahre alt war, haben wir mal meine
Schwester besucht und sind an dem Knast, in dem ich
damals gesessen hatte, vorbeigelaufen. Er hat zu mir hoch-
geschaut und gesagt: »Im Gefängnis sitzen nur Hexen und
Teufel.« Da habe ich ihm erzählt, dass auch Menschen wie
ich ins Gefängnis kommen können. Seitdem kannte er
meine Geschichte.
Sie saßen nach Ihrer Festnahme eine Woche lang im Ge-
fängnis und wurden jeden Tag verhört.
Ich war in einer Zelle mit einem Bett, einem Tisch, einem
Stuhl, einer Toilette und einem Waschbecken. Man hat
nichts zu lesen bekommen. Es gab nur Kartoffeln mit Pelle,
und ich konnte nicht scheißen, sieben Tag lang. Ich hatte
immer Angst, wenn ich auf die Toilette gehe, macht jemand
die Klappe auf und schaut rein. Ich wollte nicht, dass die
mich in einem so unwürdigen Zustand sehen. Meine Mut-
ter hat mich danach mit Leinsamen wieder hinbekommen.
Was wollten die Beamten bei den Vernehmungen von Ihnen
wissen?
Die Aktion mit den Flugblättern habe ich sofort zugegeben.
Aber wenn sie mich nach anderen Leuten gefragt haben,
hatte ich alles vergessen oder wusste von nichts oder war
nicht dabei. Manchmal dauerte die Vernehmung bis in die
Nacht. Ich habe jede Nacht geträumt, dass mich jemand
in den Arm nimmt, meine Mama, mein Papa, Thomas,
meine große Schwester. Diese Träume haben all das, was
tagsüber passierte, aufgehoben. Als ich das erste Mal zur
Vernehmung aus der Zelle raustreten sollte, bin ich mitten
auf den Gang gelaufen. Daraufhin packte mich die Wache
am Hals, knallte meinen Kopf gegen die Wand und brüllte:
»Erst wenn ich ›los!‹ sage, geht’s los!« Das hätte ich Menschen
nicht zugetraut. Einmal wurde ich einem Arzt vorgeführt,
weil ich ja noch stillte und Blutungen von der Geburt hatte.
Er gab mir ein paar Binden und fragte mich, ob ich Selbst-
mordgedanken hätte. Ich fand das absurd, ich hatte doch ge-
rade ein Kind auf die Welt gebracht, aber das hat niemanden
interessiert. Meine Milch ging in dieser Woche weg, und ich
konnte danach nicht mehr stillen. [^ S. 80^ ]

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