Die Zeit - 14.07.2019

(Jacob Rumans) #1
Christoph Heusgen im UN-Gebäude in New York mit Blick auf den East River

Vorhang zu? Vorhang auf?


Christoph Heusgen war Chefberater der Kanzlerin. Jetzt ist er deutscher Botschafter bei den Vereinten Nationen. Was kann er dort erreichen? VON KERSTIN KOHLENBERG


D


ie Abstimmung im Sicher-
heitsrat der Vereinten Natio-
nen sollte in zwei Stunden
beginnen, die deutsche De-
legation mit Heiko Maas war
gerade in New York gelan-
det, und nun drohten die
Amerikaner mit einem Veto. Christoph Heusgen
stand in seinem Eckbüro im 21. Stock der Ständi-
gen Vertretung Deutschlands im UN-Gebäude
mit Blick über den East River und musste sich ent-
scheiden: Sollte er die Resolution verändern, wie
die Amerikaner es verlangten? Oder sollte er sie
ganz zurückziehen?
Nach zwölf Jahren als außenpolitischer Berater
Angela Merkels war Heusgen seit knapp zwei Jahren
deutscher Botschafter bei den Vereinten Nationen.
Er hatte in seinem neuen Amt bereits die erfolgreiche
Bewerbung Deutschlands für einen der zehn nicht
ständigen Sitze im Sicherheitsrat organisiert, gerade
hatte Deutschland den Vorsitz, die Resolution war
extra dafür terminiert. Vier Monate hatte sein Team
daran gearbeitet. Sie trug die Nummer 2467, war
zehn Seiten lang und sollte einen Mechanismus ein-
führen, mit dem sexuelle Verbrechen in Kriegen
durch die UN bestraft werden können. Vor allem
aber sollte sie helfen, die Grundidee der Vereinten
Nationen vor dem aufziehenden Nationalismus zu
retten: dass die Welt friedlicher ist, wenn Länder zu-
sammenarbeiten.
Die Nationen der Welt durch Verträge an ein an-
der zu binden, die Wohlstand im Tausch für mehr
Demokratie anboten, das war das politische Prin-
zip der Nachkriegszeit und seit Jahrzehnten Grund-
lage deutscher Außenpolitik. Die Struktur dafür
war von den Amerikanern entworfen worden. Ne-
ben den UN gehören Institutionen wie die Welt-
bank, die Nato, die Internationale Atomenergie-
Behörde, die Welthandelsorganisation (WTO)
und der Weltklimarat dazu. Dennoch hielt es der
deutsche Außenminister Heiko Maas während der
jüngsten UN-Vollversammlung im September für
nötig, eine »Allianz für den Multilateralismus« ins
Leben zu rufen. An ebenjener In sti tu tion, die wie
keine andere für den Multilateralismus steht. Dass
Maas sich dazu entschlossen hatte, hat auch mit
jenem Tag im April zu tun, an dem Christoph
Heusgen in seinem Eckbüro stand, auf seinen
Chef wartete und sich fragen musste, ob er diesen
möglicherweise ganz unnötig nach New York hatte
anreisen lassen.
Zur Annahme der Resolution brauchte Heusgen
neun der 15 Stimmen im Sicherheitsrat. Wie die
anderen ständigen Mitglieder des Rates Russland,
Frankreich, England und China besitzen auch die
USA ein Vetorecht, mit dem sie jede Resolution zu
Fall bringen können. Heusgen hatte sich jedoch früh
der Unterstützung des erfahrenen amerikanischen
Diplomaten Jonathan Cohen versichert. Seit dem
Abgang von Botschafterin Nikki Haley Ende 2018
vertrat Cohen die USA bei den Vereinten Nationen.


Der Schutz von Frauen lag den Amerikanern immer
am Herzen. Heusgen erwartete daher keine Proble-
me. So schildert er es an einem Tag im Spätsommer
in seinem Büro, als er den Kampf um die Resolution
noch einmal Revue passieren lässt. Aber dann beka-
men Außenminister Mike Pompeo und das Weiße
Haus die Resolution am Wochenende vor der Ab-
stimmung auf den Tisch. Und plötzlich hatte Heus-
gen ein Problem.
Die Resolution sollte unter anderem sicher-
stellen, dass im Krieg vergewaltigte Frauen die
Möglichkeit zu einer Abtreibung erhielten. Die
Trump-Regierung hat es sich jedoch zur Regel ge-
macht, kein Schriftstück mehr zu unterzeichnen,
in dem Abtreibungen unterstützt werden. Auch
nicht, wenn es um Vergewaltigungsopfer des »Isla-
mischen Staates« geht. Die US-Regierung forderte
die Streichung des Paragrafen, eines Kernstücks
der Resolution.
Heusgen ist 64 Jahre alt, 39 davon hat er im di-
plomatischen Dienst verbracht. Er ist Langstrecken-
läufer, fast jeden Morgen joggt er im Central Park,
im vergangenen Jahr ist er den New-York-Marathon
gelaufen. Heusgen weiß, wie man sich seine Kraft
einteilt, um ans Ziel zu kommen. Das gesamte
Wochenende hatte er mit den Amerikanern ver-
handelt, aber die hatten sich keinen Schritt auf ihn
zubewegt. Frauenorganisationen hatten Heusgen
gewarnt. Er solle nicht versuchen, liberale Standards
zu erweitern in Zeiten, in denen die USA sie überall
zurückfährt. Das berge große Gefahr. Denn letztlich
sitze Amerika mit seiner Vetomacht im Sicherheits-
rat am längeren Hebel. Sie sollten recht behalten.
Die einzige Formulierung, die Washington in dem
Paragrafen akzeptierte, fiel sogar hinter die Formu-
lierung einer alten Resolution aus dem Jahr 2013
zurück. Die USA wollten die Uhr zurückdrehen.
Sollte Heusgen das zulassen?
Zur Abstimmung hatte Heusgen Nadia Murad
eingeladen, die junge Jesidin, die vom IS versklavt
und vergewaltigt worden war. Für ihre Aufklärungs-
arbeit hatte sie 2018 den Friedensnobelpreis erhalten.
Auch Amal Clooney stand an jenem Morgen der
Abstimmung in Heusgens Büro, die Menschenrechts-
anwältin, die die Verbrechen des IS vor den Interna-
tionalen Strafgerichtshof bringen möchte. Heusgen
hatte die beiden Frauen gebeten, vor der Abstim-
mung im Sicherheitsrat zu sprechen. Diejenigen, die
an die Idee der UN glaubten, sahen im Auftritt der
Frauen ein bisschen Glamour und Aufmerksamkeit
für ein Organ, dessen Arbeit so gut wie keine Öffent-
lichkeit hat. Denjenigen, die die liberale Weltord-
nung für zunehmend unfair und überflüssig halten,
erschienen die Frau aus Hollywood, die Friedens-
nobelpreisträgerin und der deutsche Diplomat als
Vorzeigeexemplare der verhassten globalen Elite.
Heusgen hatte Clooney in Berlin kennengelernt,
wohin sie ihren Ehemann begleitet hatte, den Schau-
spieler George Clooney, der Angela Merkel treffen
wollte. Jene Frau, die die liberale Welt mit ihrer
Flüchtlingspolitik beeindruckt hatte.

Jetzt fragte Heusgen Amal Clooney und Nadia
Murad: Was würden sie tun? Würden sie den
Amerikanern nachgeben und den Paragrafen ver-
ändern? Oder würden sie die Resolution gar nicht
erst zur Abstimmung stellen?
Heusgen kennt Amerika gut. Er hat in Ohio
als Schüler ein Austauschjahr gemacht, in Georgia
studiert, 1983 übernahm er einen Posten im deut-
schen Generalkonsulat in Chicago. Heusgen lotste
Angela Merkel durch die NSA-Handyaffäre, im-
mer darauf bedacht, dass das Verhältnis zu den
USA keinen Schaden nimmt. Er war es, der für
die Bundesregierung mithilfe von Henry Kissinger
die ersten Kontakte in die Trump-Regierung
knüpfte – noch in der Hoffnung, man könne
dem neuen Präsidenten die deutsche Sicht der
Dinge näherbringen. Heusgen kennt Trumps
Drohungen, aus der WTO und aus der Nato aus-
zutreten. Dass die USA nun aber auch beim
Schutz der Frauen in Kriegsgebieten ausscherten,
bei einem Menschenrechtsthema also, das im
Jahr 2000 zum ersten Mal auf die Tagesordnung
der Vereinten Nationen gehoben wurde und in
bislang acht Resolutionen im Sicherheitsrat im-
mer einstimmige Unterstützung fand – das hatte
Heusgen nicht erwartet.
Am Ende eines langen Tages im Juli sitzt
Christoph Heusgen in seinem Büro und sagt
nach einigem Überlegen, dass die Verhandlung
über die Resolution 2467 sein bisheriger Tief-
punkt als UN-Botschafter gewesen sei. Er schaut
hinüber zu einer gigantischen roten Digitaluhr
auf der anderen Seite des East River in Queens,
einem Kunstprojekt. Es zeigt die noch verblei-
bende Regierungszeit von Donald Trump an, in

Tagen und Stunden. Als er vor knapp zwei Jahren
bei den UN begonnen habe, sagt Heusgen, habe
die Uhr bei 1299 Tagen gestanden. »Wenn ich im
September aus dem Sommerurlaub zurück bin,
wird die Zahl unter 500 liegen.« Ein verführeri-
scher Gedanke, dass man einfach nur warten
muss, bis die Welt wieder zu ihrer alten Ordnung
zurückfinden wird.
Nadia Murad und Amal Clooney hatten
Heusgen an jenem Morgen im April geraten, den
Amerikanern nachzugeben und die Resolution
ohne das Recht auf Abtreibung zur Abstimmung
zu stellen. In vielen anderen Bereichen stärke die
Resolution den Schutz der Frauen, argumentier-
ten die beiden. Sie gebe den UN endlich die
Möglichkeit, Fälle von sexueller Gewalt besser zu
verfolgen. Indem sie zum Beispiel festlege, dass
Polizisten auch das Opfer der Vergewaltigung an-
hören müssen. In vielen Ländern wird immer
noch versucht, das zu verbieten. Mit 13 der 15
Stimmen wurde die Resolution schließlich an-
genommen – mit der von den Amerikanern er-
zwungenen Änderung, China und Russland hat-
ten sich enthalten.
Heiko Maas’ Allianz für den Multilateralismus
sind bereits 50 Staaten beigetreten. Das verringert
nicht die Probleme des Multilateralismus, wenn er
auf die Wirklichkeit einer Großmacht trifft, welche
die Welt nach neuen Kriterien gestalten will.
Die Vereinten Nationen waren 1945 nach dem
Zweiten Weltkrieg gegründet worden, um den
Frieden in der Welt zu sichern. Doch jedem der
193 Staatschefs, die kürzlich zur 74. Vollversamm-
lung in New York eintrafen, ist klar, dass die UN
seit Jahren dieser Aufgabe eigentlich nicht mehr
gerecht werden. Im Sicherheitsrat können sich die
fünf Vetomächte, also die vier Siegermächte des
Zweiten Weltkrieges sowie China, in keinem
wichtigen Konflikt einigen. Nationale Interessen
vereiteln immer wieder ein gemeinsames Handeln.
Die Chinesen blockieren alles, was mit dem
Völkermord an den Rohingya in Myanmar zu tun
hat, denn sie finanzieren große Infrastruktur-
projekte in dem südostasiatischen Staat. Chinas
Unterdrückung der Uiguren wiederum traut sich
keiner im Rat anzuprangern. Alle vier Staaten be-
fürchten, dass China sie danach wirtschaftlich
benachteiligt. Die Russen verhindern alles, was
den Bürgerkrieg in Syrien betrifft, eine Untersu-
chung der Giftgasanschläge, Sanktionen, erst ver-
gangene Woche einen Aufruf zum Waffenstill-
stand. Denn Wladimir Putin verteidigt in Syrien
seinen Weltmachtanspruch. Und Donald Trump
sagte schon 2018 vor der UN-Vollversammlung,
dass Amerika »die Ideologie des Globalismus zu-
rückweist und die Doktrin des Patriotismus befür-
wortet«. Wie zum Beweis verlegte er kurz danach
die US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem,
obwohl das gegen eine UN-Resolution aus dem
Jahr 1980 verstieß. Und solche Resolutionen sind
bindendes Recht.

Seit der Gründung der UN hat sich die Welt
enorm verändert. Doch alle Versuche, die Organi-
sation an diese neue Welt anzupassen und den Si-
cherheitsrat zu reformieren, sind fehlgeschlagen.
So driften die Probleme der Welt und die UN
immer weiter aus ein an der. Und es entsteht eine
neue Ordnung.
Nach ihrem Ausscheiden aus den UN sagte
Nikki Haley in einem Interview, Resolutionen des
Sicherheitsrates hätten eigentlich keine Bedeutung
mehr. In gewisser Weise stimmt das. Die Verle-
gung der US-Botschaft nach Jerusalem sollte von
den UN in einer weiteren Resolution verurteilt
werden. Die Amerikaner blockierten sie mit ihrem
Veto. Gegen das Recht des Stärkeren ist die inter-
nationale Ordnung machtlos.
Spricht man in Washington mit Diplomaten, die
in Trumps Außenministerium arbeiten, dann wird
deutlich, wie schwer der deutsche Botschafter Heus-
gen es auch in Zukunft mit Trump haben wird – und
möglicherweise auch ohne ihn. »Der Ansatz, den er
bei den UN verfolgt, ist der, den er in Brüssel gelernt
hat«, sagt ein Diplomat. Heusgen war sechs Jahre
außenpolitischer Berater von Javier Solana im Euro-
päischen Rat. »Vertrauen aufbauen, verhandeln,
Kompromisse finden. Aber das funktioniert ja schon
in Brüssel nicht mehr. Und für die globalen Krisen
von heute ist es noch viel weniger geeignet.« Heißt
das, die UN sind überflüssig?
»Nein«, sagt Christoph Heusgen. »Ohne die
UN wäre die Welt ein erheblich unfriedlicherer
Ort.« Nicht nur, weil die UN die Vorarbeit für den
Atomwaffensperrvertrag geleistet oder die Pocken
weltweit ausgerottet hätten und das Gleiche nun
mit HIV versuchten. Sondern weil die Welt einen
Ort verlieren würde, an dem alle Nationen ständig
im Gespräch seien.
Es ist Ende Juli, und Heusgen ist erst vor ein
paar Tagen von einer Reise des Sicherheitsrats aus
Kolumbien nach New York zurückgekehrt. Jetzt
ist er auf dem Weg zu einer der vielen Sitzungen
im UN-Hauptgebäude. Heusgen sagt, dass die
Kämpfer der Farc in Kolumbien ihre Waffen mög-
licherweise nie abgelegt hätten, hätten die UN den
Friedensprozess nicht unterstützt. Den Friedens-
plan auch wirklich umsetzen muss nun allerdings
die dortige Regierung. Heusgen sagt: »Ohne poli-
tischen Willen der Kolumbianer können auch die
UN wenig machen.« Dann verschwindet er im
großen Saal des Sicherheitsrats.
Die UN werden Heusgens letzte Station als
Diplomat sein. 2020 wird er 65 Jahre und geht in
Pension. Bis dahin wird Heusgen versuchen, das
alte System, so gut es geht, gegen Trumps Nationa-
lismus zu verteidigen. Diese Aufgabe ist im Sep-
tember allerdings noch ein bisschen schwerer ge-
worden. Die USA schulden den UN mittlerweile
3,47 Mil liar den Dollar an Beitragszahlungen. Sollte
die Allianz des Multilateralismus da nicht ein-
springen, werden die UN viele ihrer Programme
zur Friedenserhaltung einstellen müssen.

DEUTSCHLAND ...


Amal Clooney und Nadia Murad
am 23. April auf Einladung
von Christoph Heusgen beim
UN-Sicherheitsrat

Fotos: Doerte Fitschen-Rath für DIE ZEIT; imago (u.)

2 POLITIK 14. NOVEMBER 2019 DIE ZEIT No 47

Free download pdf