Die Zeit - 14.07.2019

(Jacob Rumans) #1
Das Netz der Netze soll Strom und Internet miteinander verbinden

Foto: plainpicture; kleine Fotos (Ausschnitte): Getty Images; ddp; plainpicture (2); Eric Piermont/AFP/Getty (u.)


So sieht die Zukunft aus


Viele Deutsche fühlen sich vom Klimaschutz bedroht. Kein Wunder, meint der US-Vordenker Jeremy Rifkin: Ihnen fehlt eine kluge Erzählung VON UWE JEAN HEUSER


M


an kann sich Jeremy Rifkin
vorstellen wie den Igel im
Märchen Der Hase und der
Igel, in dem das Stacheltier
immer schon am Ziel
steht, wenn der Hase he-
raneilt. Der 74-jährige
Vordenker aus dem US-Staat Colorado ist immer
schon da. Internet? Sharing-Ökonomie? Grund-
einkommen und digitale Arbeit? Fleischloses
Essen? Klimawende und Wasserstoffrevolution?
Rifkin hat all die Trendthemen längst in Büchern
beschrieben, in Reden beschworen, in Beratung
von Firmen und Staaten umgesetzt. Auch in sei-
nem fortgeschrittenen Rentenalter kann er nicht
anders, als um die Welt zu reisen und Fortschritts-
feinden den Marsch zu blasen. Gerade ist er mit
seinem wichtigsten Thema unterwegs, dem Klima-
schutz. Der globale Green New Deal heißt sein
neues Buch, und es spricht eher für als gegen ihn,
dass er sich darin über weite Passagen wiederholt,
jetzt, da die Zeit reif wird für seine Vision.
Wie lange der Handelsreisende in Sachen Welt-
rettung schon unterwegs ist, lässt sich an Angela
Merkel ablesen. Kurz nachdem sie 2005 ins Kanz-
leramt eingezogen war, erhielt sie Besuch von Jeremy
Rifkin, der sich zwar politisch eher bei So zial demo-
kra ten als bei Konservativen zu Hause fühlt. Aber
Merkel liegt ja de facto irgendwo dazwischen. Rifkin,
so erinnert er sich, erklärte der deutschen Kanzlerin,
wie er sich die Zukunft vorstellte. Und da er davon
fast immer redet, wenn man ihn trifft, darf man das
getrost glauben.
Also erklärte Rifkin der Physikerin im Kanzler-
amt, dass alle Reformen Deutschland keinen dauer-
haften Wohlstand brächten – solange die damals noch
angeschlagene Volkswirtschaft weiter mit der Infra-
struktur der zweiten industriellen Revolution han-
tiere. Mit der Bemerkung ist Rifkin schon mittendrin
in seinem Thema und seiner Hauptthese.
Große wirtschaftlich-gesellschaftliche Umwäl-
zungen gehen demnach von der Infrastruktur aus.
Sie bestimmt, wie die Menschen kommunizieren,
sich und ihre Waren fortbewegen und Energie aus-
tauschen. Die erste industrielle Revolution brachte
mit der Dampfmaschine die Eisenbahn sowie die
schnelle Druckerpresse, das Telegrafensystem, die
Kohle als Schubmittel. »Wir bewegten uns von klei-
nen Städten und einer regionalen Agrargesellschaft
hin zu den nationalen Märkten einer Industriegesell-
schaft«, sagt Rifkin. »Dadurch änderte sich auch das
Regierungssystem, man brauchte Nationalstaaten.«
Die zweite industrielle Revolution brachte zuerst
das Telefon, das Radio und später das Fernsehen,
Elektrizität allerorten und Öl als dominierenden Roh-
stoff. Containerschiffe nahmen den Betrieb auf,
später Flugzeuge, die Globalisierung wurde das be-
herrschende Modell. Also musste die (westliche) Welt
mit dem Währungsfonds und der Weltbank oder

auch der Industrieländer-Organisation OECD neue
Institutionen dafür schaffen, die über den National-
staat hinausgehen.
Nun sind wir mitten in der dritten, der digital-
grünen Revolution. Das Internet war nur der Ein-
stieg, es geht auf in einem vielstufigen Netz für Daten
und Information, erneuerbare Energie, E- und Was-
serstoffautos, die von selbst fahren und sich auto-
matisch mit ein an der verbinden. Kommunikation.
Energie. Mobilität: Das braucht der Mensch, das
braucht die Wirtschaft, und das ist auch diesmal der
Rifkinsche Dreiklang des Wandels. Alles wird zu-
sammenwachsen zu einem riesigen, ultraschnellen
Netz, dem ultimativen Internet der Dinge.
Kommt es dazu, so wirbelt das vermutlich erneut
die Gesellschaft dramatisch durch ein an der – und
das nicht nur, weil viele Jobs verloren gehen und
viele andere entstehen. Zum Globalen kommt das
Lokale, so sieht es Rifkins Vision vor: Über das Netz
der Netze würden auch richtig kleine Unternehmen
und Regionen am Weltgeschehen teilnehmen. In
den einzelnen Kommunen würden Bürger, Staat und
Wirtschaft in Kooperativen zusammenarbeiten,
selbst Energie erzeugen und verteilen, lokale Netze
je nach Bedarf ausbauen. Einen Beleg für die große
Ermächtigung der Kleinen sieht Rifkin in den
Unabhängigkeitsbewegungen von Schottland über
Katalonien bis Quebec. Ökonomisch steht ihnen
praktisch nichts mehr im Wege, kleine Einheiten
können große Erfolge erreichen.
Die neue Wirtschaft ist Rifkin zufolge viel effi-
zienter als die alte, die ihr Potenzial weitgehend aus-
geschöpft hat: Noch ein bisschen weniger Spritver-
brauch, noch etwas mehr Effizienz beim Heizen und
beim Strom – doch das war’s dann. Erst im neuen
System kann wieder neuer Wohlstand entstehen.
Der Technovisionär Jeremy Rifkin ist alles ande-
re als unumstritten. Naturwissenschaftlern geht er zu
forsch mit ihren Ergebnissen um, Sozialkritikern ist
er zu technologiegläubig, Marktwirtschaftlern zu
links. Aber er stellt große und wichtige Fragen: Geht
Zukunft ohne nationales Projekt? Kann man ihr ohne
Vision begegnen? Gerade weil das Fragen sind, die
am Selbstverständnis der Bundesrepublik rühren,
sind sie bedeutsam.
Politisch gesehen passt das föderale Deutschland
mit den so einflussreichen Bundesländern und Kom-
munen eigentlich hervorragend zu dem dezentralen
System, das Rifkin vorschwebt. Angela Merkel habe
das damals gleich gesehen, lobt der Amerikaner,
eigentlich ein Freund der progressiven SPD-Leute
Steinmeier und Gabriel. Er war angetan von der Auf-
fassungsgabe der neuen deutschen Kanzlerin.
Wie fast alle Klimaretter, die schon länger im Ge-
schäft sind, ist der Amerikaner ein Deutschland-Fan.
Hier wurde grüne Energie groß. Hier verabschiedete
Rot-Grün 1999 die erste Ökosteuer. Es war Deutsch-
land, das 2007 die 20/20/20-Regel in Europa auf den
Weg brachte, wonach die EU bis zum Jahr 2020 die

CO₂-Emissionen gegenüber 1990 um 20 Prozent
senken und den Anteil der erneuerbaren Energie auf
20 Prozent steigern sollte.
Und doch kommt Deutschland in den vergange-
nen Jahren beim Klimaschutz kaum vom Fleck. Ja,
es gab die Weltfinanzkrise, die alle hemmte. Aber die
Chinesen, die Kalifornier, die Skandinavier – sie alle
sind in Sachen Veränderungsgeschwindigkeit an den
Pionieren der grünen Wirtschaft vorbeigezogen.
Merkel hat viel verstanden und wenig gehandelt, und
die deutsche Wirtschaft badete lieber im Erfolg als
führender Maschinen- und Autoexporteur.
Rifkin hält den Deutschen zugute, dass sie jetzt
den Ausstieg aus der so klimaschädlichen Kohle fest-
gelegt und den betroffenen Regionen 40 Mil liar den
Euro für den Strukturwandel versprochen haben.
Zukunftsweisend sei auch, dass die Regierung ein
modernes bundesweites Energienetz entwickelt, das
Wind- und Sonnenenergie durchs Land dorthin

leiten kann, wo sie gerade gebraucht wird. Aber dass
Deutschland insgesamt so langsam vorankommt, dass
Dutzende Bürgerinitiativen sich dem Energienetz in
den Weg stellen, dass die Energieversorger so lange
mit dem Wandel gewartet haben – für Rifkin liegt
das vor allem daran, dass den Deutschen eine
Erzählung für den großen Umbruch fehle.
Seiner Erfahrung nach sind die Chinesen ganz
anders. Sie hätten schnell verstanden, welche Chance
im digital-ökologischen Supernetz liegt. Dem Projekt
der neuen eurasischen Seidenstraße hätten sie den
Titel »grün« hinzugefügt und zu Hause den Plan für
die Infrastruktur verändert. Und das alles, obwohl
das neue Netz eigentlich der Pekinger Philosophie
zuwiderlaufe. Es lasse sich gar nicht von oben kon-
trollieren, meint Rifkin. Wenn sich Sonnenenergie
auf jedem Dach herstellen und einspeisen lässt, wenn
jeder Ort sich nach den eigenen Gegebenheiten

weiterentwickelt, dann entziehen sich die Menschen
zum Teil zentraler Macht, wie er glaubt.
An der Stelle sollte man wohl vorsichtig sein. Ähn-
liches wurde schon vom Internet behauptet. China
hat den Datenverkehr seiner 1,3 Mil liar den Bürger
unter Kontrolle, und über weltweite Plattformen wie
Face book nehmen halbstaatliche Saboteure sogar Ein-
fluss auf nationale Wahlen in anderen Ländern.
Niemand weiß also, wie verletzlich das Internet aller
Dinge durch dunkle Mächte werden wird.
Doch dass sich Rifkins technische Vision irgend-
wann erfüllt, mit allen Chancen und Gefahren, ist
durchaus glaubhaft. Schon heute sind Mil liar den
Sensoren an den Straßen und in den Autos verbaut,
die deutschen Autokonzerne investieren jeweils zwei-
stellige Mil liar den sum men in E-Autos und entwickeln
neue Sharing- und Nahverkehrskonzepte. Firmen,
Kommunen und Bürger werden zu Energieprodu-
zenten, und die jüngeren Digital Na tives sind schon
ans Teilen von Informationen übers Internet gewöhnt.
Glaubhaft ist auch die Einschätzung, dass die
Deutschen – angefangen bei ihrer Kanzlerin – große
Zukunftsgeschichten nicht sonderlich mögen. Doch
genau dadurch, so die Botschaft von Rifkin, dem
größten Geschichtenerzähler unter den Weltrettern,
kommt Deutschland zu spät zum Rendezvous mit
der Geschichte, wird bei der großen Wende besten-
falls vom Pionier zum Follower. Ist ja auch einleuch-
tend: Wenn alle Veränderung Stückwerk bleibt und
nicht von einer gemeinsamen Story zusammengehal-
ten wird, ist jeder Schritt ein Grund zur Sorge. Der
Umgang mit dem Internet und seinen Daten zum
Beispiel. Auch der Ausbau der Netze, die Einführung
einer CO₂-Steuer. Und selbst Technikträume wie
selbstfahrende Autos und selbstfliegende Taxis. In
einer solchen Stimmung wird mehr reguliert als re-
formiert, mehr debattiert als innoviert.
Nun hatte Merkel nicht nur Besuch von Rifkin.
Klimaforscher liegen ihr damit in den Ohren, dass
die Deutschen noch vor 2050 klimaneutral werden
müssten, um die Erde zu retten. Ökonomen erzählen
ihr, dass sie dafür nur den Preis für klimaschädliche
Emissionen durch Steuern erhöhen müsse und sich
das meiste dadurch von selbst verändere. Rifkin sagt,
sie hätten damit immer noch keine zusammenhän-
gende Erzählung zu bieten. Keine positive Geschich-
te von einer Zukunft, in der ein dezentrales System
den Menschen neue Freiheiten und eine neue Einheit
mit der Natur ermöglicht. Keine Zielvorstellung, die
solche Großanstrengungen wie den Bau einer neuen
Infrastruktur lohnend erscheinen lässt.
Währenddessen tut der Markt schon das Seine
und sorgt dafür, dass erneuerbare Energie im Wett-
bewerb langsam die Oberhand gewinnt. Deutsche
Firmen starteten einst mit der Produktion von Solar-
panels, dann haben die Chinesen die Kosten radikal
vermindert. Was die hiesigen Hersteller Dumping
nennen, trieb eine Preisrevolution voran. In nicht
allzu ferner Zukunft könnten die fossilen Brenn-

stoffe schon deshalb ihre Bedeutung verlieren. »Gas«,
sagt Rifkin trocken, »lohnt sich bald nicht mehr.«
Eigentlich erfreulich, aber hier beginnt Rifkins
Horrorszenario: Die fossile Welt löst sich aus Preis-
gründen auf, Pipe lines werden geschlossen, alte Ener-
gieleitungen werden obsolet. Und es gibt keine Neuen!
Man stelle sich also vor, die Revolution, auf die
alle Klimaschützer gewartet haben, kommt, und die
Infrastruktur ist nicht da. Laut Rifkin muss der Staat
sie bauen, schnell und entschlossen. Überlässt man
dagegen alles dem Markt, kommt die Wende zu spät
oder wird durch Monopolfirmen ausgebeutet. Damit
das Projekt gelingen kann, bedarf es eben der großen
Erzählung, sonst verliert man erstens die Menschen
und vermasselt zweitens die Ökowende.
Rifkin verbreitet seine Botschaft, wo er kann.
Doch Politiker hören ihm, wenn überhaupt, nur zur
Hälfte zu. In den USA investieren liberale Groß-
städte nicht mehr in fossile Energie und machen sich
so zum Teil der Divestment-Bewegung, die den
finanziellen Rückzug aus der CO₂-Wirtschaft propa-
giert. Aber das heißt für Rifkin noch nicht, dass ihre
frei werdenden Mittel gezielt in die Ökowende in-
vestieren. Eher als Bürgermeister fragen ihn Family-
Offices, die das Vermögen reicher Leute managen,
wie das geht: in die Ökowende investieren.
Und, wie geht das? Nun ja, sagt er vage, sein Geld
eben auf alle Bereiche der neuen Netze und der
Technologien, die damit zu tun haben, verteilen.
Jetzt soll Deutschland investieren, das Land, auf
das Rifkin auch weiterhin nichts kommen lässt. Deut-
sche Ingenieure seien in China von allen am besten
angesehen, sagt er zum Beispiel. Trotzdem scheinen
sie gerade das Rennen um die grün-digitale Zukunft
zu verlieren. Im Land mischt sich die dominante Sor-
ge vor Datenmissbrauch mit Wandelmüdigkeit und
Besserwisserei. Dazu die schlechte Erfahrung der hei-
mischen Solarbranche und die Angst davor, dass eine
forsche Klimawende der AfD die Verlierer zutriebe.
Die Hoffnung liegt in der Rückschau: In Deutsch-
land herrschte vor 20 Jahren schon einmal die Über-
zeugung, dass nicht nur die Welt dringend ohne das
Klimagift CO₂ auskommen muss, sondern die Pio-
niere dieser Bewegung auch neuen Wohlstand und
neue Jobs schaffen. Auf wen also soll Angela Merkels
Nachfolger(in) nun hören, um diesen Pioniergeist
wieder zu beleben? Nur auf die heimischen Klima-
experten. Vielleicht bedarf es neben schlimmer Pro-
gno sen, neben neuer Steuern und Förderkonzepte
wirklich einer Story. Vielleicht braucht es einen Rifkin.
Der be endet das Treffen in Berlin fast lakonisch. »Wir
haben 20 Jahre, um diesen schönen Planeten zu ret-
ten«, sagt er leise lächelnd. »Ich hoffe, es gelingt.«

Von Jeremy Rif kin erschien kürzlich:
Der globale Green New Deal.
Campus Verlag, Frankfurt/Main 2019; 320 S.

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»Wir haben 20 Jahre,


um diesen schönen


Planeten zu retten. Ich


hoffe, es gelingt«


Jeremy Rif kin

24 WIRTSCHAFT 14. NOVEMBER 2019 DIE ZEIT No 47

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