Die Zeit - 14.07.2019

(Jacob Rumans) #1

DIE ZEIT: Herr Rürup, die Grundrente soll jetzt
kommen. Was halten Sie davon?
Bert Rürup: Ich halte das für einen überraschend
vernünftigen Kompromiss. Es ist mir unver-
ständlich, mit welcher Vehemenz er von der Op-
position und von Teilen der Union immer noch
abgelehnt wird.
ZEIT: Wer 35 Jahre gearbeitet hat, der hat An-
spruch auf die neue Rente. Wer nur auf 34 Jahre
kommt, der geht leer aus. Ist das denn gerecht?
Rürup: Das ist ein Totschlagargument. Wer so
argumentiert, muss auch behaupten, dass es un-
gerecht war, dass das Elterngeld nur an Eltern
gezahlt wird, deren Kinder ab 2007 geboren
wurden. Stichtage sind in der Gesetzgebung not-
wendig. Im Übrigen ist man auf diese Kritik
durch die Einrichtung einer Gleitzone ein Stück
weit eingegangen.
ZEIT: Die Auszahlung der Rente ist an eine Prü-
fung des Einkommens gekoppelt, nicht jedoch
des Vermögens. Damit erhalten auch Reiche die
Grundrente. Noch einmal: Ist das gerecht?
Rürup: Ursprünglich wollte die SPD überhaupt
keine Bedarfsprüfung. Das hätte ich für falsch
gehalten. Wichtiger aber ist: Mit der Grundrente
werden die Koordinaten unseres Rentensystems
ein Stück weit verschoben.
ZEIT: Inwiefern?
Rürup: Das Grundprinzip dieses Systems stammt
aus dem Jahr 1957. Damals war die dauerhafte
Vollzeitbeschäftigung die Regel, Massenarbeits-
losigkeit war vergessen, und die Lohnunterschie-
de waren geringer als heute. Zudem konnte man
sich nicht vorstellen, dass ein Rentensystem in
Schwierigkeiten geriete, weil irgendwann einmal
nicht genug Kinder geboren werden. Aus dieser
Zeit stammt die Festsetzung der Renten nach der
Höhe der zuvor eingezahlten Beiträge, das so ge-
nannte Äquivalenzprinzip.
ZEIT: Das klingt doch erst einmal gerecht.
Rürup: Was heißt denn in diesem Zusammen-
hang gerecht? Gerechtigkeit ist eine gesellschaft-
liche Konvention, die sich im Zeitverlauf ändern
kann. In einer jungen Gesellschaft versteht man
darunter womöglich etwas anderes als in einer
alternden Gesellschaft. Die Frage muss sein:
Wird das Rentensystem den heutigen sozioöko-
nomischen Realitäten noch gerecht?
ZEIT: Sie bezweifeln das?
Rürup: Ich halte die strikte Orientierung am
Äquivalenzprinzip vor dem Hintergrund eines
postindustriellen Arbeitsmarkts für nicht mehr
zukunftsfähig. Heute haben wir es mit unsteten
Erwerbsbiografien, einem großen Niedriglohn-
sektor und einem häufigen Wechsel zwischen
selbstständiger und abhängiger Beschäftigung zu
tun. Die Digitalisierung wird diese Entwicklung
noch einmal beschleunigen.
ZEIT: Was folgt Ihrer Meinung nach daraus?
Rürup: Die Rente müsste verstärkt auf die Ver-
meidung von Altersarmut ausgerichtet werden.


In den meisten entwickelten Industrienationen
wird innerhalb des Rentensystems viel stärker
umverteilt als hierzulande: Die Rente von Ge-
ringverdienern wird gemessen an den eingezahl-
ten Beiträgen aufgewertet, dagegen setzt sich
das Einkommen von Gutverdienern nicht in
dem Maße in höhere Rente um wie in Deutsch-
land. Mit Ausnahme von Mexiko erhalten Ge-
ringverdiener in keinem anderen Industrieland
einen so niedrigen Prozentsatz ihres Lohnes als
Rente ausbezahlt wie in Deutschland. Sie kön-
nen einem Schweizer oder einem Niederländer
die Vorteilhaftigkeit des Äquivalenzprinzips
nicht erklären.
ZEIT: Studien zeigen, dass Altersarmut noch
kein gravierendes Problem in Deutschland ist.
Rürup: Richtig, aber das wird sich ändern – nicht
zuletzt in den neuen Ländern. Die Grundrente
ist ein Stück weit ein Vorgriff auf künftige Pro-
bleme. Es gab in Deutschland seit 1957 über 60
Rentenreformen, 20 waren große Reformen,
fünf davon hat man als Jahrhundertreformen
bezeichnet. Keine dieser großen Reformen hielt
länger als eineinhalb Legislaturperioden. Renten-
politik besteht zu einem großen Teil immer da-
rin, das Rentensystem an geänderte ökonomi-
sche Rahmenbedingungen und Gerechtigkeits-
vorstellungen anzupassen.
ZEIT: Bisher ist die Philosophie: Die Rente
orien tiert sich an den Beiträgen, und Umvertei-
lung wird über das Steuersystem organisiert.
Rürup: In der Praxis ist das längst nicht mehr so
eindeutig der Fall. Jeder der 21 Millionen Ren-
tenbezieher erhält rechnerisch im Durchschnitt
etwa 400 Euro monatlich aus Steuergeld. Das
Äquivalenzprinzip wird längst verwässert.
ZEIT: Ist die Grundrente wenigstens solide fi-
nanziert?
Rürup: Derzeit noch nicht. Sie soll ja aus den
Einnahmen aus der Finanztransaktionssteuer
bezahlt werden. Die gibt es aber noch nicht. Der
Staat schwimmt jedoch in Geld. Im derzeit aus-
laufenden Konjunkturaufschwung sind sehr vie-
le neue Arbeitsplätze entstanden, und der Ab-
schwung hat bislang weder Jobs gekostet noch
die Löhne gedrückt. Die eigentliche Herausfor-
derung beginnt Mitte des kommenden Jahr-
zehnts, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in
den Ruhestand wechseln.
ZEIT: Und dann erst stellt sich heraus, ob die
Grundrente solide finanziert ist?
Rürup: Bis dahin ist bestimmt schon nachjustiert
worden. Diese Reform ist genau wie etwa die
Rente ab 63 und die Mütterrente das politische
Echo der günstigen Finanzlage. Weil die Ein-
nahmen hoch sind, kann man sich diese Politik
leisten. Aber ich wage die Prognose, dass man-
ches davon nach 2025 wieder eingesammelt
werden wird.
ZEIT: Laut Bundesbank muss das Rentenalter
auf 69 Jahre steigen. Stimmt das?

»Gerechtigkeit ist


eine Konvention«


Die Grundrente ist der erste Schritt zu einem neuen Rentensystem,


sagt der langjährige Regierungsberater Bert Rürup


Heute sind nur wenige
Rentner arm, doch in
Zukunft könnte sich
das ändern

Fotos: Norman Hoppenheit; imago (u.)

Rürup: Das stimmt, sofern man das Werturteil der
Bundesbankökonomen teilt, dass die Kosten der
steigenden Lebenserwartung zu festen Anteilen auf
Erwerbstätige und Rentner verteilt werden sollen.
ZEIT: Was wäre denn die Alternative?
Rürup: Man könnte die Beiträge heraufsetzen, die
Rentenleistungen kürzen oder die Bundeszuschüsse
erhöhen. Ich glaube, dass es langfristig bei den im
Jahr 2030 erreichten 67 Jahren nicht bleiben wird.
ZEIT: Lässt sich das Problem entschärfen, wenn
man die private Vorsorge stärkt?
Rürup: Das Finanzierungsproblem der Rentenver-
sicherung lässt sich dadurch nicht lösen, wohl aber
das Niveau der Altersversorgung verbessern.
ZEIT: Wie könnte das gehen?
Rürup: Denkbar wäre eine gemeinnützige Stiftung,
die Vorsorgekonten einrichtet und verwaltet. Sie
könnte dann abhängig vom individuellen Lebens-
alter der Vorsorgesparer Teile des ihr anvertrauten

Geldes in risikobehaftete Anlagen mit hoher Rendi-
te wie Aktien investieren.
ZEIT: Ist es dann nicht verrückt, wenn die Grund-
rente durch eine Finanztransaktionssteuer finan-
ziert werden soll, die den Aktienhandel bestraft?
Rürup: Das ist in der Tat nicht sehr zielführend,
denn diese Steuer könnte dazu führen, dass Aktien
vermehrt im Ausland gehandelt werden.
ZEIT: Viele werden sagen, Aktien seien zu unsicher
für die Altersvorsorge.
Rürup: Die Deutschen haben geradezu eine Aver-
sion gegen Aktien. Und was ist das Ergebnis? Die
Sparquote in Deutschland ist im internationalen
Vergleich sehr hoch, aber das durchschnittliche
Geldvermögen der privaten Haushalte ist relativ
gering. Die Deutschen sparen viel, aber oft falsch.
Im Übrigen haben die Länder, in denen eine kapi-
talgedeckte Säule eine größere Rolle spielt, im
Schnitt eine höhere Altersversorgung als wir.

ZEIT: Viele Jüngere sagen: Es werden dauernd Ren-
tenreformen für die Älteren beschlossen.
Rürup: Für die jüngste Vergangenheit haben Sie si-
cher recht, aber verwunderlich ist das nicht. Die
Wähler werden immer älter, und die Politik richtet
sich in einer Demokratie an den Wünschen der
Wähler aus. Mit der heutigen Altersstruktur hätten
wir die Rentenreformen des vergangenen Jahr-
zehnts vielleicht nicht durchsetzen können. Man
mag das problematisch finden. Aber wer das nicht
akzeptiert, träumt von einem weisen Diktator.

Die Fragen stellten Kolja Rudzio und Mark Schieritz

Die Grundrente soll ab Januar 2021 ausge-
zahlt werden, ein Antrag ist nicht erforderlich.
Geschätzte 1,2 bis 1,5 Millionen Senioren sol-
len davon profitieren. Dazu müssen sie drei
Bedingungen erfüllen: Sie haben mindestens
35 Jahre mit Beitragszeiten in der Rentenver-
sicherung vorzuweisen, dabei zählen auch
Kindererziehung oder die Pflege von Ange-
hörigen. Außerdem müssen die eigenen Ren-
teneinzahlungen höher sein als 30 Prozent des
Durchschnittswerts aller Rentner und niedri-
ger als 80 Prozent. Und das gesamte eigene

Einkommen – also etwa aus Rente, Betriebs-
rente oder Mieteinnahmen – darf bei Allein-
stehenden 1250 Euro nicht deutlich über-
schreiten, bei Paaren 1950 Euro. Eine noch
nicht definierte »Gleitzone« soll auch eine
Grundrente ermöglichen, wenn jemand diese
Bedingungen nur knapp verfehlt. Die Grund-
rente selbst wird nach einer komplizierten
Formel berechnet. Laut Sozialministerium be-
käme etwa eine Friseurin, die 40 Jahre lang 40
Prozent des Durchschnittslohns verdient hat,
statt 529 Euro Rente dann 934 Euro.

Wer bekommt die Grundrente?


Bert Rürup ist Präsident des Handels-
blatt Research Institute, das zur DvH
Medien GmbH gehört, die auch an
der ZEIT beteiligt ist

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  1. NOVEMBER 2019 DIE ZEIT No 47 WIRTSCHAFT 27


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