Die Zeit - 14.07.2019

(Jacob Rumans) #1
Adversarial patches nennen sie diese, was man als
»feindselige Aufkleber« übersetzen könnte. »Für
die Berechnung eines Patch brauchen wir hier
vier Stunden«, berichtet der Doktorand Anurag
Ranjan, einer der Autoren. Das Team habe an
einem optical flow-System mit KI ausprobiert,
welches »optimale Muster die größte Störung
verursacht«.
Die Zweckentfremdung eines KI-Systems zur
Erzeugung einer digitalen Ablenkung für ein
anderes KI-System – der Versuchsaufbau klingt
schon speziell. Was soll man davon halten?
»Das ist ganz relevant«, sagt der Informatik-
Professor Klaus-Robert Müller, der an der TU
Berlin die Schwächen von KI erforscht. Dass
man sie hinters Licht führen könne, wie im
Stoppschild-Beispiel, sei bekannt. Dass die Tü-
binger Forscher dies jetzt auf Bewegungsdaten
übertragen konnten, sei »beeindruckend, ver-
wundert mich aber eigentlich überhaupt nicht«.
Er sagt auch: »Vor einem Einsatz in der Praxis
hätte ich momentan weniger Angst. Normaler-
weise werden verschiedene Aufgaben von unter-
schiedlichen Modellen gelöst.« Und welches wo
eingesetzt werde, wisse ein Angreifer in der Regel
nicht. Dass Schurken am Straßenrand Pkw-Auto-
piloten zum Halluzinieren bringen, ist also zu-
mindest kein akutes Szenario. Für die Zukunft
aber, mahnt Müller, müsse auf solche Schwächen
getestet werden. »Das ist zentral, wenn wir immer
mehr KI im Alltag sehen.«
Die Informatikerin Katharina Zweig, die an
der Universität Kaiserslautern das Algorithm
Accountability Lab leitet und wie Müller nicht
an der Tübinger Studie beteiligt war, betont:
»Adversarial attacks sind sehr ernst zu nehmen,
da wir bei tiefen neuronalen Netzwerken nicht
genau wissen, worauf sie eigentlich ansprechen,
und einige von ihnen extrem leicht und für
Menschen unmerklich zu verwirren sind.«
Für den Laien mag es seltsam erscheinen, dass
selbst Fachleute nicht wissen, was eine Software
warum tut. Doch Experten sehen ausgerechnet
darin einen Weg zum Erkenntnisgewinn über
neuronale Netze – jene Technik, auf welcher der
aktuelle KI-Hype beruht. Sie tragen die Anma-
ßung im Namen, dass sie einem biologischen

Gehirn mit seinen Nervenzellen (Neuronen)
nachempfunden sind.
Tatsächlich verarbeitet jedes künstliche
Neuron in so einem Netz nur eine kleine In for-
ma tions ein heit und reicht sein Ergebnis ans
nächste weiter und weiter und weiter ... Man
kann sich das vorstellen wie Maschen, die in
vielen Lagen übereinander liegen. Wegen die-
ser Vielschichtigkeit sprechen die Experten von
»tiefen Netzen«.
Bei der Bilderkennung etwa geht es in den
oberen Schichten um Dinge wie: Enthält ein be-
stimmter Bildausschnitt eine Kante? Eine be-
stimmte Farbe? Ein bekanntes Muster? Tiefer im
Netz wird verglichen: In welchen Testbildern,
mit denen das System zuvor trainiert wurde,
kam so eine Kombination von Eigenschaften
vor? Zu welcher Kategorie gehörte es? Unten
kommt dann ein Ergebnis heraus: Wahrschein-
lich zeigt das Foto eine Banane, einen Panda, ein
Stoppschild ...
Wenn eine kleine Störung die Rechenschritte
zu einem falschen Endergebnis lenkt, sagen die
Experten, das Netz sei nicht »robust« genug.
»Das Beispiel der Tübinger zeigt sehr gut, wie
man mangelnde Robustheit offenlegen kann«,
sagt Müller. »Das sollte man positiv sehen!«
Tatsächlich haben die Tübinger MPI-For-
scher bei ihren Experimenten festgestellt: Ältere
Systeme zur Bewegungserkennung sind weniger
anfällig und nicht alle neuen Systeme gleicher-
maßen empfindlich. En passant stellen sie in ih-
rem Attacken-Aufsatz einen neuen Test vor, um
die Abläufe in tiefen neuronalen Netzen nach-
vollziehbar zu machen: »Er enthüllt das innere
Verhalten des Netzes.«
Das ist durchaus eine Pointe.
An dieser Stelle stimmt die anmaßende Ana-
logie zum biologischen Gehirn. Die tiefen neu-
ronalen Netze galten lange als Blackbox, ihre ge-
nauen Abläufe waren für den Menschen kaum
nachvollziehbar. Das erinnert an die Situation
von Ärzten früherer Zeiten: Für sie war das Ge-
hirn ein großes Rätsel. Ausgerechnet Hirnverlet-
zungen und -störungen verrieten ihnen etwas
über dessen generelle Arbeitsweise.
Genauso helfen jetzt die maschinellen Hallu-
zinationen den Informatikern dabei, die Arbeit
der KI zu verstehen.

In Deutschland kam die
Babyboomer-Generation
später als in Amerika.
Der Jahrgang 1964 war der
geburtenstärkste überhaupt

Foto (Ausschnitt): Manfred Uhlenhut/ddrbildarchiv.de/ullstein bild

»OK, Boomer«


In den USA steht eine neue Redewendung für den Konflikt zwischen Jung und Alt. Droht der auch in Deutschland? VON KATHARINA MENNE


Was wir wissen Was wir nicht wissen


GENERATIONEN


E


s sind zwei Wörter. »OK, Boomer«. Ver-
breitet als Antwort auf ein mittlerweile
millionenfach über die soziale Plattform
TikTok geteiltes Kurzvideo, in dem ein
weißhaariger Mann mit Baseballmütze und Polo-
shirt sagt: »Die Millennials und die Generation Z
haben das Peter-Pan-Syndrom, sie wollen nie er-
wachsen werden.«
»Boomer« – damit ist die geburtenstarke
Nachkriegsgeneration gemeint, sichtbar als Beule
in der demografischen Alterspyramide. Auf der
anderen Seite stehen deren Kinder und Enkel,
die Millennials, geboren zwischen 1980 und
1995, und die noch jüngere Generation Z. Letz-
tere ist die erste Altersgruppe, die von Geburt an
mit digitalen Technologien aufwuchs.
In den vergangenen Wochen hat »OK, Boo-
mer« eine beeindruckende Karriere hingelegt und
ist in den USA von einem Internetphänomen
zum geflügelten Wort einer ganzen Generation
geworden. Teenager antworten damit auf You-
Tube-Videos, auf Tweets von Donald Trump
und auf alle über 30-Jährigen, die etwas Herab-
lassendes über junge Menschen sagen. Der Aus-
ruf erreichte sogar eine Debatte im neuseeländi-
schen Parlament. Und auch in Deutschland wird
darüber diskutiert.
Aber indiziert »OK, Boomer« tatsächlich einen
neuen Generationenkrieg, wie die New York Times
schreibt? Ist es die »Kampfansage Millionen ge-
nervter Teenager«?
In Deutschland sei das zumindest unwahr-
scheinlich, sagt der Bildungs- und Sozialforscher
Klaus Hurrelmann. Hier wolle die Jugend Kon-
flikte konstruktiv aushandeln und diskutieren.
Das zeige die Fridays-for-Future-Bewegung, die
zwar der Eltern- und Großelterngeneration ins
Gewissen redet und die kurzsichtige Politik ver-


gangener Jahrzehnte anprangert, aber das bislang
ohne Krawall.
Hurrelmann ist Mitautor der Shell Jugend-
studie, die seit 1953 Einstellungen, Werte und
So zial ver hal ten von Jugendlichen untersucht.
Und laut der neuesten Erhebung politisiert sich
die Jugend wieder. Drei bis fünf Prozent der
Schüler, Azubis und Studenten engagierten sich
aktiv für den Klimaschutz, sagt Hurrelmann.
Weitere 20 bis 25 Prozent ließen sich zumindest
von den Protesten mitreißen.
Eine leichte Generationenunwucht lässt sich
jedoch am Wahlverhalten bei der Europawahl
ablesen. Im Mai wählten 35 Prozent der 18- bis
24-Jährigen die Grünen und damit eine härtere
Klimapolitik, aber nur 17 Prozent der 60- bis
69-Jährigen. Die Unionsparteien konnten nur
12 Prozent der jungen Wähler von sich überzeu-
gen, aber 31 Prozent der älteren.
Allerdings sind die unter 25-Jährigen hierzu-
lande mit rund 20,8 Millionen in der Minderheit
gegenüber 28,1 Millionen 50- bis 75-Jährigen –
und die meisten der Jüngeren dürfen nicht
wählen. Der selbst ernannte Zukunftslobbyist
und Buchautor Wolfgang Gründinger fordert
deshalb ein Kinderwahlrecht und eine Jugend-
quote in den Parteien. Bei vielen Volksabstim-
mungen habe sich gezeigt, dass die Jungen keine
Chance hätten gegen die zahlenmäßig überlege-
nen Alten, kritisiert er. »Wenn es um ihre Zu-
kunft geht, sollten sie mitsprechen dürfen.«
Dass alle Proteste der Jugend bislang friedlich
verlaufen sind, liegt wahrscheinlich an dem guten
Verhältnis der Kinder zu ihren Eltern. Das kann
Klaus Hurrelmann mit Zahlen untermauern. 92
Prozent der 12- bis 25-Jährigen kämen gut oder
bestens mit den Eltern aus, sagen sie. Von einem
echten Generationenkonflikt also keine Spur, oder?

O


b es zu Konflikten wie Ende der Sech-
zigerjahre kommt und, falls ja, wann,
ist unmöglich vorherzusagen. Zu-
nächst einmal: Für eine vergleichbare
Eskalation wie damals fehlt im heutigen Kontext
die akute Sprengkraft. Unstrittig liegt die größte
Ungewissheit im Miteinander der Generationen
in der künftigen Entwicklung. So zeichnete sich in
den Ergebnissen der Shell Jugendstudien der ver-
gangenen Jahre zwar bereits ein steigendes politi-
sches Interesse der Jugendlichen ab, die Zugkraft
der Fridays-for-Future-Bewegung und ein damit
möglicherweise einhergehendes Konfliktpotenzial
konnte und kann jedoch niemand vorhersehen.
Denn Wirtschafts-, Flüchtlings- und vor al-
lem die Klimakrise haben tiefe Spuren und eine
wachsende Verunsicherung bei den jungen Men-
schen hinterlassen. Selbst Gutverdiener können
sich in Stadtnähe kaum noch Immobilien leis-
ten, Sparen lohnt sich aufgrund der Niedrigzins-
lage nicht, und der aktuelle Konsum- und Mobi-
litätsstil beutet die irdischen Ressourcen aus.
Genau hieran könnte sich der Konflikt entzün-
den. Millennials und Generation Z haben das
Gefühl, sie müssten ausbaden, was ihnen die
Generationen davor, in ganz besonderem Aus-
maß die Babyboomer, eingebrockt haben.
Während die Millennials und ihr Blick auf die
Welt jedoch gut untersucht sind, gibt es zur Ge-
neration Z nur wenige Studien. Wie die Digital
Natives ticken, die eine Welt ohne Internet,
Smartphone und soziale Netzwerke überhaupt
nicht kennengelernt haben, weiß man noch nicht
genau.
Außerdem sollte man misstrauisch sein, wenn
Phänomene aus den USA einfach auf Deutsch-
land projiziert werden. Im Fall von »OK, Boo-
mer« gilt das besonders. Denn hier ist es wichtig

zu unterscheiden, wer in Amerika zur Baby-
boomer-Generation zählt und wer hierzulande:
In Deutschland waren, nachdem die Not der
Nachkriegsjahre dem Wirtschaftswunder wich,
die Jahrgänge von 1955 bis 1969 besonders ge-
burtenstark. Nie wurden hier mehr Kinder in ei-
nem Jahr geboren als 1964. In den USA hingegen
setzte der Geburtenboom bereits zehn Jahre
früher ein. Dort sind die Kinder von damals, die
»Boomer«, also bereits mehrheitlich im Renten-
alter, während sie hierzulande noch zur erwerbs-
fähigen Bevölkerung gehören – ein und dasselbe
Wort steht also für unterschiedliche deutsche und
amerikanische Alterskohorten.
Darüber hinaus ist in den USA die gesellschaft-
liche Gesamtsituation wesentlich angespannter.
Einerseits werden dort die Millennials als »Snow-
flakes« – als arbeitsscheue, verweichlichte Egozen-
triker – diskreditiert. Andererseits müssen sie hor-
rende Studienkredite aufnehmen, um überhaupt
eine Ausbildung finanzieren zu können, blicken
auf unsichere und oft befristete Arbeitsverträge
sowie wachsenden Populismus in der politischen
Debatte. Fehlende soziale Absicherung und der in
sich zusammengebrochene Immobilienmarkt tun
ihr Übriges. Wer ist in ihren Augen schuld? Eben
die »Boomer«, die sich jetzt zurücklehnen und mit
dem Finger auf die anderen zeigen.
Doch auch in Deutschland hält Klaus Hurrel-
mann es nicht für unmöglich, dass sich das ak-
tuelle Spannungsverhältnis noch in einen hand-
festen Konflikt verwandelt: »An vereinzelten
Aktionen zivilen Ungehorsams und einer Solida-
risierung mit Gruppen wie Extinction Rebellion
lässt sich ablesen, dass eine Radikalisierung der
Schülerproteste nicht völlig auszuschließen ist.«

A http://www.zeit.de/audio

Quellen


Links zu den Quellen dieses Artikels
finden Sie bei ZEIT ONLINE unter
zeit.de/wq/2019-47

Ist das wirklich ... Fortsetzung von S. 33

Quellen


Auslöser der aktuellen Debatte war ein
Video im sozialen Netzwerk TikTok

Daten zur Altersstruktur in Deutschland vom
Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung

Die »Shell Jugendstudie« erfragt regelmäßig seit
1953 die Befindlichkeit von unter 25-Jährigen

Links zu diesen Quellen finden Sie bei
ZEIT ONLINE unter zeit.de/wq/2019-47

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34 WISSEN 14. NOVEMBER 2019 DIE ZEIT No 47


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