Die Zeit - 14.07.2019

(Jacob Rumans) #1

Drei Fragen an ...


Daniela Kolbe,
SPD-Bundestagsabgeordnete
aus Leipzig.

Sie wenden sich dagegen, die
Spaltung der Mittelschicht auf
den viel zitierten Gegensatz
zwischen Kosmopoliten und
Bodenständigen zu reduzieren.
Warum? Diese Milieus werden oft
mit einer linken versus rechten Ge-
sinnung assoziiert, was aber nicht
zutrifft. Schließlich gibt es auch
wohlhabende Bodenständige, die
der SPD nahestehen, für Mindest-

lohn eintreten, aber gerne Auto
fahren und Migration kritisch
betrachten. Indem die AfD primär
Konflikte rund um Identität, Klima
und Gender schürt, vermeidet sie
das Thema Verteilungsgerechtig-
keit. Denn sobald man über Löhne
oder die Renten spricht, ist ihnen
der Wind aus den Segeln genom-
men, weil sie nur Widersprüch-
liches bis Desaströses zu sagen
haben. Wenn ihre Anhänger das
wüssten, hätte die AfD ein großes
Problem.
Das heißt, die AfD punktet primär
dank ihrer erfolgreichen Kon-
struktion eines gemeinsamen
kulturellen Nenners? Ja, für eine
Sozialdemokratin ist gerade das
der verheerende Befund: die Alli-
anz zwischen der weniger gut situ-
ierten unteren Mittelschicht mit
den konservativen bis reaktio-
nären Kräften; zusammenge-
schweißt durch eine vermeintliche
Übereinkunft beim Thema kultu-

relle Identität. Aber noch einmal:
Sobald man soziale Fragen an-
spricht, ist eine Frau von Storch
oder ein Herr Meuthen überhaupt
nicht mehr aufseiten der kleinen
Leute, denen man genau das ver-
mitteln sollte.
Zugleich lautet Ihre These, dass
auch die besser situierte Mittel-
schicht in Sachen Aufklärung
Nachhol- und Redebedarf hat.
Häufig fehlt es gerade denjenigen,
die sich in der Flüchtlingsfrage als
die Guten bezeichnen, an Selbstre-
flexion. Sie sprechen meist beson-
ders voreingenommen über die
untere Mittelschicht und über Men-
schen, die auf dem Land leben.
Kernproblem ist die Aufteilung in
Gut und Böse, als sei es zum Bei-
spiel moralisch illegitim, konserva-
tiv zu sein. Diese fehlende Differen-
zierung treibt Leute in die Arme
von Populisten und führt dazu,
dass Begriffe wie »Nazi« abnutzen
und stumpf werden.

Wenn Daniela Kolbe, Bundes-
tagsabgeordnete der SPD, zum
Bürgergespräch in Leipzig an
Haustüren klopft, ist es ein
Satz, den sie besonders häufig
hört: »Für die Flüchtlinge ist
Geld da, aber für uns nicht.«

Zwar habe diese Verknüpfung zwi-
schen der Flüchtlings- und der Ver-
teilungsfrage vielerorts den Nährbo-
den für einen wachsenden Rassismus
bereitet. Doch häufig müsse »der
Flüchtling« nur als Vehikel herhalten,
um Unzufriedenheit zu formulieren:
den Ärger darüber, zu wenig wahr-
genommen zu werden, »und dass im
reichen Deutschland für die eigenen
Anliegen nicht genug gekämpft
wird«, ergänzte die Parlamentarierin
in der Dresdner Frauenkirche. Hier
und parallel in der Frankfurter Pauls-
kirche waren am 30. Oktober knapp
zwei Dutzend kluge Köpfe aus Poli-
tik, Wissenschaft und Journalismus
geladen, um vor insgesamt rund 800
Gästen über die Demokratie und Ge-
sprächskultur in Deutschland zu
sprechen. Beide Podiumsrunden an
historisch symbolträchtigen Schau-
plätzen bildeten den feierlichen Rah-
men der dritten Ausgabe des Pro-
jekts »Deutschland spricht«, das
ZEIT ONLINE 2017 mit großer Reso-
nanz initiiert hatte. 2019 trafen sich
dazu am Ende dieses Oktobertages
deutschlandweit Tausende Men-
schen zu mehrstündigen Gesprä-
chen mit einem Gegenüber, das in
politischen Fragen eine konträre
Meinung vertritt – und per Fragebo-
gen und Algorithmus als Dialogpart-
ner ermittelt worden war.
Mit solchen Gesprächen hat
Daniela Kolbe gute Erfahrungen.

Immer wieder erlebt die Politikerin,
dass im Dialog eine große Offenheit
herrscht. Doch leider ließen nur
wenige Menschen solche Begeg-
nungen noch zu: »Die meisten bewe-
gen sich in Blasen, wo Widerspruch
kaum mehr vorkommt.« Der Öko-
nom Armin Falk, der »Deutschland
spricht« wissenschaftlich begleitet,
bestätigte das: die Bereitschaft, an-
dere Meinungen zu respektieren,
schwinde. Dagegen nehme die emo-
tionale Polarisierung im öffentlichen
Diskurs dramatisch zu. Menschen
mit divergierenden Ansichten werde


  • auch im Schutz der Anonymität
    des Internets – abgesprochen, infor-
    mierte, vernunftbegabte Gegenüber
    zu sein: »Die Hemmschwelle, andere
    unterhalb der Gürtellinie zu adres-
    sieren, ist stark gesunken.« Die gute
    Nachricht: Falks Studie über die
    zweite »Deutschland spricht«-Aus-


gabe von 2018 ergab, dass es mög-
lich ist, durch ein direktes Gespräch
Bewegung in scheinbar festge-
fahrene Überzeugungen zu bringen.
So sei nach der zweiten Runde das
gegenseitige Verständnis gewach-
sen – insbesondere, wenn die Betei-
ligten sehr unterschiedliche Positi-
onen vertraten. Für den Abbau von
Vorurteilen habe neben dem Infor-

mations- auch der Erfahrungsaus-
tausch gesorgt. Wenn zum Beispiel
ein Dialogpartner davon erzählt hat,
wie sein Kind davon betroffen ist,
dass in dessen Schulklasse kaum je-
mand Deutsch spricht, habe diese
Schilderung zumindest Verständnis
dafür wecken können, aus welchen
Gründen ein Ressentiment gegen
Ausländer entstanden ist.
Über den Austausch von Erfah-
rungen ins Gespräch zu kommen,
empfahl auch Florian Illies, Kunsthis-
toriker, Autor und geschäftsführen-
der Verleger beim Rowohlt
Verlag. »Emotionen, die sich mit
Erfahrungen verbinden, sind oft
genauso wirkmächtig wie Argu-
mente, und vor allem kommt man
gegen sie ganz schwer an.« Zwar
sei in Hinblick auf die gesellschaft-
liche Spaltung unstrittig, »dass wir
nicht nur zwischen Ost und West,

sondern auch quer durch die Gene-
rationen vollkommen unterschied-
liche Geschichten erlebt haben«.
Aber trotz aller Differenzen seien
immer auch Parallelen zu entde-
cken, sagte er und erzählte von ei-
ner Lesereise, die ihn vor 20 Jahren
auch nach Ostdeutschland geführt
hat. Unterwegs mit seinem Buch
»Generation Golf«, das sich um sei-

ne Jugend in Hessen dreht, sei er
überrascht gewesen, wie sehr die
von ihm beschriebenen Träume und
Sehnsüchte auch ein Publikum be-
rühren konnten, das die 1980-er
Jahre in der DDR erlebt hatte.
Über bestehende soziokulturelle
Konfliktlinien, die heute quer durch
Deutschland und alle sozialen
Schichten verlaufen, sprach Robert
Vehrkamp, Senior Advisor des Pro-
gramms »Zukunft der Demokratie«,
der Bertelsmann Stiftung. Heute sei
eine maßgebliche Unterscheidung
diejenige zwischen Modernisie-
rungsbefürwortern und –skepti-
kern. »Entscheidend ist, wie Men-
schen mit der Globalisierung,
Digitalisierung und Individualisie-
rung zurechtkommen, ob sie mei-
nen, davon profitieren zu können.«
In diesem Kontext zeigte sich
Demokratieforscher Wolfgang Mer-
kel besorgt darüber, dass öffent-
liche Diskurse – auch an Hochschu-
len – immer öfter entlang von
Kategorien wie wahr und falsch,
moralisch und unmoralisch geführt
würden; besonders aufseiten der
sich überlegen wähnenden Kosmo-
politen. »Wer im Disput über
Geschlecht, Ethnie oder Religion
heute die vermeintlich falsche
Begrifflichkeit verwendet, wird so-
fort für schuldig befunden, rote
Linien überschritten zu haben. Das
ist eine Riesengefahr, weil es zu
stark polarisierten Debatten führt.«
Für gesellschaftlichen Zündstoff, so
Merkel, sorgten aber nach wie vor
auch große Verteilungskonflikte:
eine sozioökonomische Ungleich-
heit, die in der westlichen Welt seit
30 Jahren deutlich zugenommen
habe. »Wer 1200 Euro verdient,

wählt anders als Menschen mit
einem Einkommen von 12.000
Euro.« Weil zugleich die ehemals
großen Volksparteien mehr und
mehr in die politische Mitte gerückt
sind, sei zudem eine »Repräsentati-
onslücke« entstanden, die unter an-
derem von Rechtspopulisten aus-
gefüllt werde. Diese Auffassung
teilte Tarek Müller, Mitgründer und
Co-CEO der der ABOUT YOU
GmbH. Als Marketingprofi beo-
bachtet er nicht nur, dass Rechts-
populisten sehr viel prägnanter als
die politische Konkurrenz gesell-
schaftliche Ängste auf den Punkt
bringen und kommentieren, son-
dern auch, dass es den einstigen
Volksparteien an verständlich kom-
munizierten nachhaltigen Strate-
gien fehle. »Ich erwarte von der
Politik, mir aufzuzeigen, wo es lang-
fristig hingehen soll und wo wir uns

als Gesellschaft mit ihren Ungleich-
heiten zwischen Ost und West, Frau
und Mann, Alt und Jung hinbewe-
gen möchten.«
Wie der direkte Austausch dazu
führen kann, auf gemeinsame Nen-
ner mit Andersdenkenden zu stoßen
und alte Feindbilder aufzugeben,
berichtete ZEIT-Redakteur Bastian
Berbner. Der Autor des Buches

»180 Grad – Geschichten gegen den
Hass« hatte nach »Deutschland
spricht 2018« die unzähligen Feed-
back-Mails gelesen, deren Verfasser
übereinstimmend davon erzählten,
dass ihre Vorurteile der realen Be-
gegnung nicht standhalten konnten.
Ein Beispiel: »Boule spielend unsere
kontroversen Positionen ausgelotet,
eifrig diskutiert und gemerkt, dass
uns mehr verbindet als entzweit.« In
einer anderen Mail war zu lesen:
»Wir hatten ein überraschend har-
monisches Gespräch. Je differen-
zierter man die Fragen betrachtete,
desto mehr Gemeinsamkeiten wur-
den deutlich.« Hier gelang offenbar
im Kleinen, was Florian Illies als
»wärmendendes Grundfeuer der
Demokratie« bezeichnet hatte:
»Miteinander zu sprechen, zu ringen
und es für möglich zu halten, dass
der andere recht hat.« Oder, wie es

im Vortrag von Werner D’Inka, He-
rausgeber der Frankfurter Allge-
meinen Zeitung, hieß: »Reden, strei-
ten, zuhören und andere reden zu
lassen – darum geht es. Den Dissens
im gegenseitigen Respekt aushal-
ten und sich nicht in den eigenen
Gewissheiten einkapseln. Das ist die
Demokratie und das ist ihr unglaub-
licher Wert.«

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Für möglich halten, dass der andere recht hat


http://www.convent.de/demokratie

Veranstalter: Gefördert durch: Partner:

Ost-West-Dialog: In Dresden diskutierten (v.l.) Florian Illies, Kunsthistoriker und Autor, Lukas Rietzschel,
Autor, Martin Machowecz, Leiter des Leipziger Büros DIE ZEIT, Marieke Reimann, Chefredakteurin ze.tt und
Selmin Çalışkan, Direktorin für Institutionelle Beziehungen, Open Society Foundations.

Kooperations-
Partner:

Wissenspartner:

Drei Fragen an ...


Goran Buldioski,
Direktor des Berliner Büros der
Open Society Foundations.

In ganz Europa haben grobe Ver-
stöße gegen demokratische Wer-
te zugenommen. Wie konnte es
dazu kommen? In Osteuropa hat
das zunehmend autoritäre Ver-
ständnis von Gesellschaft und Po-
litik auch damit zu tun, dass die
Ökonomie schneller gewachsen ist
als die demokratischen Strukturen,
sodass die Wirtschaft vielfach die
Politik dominiert. Hinzu kommt,

dass die Globalisierung den Kon-
sumenten stärker adressiert als
den kritischen Bürger. Und: Viele
wissen zwar um die Relevanz des
Wahlrechts für eine Demokratie,
nicht aber um die der Gewaltentei-
lung und unabhängiger zivilgesell-
schaftlicher Akteure. Doch es gibt
auch Lichtblicke. Wir sehen etwa
in Bulgarien, Rumänien und der
Slowakei Bürgerinitiativen gegen
Korruption und für die Verteidi-
gung von Rechtsstaatlichkeit und
Pressefreiheit.
Die Open Society Foundations lit-
ten in Ungarn unter derart großen
Repressalien, dass die Zentrale im
Sommer nach Berlin umgezogen
ist. Wie kam es dazu? George So-
ros, der Gründer unserer Organisa-
tion, wurde zum Opfer einer groß
angelegten Hasskampagne des
ungarischen Präsidenten Viktor
Orbán. Dieser schürte antisemi-
tische Ressentiments mit der Un-
terstellung, Soros sei für die illegale

Masseneinwanderung verantwort-
lich. Aus Sicherheitsgründen muss-
ten wir das Land verlassen, doch
unser Engagement für die unga-
rische Zivilgesellschaft haben wir
danach noch verstärkt.
Was kann man als Bürger gegen
den Rechtspopulismus ausrich-
ten? Die Open Society Founda-
tions springen meist dann ein,
wenn sich Teile der Gesellschaft
alleingelassen und entfremdet
fühlen – und anfällig sind für Des-
information. Aber die Verantwor-
tung, diesen Menschen zuzuhören
und sie – frei von Bevormundung


  • in die öffentliche Debatte zu re-
    integrieren, liegt bei uns allen. Der
    Mauerfall ist für mich das Symbol:
    Wir dürfen Freiheit und Demokra-
    tie niemals als selbstverständlich
    betrachten! Ob wir 70 Jahre oder
    700 lang in Freiheit leben: Demo-
    kratie ist ein Prozess, an dem sich
    alle Teile der Gesellschaft jeden
    Tag aufs Neue beteiligen müssen.


ZEIT FÜR


DEMOKRATIE 


DEUTSCHLAND


SPRICHT


Wiege der Deutschen Demokratie:
Auch in der Paulskirche in Frankfurt/Main
war die Konferenz Deutschland spricht
zu Gast.

Wer füllt die Repräsentationslücke? Demokra-
tieforscher Wolfgang Merkel im Gespräch mit
Maria Exner, stellvertretende Chefredakteurin
ZEIT ONLINE.

Soziokulturelle Konflikte: Neue gesellschaft-
liche Spaltungen erläuterte Robert Vehrkamp
(Bertelsmann-Stiftung) Sebastian Horn, Stellv.
Chefredakteur, ZEIT ONLINE (re.)

Diskussionsfreudig: Hunderte Teilnehmer von
»Deutschland spricht« trafen sich in Dresden
und Frankfurt am Main. Bundesweit nahmen
rund 14.000 Menschen an der Initiative teil.

30 Jahre nach dem Mauerfall: Am 30. Oktober 2019 wurde die Dresdner Frauenkirche – neben der Pauls-
kirche in Frankfurt am Main – zu einem von zwei symbolträchtigen Schauplätzen für die Konferenz ZEIT
für Demokratie – Deutschland spricht.

Frankfurter Runde: In der Paulskirche sprach Jochen Wegner (re.), Chefredakteur ZEIT ONLINE, mit (v.l.)
Claus Ruhe Madsen, Oberbürgermeister von Rostock, Tarek Müller, Mitgründer und Co-CEO der ABOUT YOU
GmbH, Jana Hensel, Journalistin und Autorin und Hiltrud Werner, Vorstandsmitglied der Volkswagen AG.

#ZEITfürDemokratie
#DeutschlandSpricht

Fotos: Phil Dera, Andreas Henn

Foto: Benno Kraehahn
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