Die Zeit - 14.07.2019

(Jacob Rumans) #1

WISSEN


Die Auszüge links stammen
aus dem WhatsApp-Chat
einer 9. Klasse an einem
nordrhein-westfälischen
Gymnasium.
Unser Autor FELIX SCHRÖDER
hat die Nachrichten vor Ort
gesichtet und das
Einverständnis von Lehrern
und Eltern eingeholt, diese
anonymisiert veröffentlichen
zu dürfen. Mit drei Schülern
(Namen geändert) sprach er:

Patricia:
Schlimm finde ich den Umgangston,
wenn Mitschüler beleidigend werden.
Erst letztens wurde geschrieben, dass
eine Lehrerin sterben soll.

Max:
Das war ich. Und ich habe mich
später dafür geschämt – das war doof
von mir. Die Lehrerin hat oft
Stimmungsschwankungen, schreit
herum und gibt unbegründet
schlechte Noten. Ich war einfach
richtig wütend und habe aus der
Emotion heraus in die Tasten
gehauen. Am liebsten hätte ich das
sofort wieder gelöscht, aber da war es
schon in der Gruppe, und ich konnte
es nicht mehr löschen.

Julia:
Die Wut kann ich nachvollziehen.
Todeswünsche gehen aber gar nicht.

Max:
Beleidigungen bei WhatsApp sind
besonders einfach: Du musst dabei
niemandem in die Augen schauen.
Oft denke ich, dass die anderen das
schon nicht so ernst nehmen werden.

Julia:
Viele sagen, dass zum Beispiel die
Hitler-Bilder mit Aufschriften wie
»Willste Spaß, brauchste Gas« nicht
ernst gemeint sind. Nachdem zwei
Mitschüler gesagt haben, dass diese
Hitler-Sticker sie nerven, mussten sie
sich von anderen Jungs anhören, sie
hätten keinen Humor.

Max:
Es geht darum, sich gegenseitig mit
dem krassesten Sticker zu überbieten:
Wer geht noch einen Schritt weiter?

Der


Klassenchat


Drei der Chat-
Protokolle, die der
ZEIT vorliegen,
hat die Künstlerin
Helena Hauss
illustriert

»Hoffentlich stirbt die«


Todeswünsche, Beleidigungen, Hitlerwitze – in vielen WhatsApp-Chats an deutschen Schulen teilen Kinder verstörende Inhalte.


Hilflos stehen Lehrer und Eltern dem gegenüber. Ist es für ein Eingreifen schon zu spät? VON ULF SCHÖNERT


D


ie Beamten der Abteilung
schwere und organisierte
Kriminalität des Bundeskri-
minalamts beschlagnahm-
ten umfangreiches Beweis-
material, nachdem sie Ende
Oktober 21 Wohnungen in
elf Bundesländern durchsucht hatten: Handys,
Computer und Tablets. Ihre Besitzer allerdings
waren keine Bandenverbrecher mit Vorstrafen-
register. Es waren Teenager, normale Jugendliche,
der jüngste 14 Jahre alt.
Die Verdächtigen kannten einander nicht und
werden dennoch alle der gleichen Tat beschuldigt.
Mit ihren Handys hatten sie Videos herumgeschickt,
in sozialen Netzwerken geteilt, in Chats gepostet. Dass
sie sich dabei nichts Schlimmes gedacht haben, sieht
man daran, dass sie ihre Postings mit allerlei LOLs
und lachenden Emojis versahen. Doch die Videos
waren nicht harmlos. Es waren Kinderpornos.
Verbreitung fanden diese Filme nicht in den Hin-
terzimmern des Internets, in den geheimen, pass-
wortgeschützten Foren der Pädophilen oder im Dark-
net. Sondern dort, wo sich Kinder und Jugendliche
am liebsten aufhalten, wenn sie online sind: bei
WhatsApp, im Gruppenchat der Schulklasse.
Der 2009 gegründete Instant-Messaging-Dienst
WhatsApp gehört für Teenager heute zum Leben
dazu. So selbstverständlich wie schicke Turnschuhe,

Hausaufgaben oder Stress mit den Eltern. Studien
beziffern den Anteil der Jugendlichen, die WhatsApp
regelmäßig nutzen, auf 97 bis 99 Prozent. Fragt man
sie, auf welches Online-Angebot sie am wenigsten
verzichten könnten, nennen sie WhatsApp mit gro-
ßem Abstand am häufigsten.
Neben dem Mund zum Sprechen ist WhatsApp,
das seit fünf Jahren zu Facebook gehört, zum wich-
tigsten Kommunikationsorgan von Jugendlichen
geworden. Wenn sie sich verabreden, rufen sie sich
nicht an, sie schreiben sich. Oder sie schreiben sich,
anstatt sich zu verabreden. Wenn sie sich besuchen,
klingeln sie nicht an der Tür, sondern melden per
WhatsApp: »Ich steh unten, mach auf.« Getippte
Texte und Emojis fliegen ebenso von Bildschirm zu
Bildschirm wie Fotos, Videos, Sticker und Sprach-
nachrichten. Witze, Liebeserklärungen, Gute-Nacht-
Küsse, Belangloses und Tiefsinniges.
Bis zu 256 Teilnehmer können sich zu einer
WhatsApp-Gruppe zusammenschließen, in der
jeder gleichberechtigt zu Wort kommt. Auf diese
Weise organisieren Jugendliche Partys und Festi-
vals, Shoppingtouren, Schlittschuhlaufen und
Fridays-for-Future-Demos. Keine Theatergruppe,
keine Fußballmannschaft, keine Jugendfeuer-
wehr, keine Big Band, kein Pfadfinderstamm
ohne WhatsApp-Gruppe. Und keine Schulklasse.
In Deutschland gibt es heute praktisch keine
Schulklasse mehr ohne zugehörigen Chat.

Hinter der deutschlandweiten, flächendeckenden
Ausbreitung steckt kein Plan. Klassenchats werden
nicht von den Schulen angeboten, sondern entstehen
stets inoffiziell. Die Erstellung übernimmt irgendein
Schüler, nach und nach treten alle bei – los geht’s.
Und los gehen dann auch die Probleme.
»Es gibt in Deutschland wohl keine Schule, in
der verstörende Inhalte bei WhatsApp kein Thema
sind«, sagt Heinz-Peter Meidinger, Direktor eines
bayerischen Gymnasiums und Vorsitzender des
Deutschen Lehrerverbands. Das meiste, was in
Klassenchats gepostet wird, sei zwar unproblema-
tisch: Da werde über Klamotten und Musik dis-
kutiert, geschwatzt und gelacht, »normale Kom-
munikation unter Jugendlichen halt«. Doch gehe
es immer wieder auch »problematisch, zum Teil
hochproblematisch« zu, sagt Meidinger.
Im Februar ermittelte die Staatsanwaltschaft
am Gymnasium Tegernsee wegen »verwerflichen
Bildmaterials in einem Gruppenchat« der Ober-
stufe.
Im März wurde bekannt, dass ein Junge an
einem Essener Gymnasium Pornos im Chat der
Jahrgangsstufe 11 gepostet hatte – der Direktor
rief die Polizei.
Im April beschlagnahmte die Polizei an einer
Stuttgarter Schule die Handys aller 24 Schüler einer


  1. Klasse, nachdem im Klassenchat kinderporno-
    grafische Dateien verschickt worden waren.


Im Juli ermittelte die Polizei in Leonberg gegen
Schüler, die im Chat Hakenkreuze und Hitler-
Bilder verschickt hatten. Auf einem Foto war ein
Maschinengewehr zu sehen mit dem Satz »löst bis
zu 1800 Asylanträge pro Minute«.
Im Oktober wurde ein Junge in Duisburg vom
Unterricht ausgeschlossen, nachdem er einen Lehrer
in einem WhatsApp-Chat schwer beleidigt hatte.
Und auch das Helmkamera-Video des antisemi-
tischen Attentäters von Halle fand in Klassenchats
Verbreitung. Wie viele solcher Fälle es gibt, ist schwer
einzuschätzen. »Viele Schulleitungen haben kein
großes Interesse, dass so etwas bekannt wird«, sagt
Meidinger. »Bei uns an der Schule gibt es 30 Klassen.
Und es gibt 30 Klassenchats. Ein bis zwei Fälle pro
Schuljahr eskalieren derart, dass sie nach außen drin-
gen. Und wir sind hier Provinz, wahrlich kein sozia-
ler Brennpunkt.« Die Probleme hätten massiv zu-
genommen, seitdem immer mehr jüngere Kinder
über Handys verfügen. »Das geht teilweise schon in
der 2. Klasse los«, sagt Meidinger.
Mit dem Argument, ansonsten vom Geschehen
in der Klasse ausgeschlossen zu werden, betteln
schon Grundschulkinder ihre Eltern an, sie mit
einem Handy auszustatten. Nach aktuellen Zah-
len des IT-Branchenverbands Bitkom besitzen 75
Prozent der Zehn- und Elfjährigen ein eigenes
Smartphone. Bei den 12- und 13-Jährigen sind es
sogar schon 95 Prozent.

Zwar dürfen Jugendliche laut Allgemeinen Ge-
schäftsbedingungen erst mit 16 Jahren WhatsApp
nutzen. Kontrollen aber finden nicht statt, und
technische Hürden gibt es auch keine. Ein formel-
les Einverständnis durch die Eltern oder eine Ve-
rifikation des Alters werden nicht verlangt. Bereits
bei unter 13-Jährigen ist WhatsApp laut einer
Umfrage des Medienpädagogischen Forschungs-
verbunds Südwest die beliebteste App.
99 Prozent aller Nachrichten dürften völlig
harmlos sein. Doch dass WhatsApp nicht nur Spaß
bringt und Zeitvertreib ist, erfahren Kinder und
Jugendliche häufig. In der Bitkom-Befragung geben
41 Prozent der Jugendlichen an, Negatives im In-
ternet erlebt zu haben, auch über soziale Medien
wie WhatsApp. Sie haben Dinge gesehen, die Angst
machen, sind beleidigt worden oder mussten erle-
ben, wie Lügen über sie verbreitet wurden.
Wie gravierend die negativen Begleiterschei-
nungen sein können, hat nun auch die Bundes-
familienministerin erkannt. »Hate-Speech, Cyber-
mobbing, Sexting und sogar Kinderpornografie im
Klassenchat – das ist ein Albtraum für Kinder und
Jugendliche, Eltern, aber auch für Lehrerinnen und
Lehrer«, sagte Franziska Giffey (SPD) am vergange-
nen Wochenende in einem Interview und kündigte
an, noch in diesem Jahr den Entwurf für ein neues


  1. NOVEMBER 2019 DIE ZEIT No 47 39


SOZIALE MEDIEN • SCHULE DES LEBENS


Fortsetzung auf S. 40

Illustration: Helena Hauss für DIE ZEIT

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