Die Zeit - 14.07.2019

(Jacob Rumans) #1

40 WISSEN 14. NOVEMBER 2019 DIE ZEIT No 47


Quellen


Jugendmedienschutzgesetz auf den Weg zu brin-
gen. »Wir dürfen Familien und Schulen damit nicht
alleinlassen.«
Die Schulen gehen mit dem Thema Handy der-
weil extrem unterschiedlich um. Einige geben das
Smartphone komplett frei und fordern die Kinder

auf, ihre Geräte mitzubringen – auch um sie im
Unterricht zum Lernen zu benutzen. »Bring Your
Own Device« heißt das Prinzip. Andere Schulen

erlassen strikte Handyverbote. Sie sehen die Schule
als eine Art Schutzraum vor dem digitalen Dauer-
feuer, dem die Kinder in ihrer Freizeit ausgesetzt
sind. Handys dürfen dort entweder gar nicht mit-
gebracht werden oder müssen unsichtbar bleiben.
Die meisten Schulen wählen irgendwelche Misch-
formen, arbeiten mit den Handys immer mal wieder
im Unterricht, verbieten das Gerät aber in den
Pausen. Eine landesweite Regelung wie in Frank-
reich, wo seit 2018 Schülern unter 16 Jahren die
Nutzung ihres Handys während der Schulzeit ver-
boten ist, gibt es in Deutschland nicht.
Einigkeit existiert auch nicht, wenn es um
WhatsApp geht. Niedersachsen verbietet es seinen
Lehrern ausdrücklich, sich an WhatsApp-Chats
mit Kindern zu beteiligen. Aus Gründen des Da-
tenschutzes, nicht wegen der problematischen In-
halte. Im Alltag halten sich jedoch längst nicht alle
Pädagogen daran – WhatsApp ist einfach zu prak-
tisch. Wer sichergehen möchte, dass all seine Schü-
ler pünktlich am Bus stehen, um beim Ausflug
dabei zu sein, schreibt es ihnen über WhatsApp.
Wenn es um Klassenchats geht, halten sich die
Lehrer aber meist raus. Und die Eltern? Die wissen
mitunter nicht einmal, dass es sie überhaupt gibt.
Geschweige denn, wie es dort zugeht.
Wüssten sie es, wären sie in manchen Fällen er-
schrocken oder gar geschockt. »Als Deutschlehrer
erkenne ich eine eindeutige Verrohung der Sprache«,
sagt der Lehrer Martin Krüger (Name geändert),
der jene Schüler unterrichtet, deren Chatprotokolle
wir hier anonymisiert abbilden (siehe Seite 39).
»Beleidigungen unter Schülern sind häufig unter
der Gürtellinie. Für viele ist das eine Alltagsbelas-
tung. Die Kinder verletzt es, wenn sie – wie bei ei-
nem Fall, den wir neulich hatten – wiederholt aus
der Gruppe ausgeschlossen werden. Oder wenn
alles, was sie sagen, ins Lächerliche gezogen wird.

Das hinterlässt Narben.« Wie auf dem geteerten
Schulhof draußen wird auch auf dem virtuellen
Schulhof viel gelästert. Der Unterschied: Einmal
getippt und abgeschickt, ist es in der Welt. Für
viele lesbar, für immer.
Dabei ist längst nicht alles, was in den Chats
geschrieben wird, tatsächlich so hart gemeint, wie
es sich liest. In der Popkultur sind derbe Sprache
und Posen weitverbreitet. Gangster-Rap mit sei-
nen extremen Texten hat den Mainstream erreicht.
Auch Gymnasiasten an Schulen in bester bürger-
licher Lage nennen Mitschüler »Opfer«, ohne es so
zu meinen. Vor allem Jungs lieben Songs, in denen
Geld, Gewalt und Drogen verherrlicht und Frauen
erniedrigt werden, ohne dass sie selbst so denken
oder fühlen. Mal ist es pubertäre Pose, mal Ironie,
mal beides.
Ähnliches gilt für die Bilder. An vieles, was Er-
wachsene erschreckt, haben sich Kinder und Jugend-
liche gewöhnt. Schockszenen aus Filmen, aber auch
reale Gewalt aus Kriegen, gar Folter und Hinrichtun-
gen finden sich auf vielen Seiten im Internet. Schon
im Grundschulalter können Kinder plötzlich ver-
störende Inhalte auf ihrem Bildschirm haben. Und
unter den 14- bis 15-Jährigen gibt ein Drittel an, auf
»Hardcore-Pornografie« gestoßen zu sein, fand eine
Untersuchung der Universitäten Münster und Ho-
henheim heraus. Rund die Hälfte dieser Funde
kommt ungewollt zustande.
Das verroht, sagen die einen. Alles nicht so
wild, sagen die anderen. Es gibt ja auch keinen
Schulhof, auf dem sich nicht mal jemand prügelt.
Sind Schulhöfe deshalb etwas Schlechtes? »Das
Wichtigste ist, dass Eltern mit ihren Kindern offen
über Risiken des Netzes reden«, sagt Johannes-
Wilhelm Rörig, Missbrauchsbeauftragter der Bun-
desregierung. »Eltern müssen sich dafür interessie-
ren, was ihre Kinder im Internet tun. Das gilt mit

Blick sowohl auf mögliche sexuelle Gewalterfah-
rungen als auch auf mögliche Grenzverletzungen
und Übergriffe, die sie selbst – aus Unwissenheit
oder mangelnder Reflexion – begehen.«
Die Vermittlung von Medienkompetenz hält
auch der Berliner Cyberkriminologe Thomas-
Gabriel Rüdiger für essenziell, um das Problem in
den Griff zu bekommen. »Wir haben Kindern und
Jugendlichen vorwiegend beigebracht, wie sie sich
schützen können, um nicht Opfer zu werden. Dabei
haben wir aber kaum vermittelt, wann und wie sie
sich selbst strafbar machen. Das fällt uns jetzt vor die
Füße.« Rüdiger beklagt den aus seiner Sicht fatalen
Trend, Kinder immer früher mit Smartphones aus-
zustatten und sie damit unbeaufsichtigt zu lassen:
»Viele Eltern wissen nicht wirklich, welche digitalen
Risiken es für ihre Kinder gibt. Trotzdem drücken
sie dem Nachwuchs zum Teil ab der ersten Klasse
ein internetfähiges Smartphone in die Hand. Das ist
so, als würden Sie jemandem ohne Führerschein ein
Auto geben und sich dann wundern, dass er damit
vor die Wand fährt.«
Rüdiger schlägt eine »digitale Generalprävention«
vor, die in Familien und in den Schulen stattfinden
müsse, und vergleicht sie mit der Verkehrserziehung:
»Die Grundregeln definieren der Staat und Eltern,
Kindergärten und Schulen bringen den Kindern
diese Regeln bei. So sehen die Kinder täglich, dass
diese Verkehrsregeln von allen überwiegend eingehal-
ten werden. Und später, wenn die Kinder größer
werden, müssen sie damit rechnen, dass Verstöße
geahndet werden. So kriegen wir es hin, dass die
meisten Menschen sich im Großen und Ganzen an
die Verkehrsregeln halten.«
Es reiche nicht, ab und zu mal eine Projektwoche
Medienerziehung zu absolvieren, sagt auch Lennart
Sörnsen von juuuport.de, einem Online-Beratungs-
angebot, das von sieben Landesmedienanstalten ge-

fördert wird. Juuuport.de bildet Medienscouts aus,
ehrenamtliche Helfer, an die sich Jugendliche wenden
können, wenn sie Probleme im Netz haben. »Whats-
App ist ein ganz großes Thema bei uns«, sagt Sörnsen.
Besonders belastend empfänden es viele Schüler, dass
der Chat keine Pause mache. »Mobbing in Schulen
gab es schon immer«, sagt Sörnsen, aber früher gab
es den Nachmittag außerhalb der Schule. »Heute
haben Mobbing-Opfer überhaupt keinen Feierabend
mehr. Das ist extremer Stress für die Kinder.«
Stress, von dem Eltern, Lehrer, Sozialpädago-
gen und selbst Mitschüler mitunter nichts mitbe-
kommen. »Im Chat sagen Betroffene nichts, weil
sie Angst haben, aus der Gruppe zu fliegen. Den
Eltern erzählen sie nichts, weil sie befürchten, dass
sie dann ihre Handys nicht mehr benutzen dür-
fen«, sagt Sörnsen – und schlägt vor, das Thema
direkt in den Unterricht zu holen. Es helfe, klare
Klassenchat-Regeln zu vereinbaren, Administrato-
ren zu wählen, damit niemand mehr willkürlich
aus der Gruppe geworfen werden kann. Auch
Sanktionen zeigten Wirkung: Wer beleidigt, fliegt
für zwei Wochen raus. »Unsere Erfahrung ist:
Wenn Schüler einbezogen werden bei der Erstel-
lung solcher Regeln, ist die Wahrscheinlichkeit
hoch, dass sie sich auch daran halten.«
Und noch ein Vorschlag: Nicht nur einen Chat
zu betreiben, sondern zwei, einen für alles, was mit
Schule zu tun hat, den anderen als Quasselforum,
aus dem man aussteigen kann, ohne etwas zu ver-
passen. Was gar nicht geht, und da sind sich Ex-
perten und Schüler einig: wenn Lehrer oder Eltern
im Chat sind und versuchen mitzulesen. Das fliege
immer auf, sagt der bayerische Schuldirektor
Heinz-Peter Meidinger: »Die Schüler merken das
sofort.« Und weil sie wissen, wie man Leute los-
wird und aussperrt, gründen sie ganz schnell einen
Klassenchat 2.0.

SOZIALE MEDIEN


»Hoffentlich ...« Fortsetzung von S. 39

»Beleidigungen von Schülern


sind häufig unter der Gürtellinie«


... sagt der Deutschlehrer der Neuntklässler. Dass es oft auch um ihn geht, ist ihm klar

Die Umfrage »Kinder und
Jugendliche in der digitalen Welt« des
IT-Branchenverbandes Bitkom (Mai 2019)

Jährlich erscheinen die KIM- und JIM-Studie
zur Mediennutzung von Kindern und
Jugendlichen in Deutschland

»Euphorie war gestern« heißt die Exploration
des Sinus-Instituts zum digitalen
Lebensgefühl der jungen Generation (2018)

Links zu diesen und weiteren Quellen
finden Sie bei ZEIT ONLINE unter
zeit.de/wq/2019-47

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