Die Zeit - 14.07.2019

(Jacob Rumans) #1
Ein bisschen scheint es wie beim Kölner Kar-
neval: Bunt schillernd stehen verkleidete
Menschen beisammen und freuen sich. Zen-
timeterdicke Schminke klebt auf ihren Ge-
sichtern, aufdonnernde Perücken und pom-
pöse Glitzerkleider schmücken die Körper.
»Ich will euch alle besser kennenlernen«,
säuselt die blonde Frau, die ihnen gegenüber-
steht – Heidi Klum ist wieder auf Castingtour.
Bloß sucht sie dieses Mal nicht nach dem
nächsten Topmodel, sondern nach Deutsch-
lands nächster Top-Dragqueen. In Queen of
Drags (ab dem 14. November wöchentlich auf
ProSieben) treten zehn Männer gegeneinander
an, die sich zu kunstvoll übertriebenen Frauen-
figuren umstylen. Ihr Ziel: Heidi und die
anderen Juroren – den Travestiekünstler Tom
Neuwirth (Conchita
Wurst) sowie Bill Kau-
litz, Sänger der Band
Tokio Hotel und Hei-
dis Schwager – mit
ihrer Performance so
zu verzücken, dass sie
am Ende als Gewinner
übrig bleiben. So weit,
so gut.
Oder doch nicht?
Schon im Sommer, als
ProSieben die Show ankündigte, gab es Ärger.
In einer Online-Petition sprachen sich Teile der
queeren Szene vehement gegen die Sendung
aus, der Vorwurf: Heidi Klum nutze die Teil-
nehmer der Show bloß für ihre Zwecke. »Qua-
lität wird geopfert, um die Quote durch Bedie-
nen des gesellschaftlichen Voyeurismus zu
retten.« Der »Aufklärungscharakter« und das
»vorurteilsfreie Heranführen« an die Szene
gingen verloren. Und dass ausgerechnet eine
»heteronormative weiße Frau« Jurorin sei, die
bisher keine nennenswerte Verbindung zur
Drag-Community habe, sei hochproblema-
tisch. Wenn Klum nun behauptet, sie liebe die
Drag-Szene mit ihrem vielen Haarspray, und
sich somit tolerant gibt, um damit Geld zu ver-
dienen, sei das nicht nur ein Fall kultureller
Aneignung, sondern vielmehr »kultureller
Missbrauch«. Missbrauch? Wirklich?
Beim Thema »Wer darf was?« kann einem
dieser Tage schnell einmal schwindelig wer-
den. Im Fall Klum ist es aber simpel. Denn
natürlich darf sie casten, wen sie will; dass sie
weiblich und heterosexuell ist, sollte sie nicht
davon abhalten, selbst wenn von den Kriti-
kern lobend auf ein amerikanisches Format
hingewiesen wird, in dem eine Dragqueen
Dragqueens castet. Das ist aber eine völlig
andere Show. Die entscheidende Frage im Fall
von Queen of Drags ist doch: Was lässt sich
erwarten?
Das Niveau eines einfühlsamen Doku-
mentarfilms wohl sicher nicht. Heidi ist
Härte, sie zelebriert das Zurschaustellen ihrer
Kandidaten, und viele schätzen genau das als
Unterhaltung. Dass statt Teenies nun ver-
kleidete Männer beurteilt werden, macht die
Jurorin nicht weniger gemein, aber auch
nicht noch gemeiner. Heidi bleibt Heidi.
Das Einzige, was sich ändert, ist, dass die
schlimme deutsche Fernsehnormalität etwas
diverser wird. NINA PAUER

Ich will euch


kennenlernen!


Statt Mädchen castet Heidi Klum
nun Dragqueens. Ist das schlimm?

Die next Top-Drag-
queen? Kandidatin
Samantha Gold

Fortsetzung auf S. 54

Der letzte Gangster


Dreieinhalb Stunden dauert der Mafia-Film »The Irishman«. Wenn man aus dem Kino tritt, will man sofort einen Freund anrufen, seine


Tochter oder wenigstens einen Anwalt. Wir haben stattdessen Robert De Niro getroffen, der die Rolle seines Lebens spielt VON LARS WEISBROD


H


inten baumeln die Rinder-
hälften, vorne gackert, stottert
der Motor, bis er schließlich
schweigt. Frank Sheerans grü-
ner Lastwagen ist liegen ge-
blieben, auf einer Landstraße
unter dem sanften Himmel
Pennsylvanias. An der Tankstelle gegenüber geht
ihm ein freundlicher Kerl zur Hand: Na, da war nur
die Steuerkette lose, ist doch kein Problem. Hier
hilft man sich noch, hier braucht man sich noch,
hier können sich zwei Amerikaner noch über einen
Motor beugen und etwas ausrichten, weil keine
chinesische Elektronik ihnen dazwischenfunkt.
Martin Scorseses neuer Film, der jetzt in die
Kinos kommt und zwei Wochen später bei Netflix
zu sehen sein wird, beginnt in den Fünfzigerjahren,
im alten Amerika der weißen Arbeiterklasse, das
heute zur Beschwörungsformel geworden ist: Alles,
was man brauchte, waren ein gutes Steak und eine
Maschine, die was zieht. Noch nicht allzu lange her,
dass Sheeran aus dem Krieg zurückgekehrt ist, jetzt

schleppt er tote Rinder durch die Eiseskälte der
Kühlkammern zwischen Chicago und Philadelphia.
Klar, von den Lastwagen, die er fährt, fällt ab und
an was runter. Routiniert steckt er den Kollegen
Dollarscheine in die weißen Flei scher jacken, muss
ja keiner gesehen haben. »Ich arbeite hart«, verkün-
det Sheeran, »wenn ich nicht gerade stehle.« Und
die Namen seiner Hehler nenne er gewiss nicht, egal
was ihm drohe. Dann zieht Robert De Niro, der
diesen stolzen Mann spielt, die Oberlippe ein, wie
er das schon oft für seinen Regisseur Scorsese getan
hat. Da weiß man dann: Dieser Ire wird es noch
weit bringen, unter gewissen Italienern.
Die Toten wollen einfach nicht sterben. In Martin
Scorseses Mafia-Filmen wanken immer wieder Zom-
bies durchs Bild: Man schießt auf die Rivalen, man
prügelt sie, man tritt nach ihnen und spannt den
eigenen Oberkörper zurück, damit nichts auf den
Mantel spritzt. Aber die Toten stehen wieder auf, sie
laufen weiter, obwohl die Kugel ihnen schon im Hals
steckt, wie dem jungen Robert De Niro 1973 in
Hexenkessel. Oder sie klopfen noch im Kofferraum,

wie 1990 in Good Fellas, und dann muss man an-
halten und die Sache zu Ende bringen. Die Toten
wollen einfach nicht sterben. Der Regisseur Martin
Scorsese und der Schauspieler Robert De Niro haben
mit diesen Filmen über Jahrzehnte das Kino der west-
lichen Welt geprägt, mit amerikanischen Geschichten
aus der Parallelgesellschaft der italienischen Einwan-
derer, über brutale Männer, die immer weitermachen,
weil sie nicht wissen, wann Schluss ist für sie. Die
immer weiterreden, weil ihnen die Worte fehlen. Bis
ihnen nichts anderes mehr einfällt, als ihre Mund-
winkel nach unten zu ziehen und mit den Händen
vor der Brust zu wedeln. »It is what it is«, sagen sie
dann im Singsang oder: »What do I know«, ohne
Fragezeichen dahinter, weil die Antwort sich von
selbst versteht: Nichts weiß man, und was man doch
weiß, würde man am liebsten wieder vergessen. Das
ist das Scorsese-De-Niro-Kino, und auch wenn die
zwei, beide 76 Jahre alt, beide aufgewachsen in Little
Italy, Filme gemacht haben über Boxer, über Taxi-
fahrer, über Komiker – ohne ihre It is what it is-
Mafio si wären sie nicht Scorsese und De Niro.

Aber kommt The Irishman, die letzte Mafia-
Geschichte, die Scorsese noch mit De Niro erzählen
wollte, nicht zu spät? Wer will noch alte brutale
Männer sehen, die nicht wissen, dass ihre Zeit abge-
laufen ist? Ist dieser Film nicht selbst ein Zombie?
Ja, das ist er. Er weiß darum und erzählt davon.
De Niro spielt den Gangster, Lastwagenfahrer und
Gewerkschaftsfunktionär Frank Sheeran durch ein
halbes Jahrhundert, wir sehen ihn als ge brech lichen
Alten am Ende der Neunzigerjahre, wir sehen ihn
als Mann Mitte dreißig. Möglich machen das auf-
wendige Computerbearbeitungen, die das Gesicht
des Schauspielers glätten und das Budget des Films
fast gesprengt hätten. Eine seltsame Wirkung stellt
sich ein: De Niro spielt Sheeran in manchen Szenen
gleich zweimal, einmal jung, einmal alt. Der junge
Sheeran schreitet zum Beispiel mit seiner kleinen
Tochter an der Hand zum Lebensmittelladen an der
Ecke: Der Besitzer hatte das Mädchen wegen einer
Nichtigkeit unsanft gepackt, Sheeran kann das so

Fotos: Netflix 2019; Kochan/People Picture (r.)


Die drei 76-Jährigen Robert De Niro, Joe Pesci
und der Regisseur Martin Scorsese (v. l. n. r.)
bei den Dreharbeiten zu »The Irishman«

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  1. NOVEMBER 2019 DIE ZEIT No 47


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Weiß sind Türme, Dächer,Zweige, Und das Jahr geht auf die Neige,


Und das schönste Fest ist da... (Theodor Fontane)

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