Die Zeit - 14.07.2019

(Jacob Rumans) #1

K


lage darüber zu führen, wie
schrecklich sich der ehemalige
Ostblock entwickelt hat, ist eine
routinierte Übung. Sie geht in
etwa so: Polen, Ungarn und Ost-
deutschland hätten noch nicht
ganz begriffen, dass der Liberalis-
mus, der ihnen dank der herrlichen EU verabreicht
worden sei, bestimmte Spielregeln mit sich bringe.
Nicht nur Gewaltenteilung, Presse- und Gewerbe-
freiheit gelte es zu schützen, zum Westpaket ge-
hörten auch eine liberale Gesellschaftspolitik und
eine liberale Gesinnung. Das moderne West-
deutschland habe die Lehren aus der Geschichte
eben gelernt und verstanden, dass Zuwanderung
die Gesellschaft belebe, sexuelle Minderheiten die
klassische Ehe nicht bedrohten, der Feminismus
das marode Patriarchat zu beseitigen habe und die
Fixierung auf den Nationalstaat überholt sei.
Nun ist es zum Verrücktwerden: Die Selbstver-
ständlichkeiten derjenigen, die im Westen sozialisiert
worden sind, wollen einfach nicht in die störrischen
Ostköpfe. Schon seit Jahren wird gewissermaßen mit
falscher Gesinnung gewählt. Orbán laboriert an
einem »neuen Staat« und einer »illiberalen Demo-
kratie«, die PiS in Polen hat es auf die Schleifung der
Gerichte, der Gewaltenteilung und der Pressefreiheit
abgesehen, die AfD unter anderem auf Geschichts-
revisionismus. Erklärungen für diese unerfreuliche
Entwicklung gibt es zuhauf. Zumeist wird ein Über-
forderungssyndrom diagnostiziert und wahlweise die
Globalisierung, sozialstaatliches Versagen oder ein
mentaler Defekt durch die Diktaturerfahrung in An-
schlag gebracht. Wenn derartige Erklärungen von
den Problembürgern des Ostens als paternalistisch
wahrgenommen werden, dann hängt dies mit der
Perspektive zusammen: Es fehlt oft der Blick aus der
Region selbst heraus.
Diesen Vorwurf wird man dem bulgarischen
Politikwissenschaftler Ivan Krastev kaum machen


können. Bereits mit seinem ersten, viel beachteten
Buch Europadämmerung hat er konsequent eine
osteuropäische Perspektive eingenommen – und
damit unter anderem die Abwanderung aus Polen,
Rumänien oder Ungarn in den Westen als funda-
mentale Verlusterfahrung kenntlich gemacht.
Wenn Millionen zumeist leistungsbereiter Bürger
sich auf- und davonmachen, hält sich die Begeiste-
rung der Zurückgebliebenen für Flüchtlinge und
Armutsmigranten in Grenzen. Der Kosmopolitis-
mus, den einst der Sozialismus predigte, blieb im
Osten stets ein abstraktes und unbeliebtes Dogma,
die ethnische Homogenität galt insgeheim als
Fortschritt gegenüber den multikulturellen Gesell-
schaften vor dem Ersten Weltkrieg. Diese mentali-
tätsgeschichtlichen Unterschiede zwischen Ost
und West traten während der Flüchtlingskrise
offen zutage, und so ließ sich in Europadämmerung
bereits prä gnant aufzeigen, wie der Menschen-
rechtsdiskurs und der Liberalismus im Osten zu-
nehmend als Dekadenzphänomen des Westens
wahrgenommen wurden.
An diesen Befund knüpft Krastev – diesmal
mit einem Co-Autor, dem amerikanischen Rechts-
wissenschaftler Stephen Holmes – noch einmal
an. In dem gerade erschienenen Buch Das Licht,
das erlosch wird der Versuch unternommen, die
neue Weltordnung, die sich seit 1989 herauskris-
tallisiert, mit einem neuen Gegensatzpaar begreif-
bar zu machen. Standen sich einst Kapitalismus
und Kommunismus gegenüber, so stehen sich
heute Liberale und enttäuschte Nachahmer des Li-
beralismus gegenüber. Die Nachahmungsleistung
des Ostens war zunächst enorm: In Windeseile
wurden die Gesellschaften kapitalisiert, ihnen wirt-
schaftliche Rosskuren aufgezwungen, die Länder
mit Konsumgütern und Fast-Food-Ketten des
Westens versorgt. Die Reformen waren zwar eine
freie Entscheidung, aber sie wurden »gefördert und
überwacht« vom Westen.

Nun mag es, wie Holmes und Krastev suggerie-
ren, im Wesen der Nachahmung liegen, dass diese
zuverlässig Scham und Minderwertigkeitskomplexe
befördert. Untertänige Abhängigkeit schlägt eben
gerne in Aggression um. Hinzu kommt aber eine
Enttäuschung über die einst so verehrten Nachge-
ahmten selbst. Es zeigte sich den Nach ahmern
nämlich recht bald: Das Original ist gar nicht so,
wie man es sich hinter dem Eisernen Vorhang aus-
gemalt hat. Wähnten sich zum Beispiel die Polen
während des Sozialismus in einem unnormalen,
verrückten Land, so galt ihnen der Westen als ein
Hort der Freiheit und Normalität, weil dort Tradi-
tionen gepflegt würden und an Gott geglaubt
werde: »Heute jedoch haben die Polen erkannt,

dass westliche ›Normalität‹ Säkularismus, Multi-
kulturalismus und Homo-Ehe bedeutet.« Man
wollte Demokratie, Reisefreiheit und Kapitalis-
mus, handelte sich aber auch noch eine gesell-
schaftliche Liberalisierung ein, die deutlich weniger
populär ist und als etwas Radikales und wiederum
»Unnormales« wahrgenommen wird. Besonders
aber zeigen sich viele Osteuropäer, sowohl Linke als
auch Rechte, von der deutschen Vision einer post-
nationalen Identität stark befremdet: »In Osteuropa
geht man aus historischen Gründen eher davon
aus, dass Nationalismus und Liberalismus sich ge-
genseitig stützen, nicht ausschließen.«
Folgt man Krastev und Holmes, dann bedie-
nen sich Kaczyński, Orbán und Co. schamlos

einer »politischen Psychologie«, um ihre Macht zu
festigen und auszubauen. Sie pflegen eine Rheto-
rik der Revanche, was auf ziemlich fruchtbaren
Boden fällt. Die enttäuschten Nachahmer preisen
sich gegenüber den einst Nachgeahmten heute als
die wahren Europäer, als eine Art konservative
Avant garde, die der Seelenlosigkeit des westlichen
Liberalismus noch echte Bindung, Vaterland und
familiäre Werte entgegensetzt. Holmes und Kras-
tev fassen das Argument gegen einen uferlosen
Kosmopolitismus bündig zusammen: »Wenn jeder
dein Bruder ist, bist du ein Einzelkind.« Der
Irrweg ist der entleerte Individualismus, die Zu-
kunft eine heile Vergangenheit. Um die peinliche
Nachahmung, der man sich zunächst blind hinge-
geben hat, zu verdrängen, wird der Westen ent-
wertet. Der Nachahmer stößt den Nachgeahmten
ab und postuliert sich seinerseits als Vorbild.
Es ist ein Buch, das einen dazu verführt, fast
auf jeder Seite etwas zu unterstreichen und sich
Anmerkungen zu machen. Mit dem Nach-
ahmungsparadigma haben die Autoren ein an-
regendes Instrumentarium gefunden, um die mas-
senpsychologischen Prozesse unserer Gegenwart
offenzulegen. Die Fülle an überraschenden Ein-
sichten und Beobachtungen ist beträchtlich, der
detaillierte Blick auf Mentalitätsverschiebungen
nicht durch die immer gleichen antifaschistischen
Großbegriffe und Ismen verstellt. So wird über-
haupt erst plausibel, wie einst Bürgerrechtler und
Streiter für die Demokratie wie Kaczyński und
Orbán sich zu den illiberalen Galionsfiguren des
Ostens wandelten, die mittlerweile auch Anhän-
ger und Nachahmer im Westen haben.
Die Nachahmung hat eben immer auch einen
Effekt auf den Nachgeahmten. Im Falle Amerikas
lässt sich zeigen, wie Trump die Nachahmer des
Westens zu seinen Feinden erklärt. Sind Japan und
Deutschland nicht Parasiten der amerikanischen
Wirtschaft, die das Land frech mit ihren Produk-

ten fluten? Und erst China, das jede amerikanische
Erfindung aufgreift, um Amerika mit seinen ei-
genen Waffen zu schlagen? Krastev und Holmes
lenken den Blick auf eine abgründige Ansicht
Trumps, die wenig beachtet wurde, wohl auch
deshalb, weil sich ihr vordergründig durchaus
viele Linke anschließen können: Das Zeitalter des
»American exceptionalism« sei seiner Ansicht nach
vorbei, die Amerikaner sollten ihren verlogenen
Glauben aufgeben, eine moralische Weltinstanz
zu sein. Die alte amerikanische Überzeugung, all-
gemeingültige Aufklärungswerte in alle Welt ex-
portieren zu müssen, wird von Trump abgelehnt.
Er sieht sich sozialdarwinistisch als Räuber unter
Räubern, und es kommt darauf an, der mächtigste
und unverfrorenste unter ihnen zu sein. Auch das
kann dabei herauskommen, wenn man, wie an
fast allen humanities departments, den ethischen
Universalismus des Westens als zynische Macht-
politik entlarvt: Der Machthaber könnte sich
dieser Ansicht auch freudig anschließen, und ge-
nau dies geschieht derzeit.
Holmes und Krastev haben die große Gabe,
zugunsten ungewohnter Perspektiven immer
wieder ausgetretene Pfade zu verlassen. Das Buch
endet mit einer glänzenden Analyse von Chinas
machtpolitischen Ambitionen, mit denen das
Zeitalter der Nachahmung sein Ende findet.
Entwicklungsprojekte im Ausland werden von
Chinesen »nicht mit Vorlesungen über Men-
schenrechte, freie und faire Wahlen, Transparenz,
Rechtssicherheit und die Sünden der Korrup-
tion« flankiert. Die Völker verbarrikadierten sich
heute wieder in nationale und ethnische Ge-
meinschaften. Holmes und Krastev begreifen
dies als unmittelbare Folge »des populistischen
und identitätsbasierten Krieges gegen den Uni-
versalismus«. Dass sie ihre Aus führungen den-
noch hoffnungsfroh be enden, ist ein Kunststück
für sich.


  1. NOVEMBER 2019 DIE ZEIT No 47 FEUILLETON 57


Ivan Krastev und Stephen Holmes zeigen, warum sich die Osteuropäer als konservative Avantgarde sehen,


die das wahre Europa verkörpert VON ADAM SOBOCZYNSKI


Die Rache der Problembürger


Der Westen hat nicht
nur Kapitalismus
gebracht, sondern
auch Feminismus und
Menschenrechte –
eine Mc Donald’s
Filiale in Skopje

Foto: Robert Atanasovski/AFP/Getty Images

LITERATUR


Ivan Krastev/
Stephen Holmes:
Das Licht, das erlosch.
Aus dem Englischen von
Karin Schuler;
Ullstein, Berlin 2019;
368 S., 26,– €

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