Die Zeit - 14.07.2019

(Jacob Rumans) #1
Eine Demonstrantin zeigt
Munition, die von
den Sicherheitskräften
verfeuert wurde

Ein Junge bekommt bei
den Protesten in Kerbala
die Farben der irakischen
Nationalflagge auf die
Wange gemalt

Sie wollen Bürger sein


Protest in Kerbala, der heiligen Stadt der Schiiten: Die Iraker wehren sich gegen einen korrupten und unfähigen Staat –


und gegen die Bevormundung durch das mächtige Nachbarland Iran VON LEA FREHSE


Kerbala

Z


ainab* ist schwarz verschleiert von
Kopf bis Fuß, und auch die untere
Häfte des Gesichts hat sie bedeckt


  • mit einer OP-Maske wie aus
    dem Krankenhaus. Sie will mög-
    lichst wenig auffallen. Wir sind
    auf dem Terbria-Platz verabredet,
    bei den Zelten eines Protestcamps; OP-Masken
    sieht man hier öfter – gegen das Tränengas. Doch
    schon nach wenigen Minuten sagt Zainab:
    »Komm. Es ist nicht mehr sicher.« Wir reden im
    Eiscafé weiter.
    Zainab, 25, lachende Augen, hat im Sommer
    ihr Zahnmedizin-Studium abgeschlossen. Inzwi-
    schen geht sie fast täglich demonstrieren. Der Irak
    erlebt die größten Proteste seit dem Ende der
    Saddam-Diktatur, gegen Korruption und eine
    Staatsmacht, die ihren Bürgern keine Rechen-
    schaft ablegt. Die Demonstrationen haben keine
    Anführer, nur Leute, deren Wort gehört wird.
    Zainab ist hier in Kerbala eine von ihnen.
    Kerbala, etwa 90 Kilometer südlich der Haupt-
    stadt Bagdad gelegen, trägt den Beinamen »die
    Heilige«. Hier fiel der Überlieferung nach der
    Imam Hussein, ein Enkel des
    Propheten Mohammed, in der
    Schlacht gegen einen Kalifen, der
    vertragsbrüchig die Macht über
    die Gläubigen an sich gerissen
    hatte. Auf Hussein und sein Mar-
    tyrium geht der schiitische Zweig
    des Islams zurück. Kerbala, die
    heilige Stadt, ist zum Symbolort
    für ein zentrales Motiv der Schi-
    iten geworden: Wo Herrschaft il-
    legitim ist, wird Widerstand zur
    Pflicht.
    Jedes Jahr zu Arbaeen, Imam
    Husseins Todestag, pilgern Gläu-
    bige zu Fuß in die Stadt. In diesem
    Jahr kamen 15 Millionen, mehr als
    nach Mekka. Das wirklich große
    Geschehen begann diesmal aber
    am Tag darauf. Am 25. Oktober
    kam es zu Massenprotesten in
    vielen Städten des Irak. An diesem
    Freitag ist das zwei Wochen her.
    Der Unmut auf den Straßen hat
    nicht nachgelassen. Im Gegenteil:
    Jeder Tote hat ihn weiter an-
    gefacht.
    Denn seit Beginn der ersten
    Demonstrationen Anfang Oktober
    sind mindestens 320 Menschen
    getötet worden, manche durch
    Scharfschützen. Die Menschen-
    rechtskommission des Irak hat auf-
    gehört, Opferzahlen zu veröffent-
    lichen, weil ihre Mitarbeiter Todes-
    drohungen erhielten. Journalisten
    werden angegriffen, die Regierung
    hat das Internet weitgehend abge-
    schaltet.
    Aus Kerbala drangen vor weni-
    gen Tagen dennoch Bilder nach
    außen, wie man sie noch nie gese-
    hen hat. Videos zeigen, wie De-
    monstranten das iranische Konsu-
    lat stürmten. Sie holten die irani-
    sche Flagge ein und hissten die
    irakische. »Der Irak ist frei! Iran
    raus!«, skandierten sie. Das mäch-
    tige Regime im Iran geriert sich
    als Schutzmacht aller Schiiten, es
    besitzt großen Einfluss im Irak.
    Ein anti-iranischer Aufstand schi-
    itischer Demonstranten gerade
    hier? Teherans ultimative Blamage.
    Zainab sagt, dieser Herbst der Demonstratio-
    nen habe sie vollkommen überrascht. Dass die
    Iraker am Ende gewesen seien nach Jahren des
    Krieges und der Korruption, habe sie gewusst.
    Aber erschöpft war eben jeder für sich. »Das
    Schönste an den Protesten ist, dass wir jetzt zu-
    sammen müde sind.«
    Ihr Sohn, 8, tobt um den Café-Tisch. Wie üb-
    lich im konservativen Kerbala wurde Zainab mit
    16 verheiratet. Ihr Mann wollte nicht, dass sie
    studierte, also ließ sie sich scheiden. Frühe Ehen,
    viele Scheidungen, das sei so eine Scheinheiligkeit,
    mit der ihre Generation im Irak aufwachse, meint
    Zainab. Immerhin könne sie sich als Geschiedene
    freier bewegen als jede Unverheiratete oder Ehe-
    frau. Sie braucht niemandes Erlaubnis.
    Als am 25. Oktober erstmals demonstriert wur-
    de, sei sie eine von vielleicht zehn Frauen auf dem
    Terbria-Platz gewesen, erzählt Zainab. Inzwischen
    demonstrieren auch in Kerbala mehr Frauen, alle
    in der Abaja, dem schwarzen Tuch. Seit im ver-
    gangenen Jahr das »Gesetz über das heilige Kerba-
    la« erlassen wurde, ist das hier Vorschrift.
    Zainab liebt den Protest-Platz, eigentlich ein
    Kreisverkehr. Inzwischen sind die Straßen dorthin
    mit Armee-Jeeps und Stacheldraht abgesperrt, nur
    Fußgänger dürfen passieren. Nachmittags kom-
    men Alte und Junge; Jura-Studenten im Anzug
    setzen sich auf Plastikstühle neben Jungs aus den


Vororten mit ihren Flip-Flops. Manche tragen die
irakische Flagge um die Schultern. Den Platz säu-
men Zelte mit Bannern: »Vereinigung der Anwäl-
te« und »Arbeiter der Elektrizitätswerke«. Es wer-
den Falafel frittiert, im Springbrunnen kühlen
Wasserflaschen für alle. Es gibt auch ein Sanitäts-
zelt, daneben eine Pinnwand. Daran ist ein gutes
Dutzend Porträts junger Männer geheftet: die
»Märtyrer der Oktoberrevolution«. Alles auf dem
Platz ist gespendet worden. Die Männer an der
Pinnwand haben ihr Leben gegeben.
Zainab erzählt, sie bleibe nie länger als bis 21
Uhr auf dem Platz. Dann kann man erleben, wie
die Stimmung kippt. Die Straße, die von hier zum
Gebäude der Provinzregierung führt, wird zur
Kampfzone. Die Jungs ziehen ihre Flip-Flops aus,
um schneller rennen zu können, und zünden Auto-
reifen und Molotowcocktails an. Sie kommen nicht
weiter als bis zu einer hohen Mauer aus Beton-
elementen, die den Weg zum Gouverneurssitz
blockiert. Ihnen entgegen fliegen dort Tränengas-
und Gummigeschosse. Wer nicht zum Ziel werden
will, bleibt besser bei den Zelten.
Dort zeigen sie einander die Aufnahmen aus
den vergangenen Tagen: Wagen der irakischen Si-

cherheitsspezialkräfte, die in die Menschenmenge
rasen. Ein lebloser Körper rollt danach über die
Straße. Es sind Gewaltexzesse, wie sie inzwischen
auch die UN in einem Bericht zu den Irak-Protes-
ten angeprangert haben. Warum trägt keiner der
Jungs an der »Front« auch nur einen Mofa-Helm,
um sich zu schützen? »Wir sind Zombies!«, ruft ein
Junge, vielleicht 16. Wer nicht wirklich leben kön-
ne, habe keine Angst zu sterben.
Früher am Nachmittag, auf der anderen Seite
der Mauer. Gut zwei Dutzend gepanzerte Wagen
stehen hier, dazwischen Männer in Kampfmontur,
vermummt, ganz in Schwarz. Es ist die »Goldene
Division«, die bekannteste Antiterroreinheit des
Irak, führend im Kampf gegen den IS. Von jen-
seits des Betons wehen Schreie herüber. Oben, im
Büro des Gouverneurs, ist es hingegen aufgeräumt
und still, die Jalousien sind geschlossen. Und der
Gouverneur strahlt. »Ich freue mich über die Pro-
teste!«, sagt er.
Kerbalas Gouverneur Nasaif al-Khatabi, jun-
genhaftes Lachen, ist noch kein halbes Jahr an der
Macht. Er ist stolz darauf, seinen Vorgänger wegen
Korruption aus dem Amt gejagt zu haben, obwohl
der zur gleichen Partei gehört. Die Proteste wür-
den ihn stärken, denn sie machten deutlich, wie
unzufrieden die Bevölkerung mit der Lage sei, die
sein Vorgänger zu verantworten habe »und die Re-
gierung in Bagdad«. Der Sturm des iranischen
Konsulats vor ein paar Tagen? Das sei natürlich zu
verurteilen, sagt Al-Khatabi. Und lässt zugleich 300 km

ZEIT-GRAFIK

TÜRK EI

SYRIEN

SAUDI
AR ABIEN

Teheran

Bagdad

IRAK

IRAN
KerbalaKerbala

durchblicken, dass er den Denkzettel an die Iraner
gar nicht so falsch findet. Schließlich haben die
sich zuletzt ganz schön aufgespielt in seinem Land.
Als Gouverneur gehört Al-Khatabi zur Elite des
politischen Systems im Irak. Die Proteste begreift
er offenbar als Chance, um Konkurrenten auszu-
booten – um dann wahrscheinlich das System
ziemlich unverändert weiterzuführen. Die vielen
Toten? »Gerüchte!«, sagt al-Khatabi. »Es gibt zwei
Lager bei den Protesten: ein friedliches, das auf
meiner Seite ist. Und eines, das Unfrieden stiften
will!« Er sagt das so, als spreche er nicht von Bür-
gern, sondern von Kindern.
Als Zainab von der Begegnung mit dem Gou-
verneur hört, lacht sie so laut, dass sich die Familie
am Nebentisch zu ihr umdreht. »Die sagen jetzt
alle, sie seien für uns.« Der Gouverneur verkörpere
das Problem mit den Mächtigen in ihrem Land:
Schuld an der Misere seien immer die anderen. »Es
ist ein großes Theater«, sagt Zainab. Manchmal sei
es zum Lachen.
Die irakischen Bürger haben politische Rech-
te, sie wählen ihr Parlament. Doch das staatliche
System begünstigt Korruption und Seilschaften,
auch weil es auf Gräben und Trennungen auf-

baut, auf Quoten für die religiösen Gruppen im
Land: die Mehrheit der Schiiten, die Minderhei-
ten der Sunniten, Kurden, Christen. Wer an der
Macht ist, bringt Kritik gern zum Verstummen,
indem er Ängste der einen vor den anderen schürt.
Begünstigt vom Desaster der amerikanischen Be-
satzung, haben so Oligarchen und Warlords den
Staat gekapert.
Es ist ja auch viel zu holen. Der Irak fördert
mehr Öl als die Vereinigten Arabischen Emirate,
was die Regierenden gern betonen, wenn sie in-
ternational Einfluss geltend machen wollen. Sie
sprechen dann auch vom Irak als der »Wiege der
Zivilisation«. Die Bürger aber leben in Städten
mit maroden Kliniken und Straßen, zwischen
vergifteten Flüssen und Müll. Millionen sind
ohne Arbeit. Die Öleinnahmen scheinen einfach
zu verpuffen.
Der am weitesten verbreitete Slogan bei den
anhaltenden Protesten lautet: »Wir wollen ein
Heimatland«. Das klingt nach wenig, nach dem
kleinsten gemeinsamen Nenner. Doch angesichts
des Zustands dieses Staates sind es große Worte.
Der Wunsch nach Einheit schwingt darin ebenso
mit wie der nach einem Leben in Würde. Selbst-
bestimmt.
Zainab trägt ihr Kopftuch sorgfältig so, dass
stets der Haaransatz zu sehen bleibt. Manche
Männer auf der Straße weisen sie deshalb zurecht.
Wenn schon jede Frau in Kerbala das Tuch tragen
muss, dann will sie wenigstens jeden Tag zeigen,

dass sie nicht damit einverstanden ist. »Diese Re-
geln entsprechen nicht der irakischen Gesellschaft,
sie kommen aus dem Iran«, sagt Zainab. Als die
Demonstranten am 3. November am Konsulat in
Kerbala die iranische durch die irakische Fahne
ersetzen, sah Zainab von ihrem nahen Büro aus zu.
»Das war der beste Moment der ganzen Proteste«,
sagt sie.
Nicht nur in Kerbala werden Parolen gegen
den Iran gerufen. Dass der Ärger über das große
Nachbarland so offen hervortritt, hat im Irak viele
überrascht. Gegen Teherans Macht und Einfluss
grummelte man sonst nur privat. Man müsse sich
ja bloß umschauen, sagen Passanten in Kerbala:
Die neuen Hotels, erstmals höher als die Türme
des Hussein-Schreins? Gehören Iranern. So wie
die neuen Malls. Sogar die Wassermelonen kom-
men inzwischen aus dem Iran. Sie seien schlechter,
klar, aber billiger. Nach 2003 hat der Iran die ira-
kischen Märkte mit günstigen Waren geflutet.
Und über die religiösen Institutionen die Moral-
vorstellungen seines Regimes verbreitet.
Vielleicht wäre die Wut darüber früher öffent-
lich geworden, hätte man den Iran nicht ge-
braucht. Als die irakische Armee 2014 gegen den
IS versagte, unterstützte der Iran
Milizen, die sich den Dschihadis-
ten entgegenstellten. Viele von ih-
nen wurden hastig zusammenge-
stellt, aber sie waren siegreich. Nur
sind sie seither bestehen geblieben.
Verschiedentlich wurde angekün-
digt, sie in die Armee zu integrie-
ren; teilweise sind sie inzwischen
mit den Streitkräften verquickt
und sogar durch Parteien im Par-
lament vertreten (sie besitzen auch
eigene Wirtschaftsunternehmen).
Insgesamt haben sie so das ohne-
hin korrupte System weiter zer-
setzt. Irans Einfluss darin ist im-
mer undurchsichtiger geworden –
aber gewiss größer.
Nach dem Sturm auf das Kon-
sulat zählte Zainab vier Tote. Sie
zieht seit Beginn der Proteste
durch Kerbalas Kliniken und be-
richtet Amnesty International von
dem, was sie dort sieht. Möglich,
dass sie damit ihr Leben riskiert.
Als sie vergangene Woche zu
Fuß aus dem Haus ging, so erzählt
Zainab, folgte ihr ein Mann in
Zivil bis zur Demonstration, foto-
grafierte, ließ sich nicht abschüt-
teln. Sie erhält auch anonyme
Nachrichten: »Nimm dich in
Acht, Frau Doktor.« Auf eine ant-
wortete sie mit einem Emoji, das
Tränen lacht. Aber doch, sie habe
Angst. »Ich hoffe nur, dass mein
Verfolger vom Geheimdienst war
und nicht von den Milizen.«
Die Gewalt gegen die De-
monstranten im Irak ist so diffus
wie das System, gegen das sie auf-
begehren. Aktivisten und Journa-
listen berichten von anonymen
Drohungen; manche wollen sich
mit Ausländern nur im Auto tref-
fen, um nicht des Kontakts mit
»Spionen« bezichtigt werden zu
können. Zuletzt wurden mehrere
Demonstranten in Zainabs Alter
entführt oder niedergestochen.
Niemand kann sicher sein,
wer dahintersteckt. Es gibt aber
Hinweise. Journalisten der Nach-
richtenagentur Reuters berichte-
ten, der Chef der iranischen Revolutionsgarden,
Qassem Soleimani, habe nach den ersten Protesten
in Bagdad persönlich vom Premier das Kommando
über die irakischen Sicherheitskräfte übernom-
men. Der iranische Revolutionsführer Chamenei
machte in einer Fernsehansprache seine Haltung
klar: Die Demonstrationen sollten beendet wer-
den, so wie jene im Iran im vergangenen Jahr.
Es sind bange Wochen für das Regime in Tehe-
ran. Auch im Libanon trägt die schiitische Bevöl-
kerung, deren Schutzmacht man sein will, Massen-
proteste mit. Am Schrein Husseins in Kerbala
quittiert das ein Vertreter der religiösen Verwal-
tung so: »Der Iran hält sich für etwas Besseres. Wir
wollen seine Bevormundung nicht.«
Anfang dieser Woche bleiben in Kerbala die
Schulen geschlossen: Streik. In Bagdad drängen
die UN die Regierung zu Reformen. Es könnte so
kommen, wie es Leuten wie Kerbelas Gouverneur
zupasskäme: Die Regierenden bekennen sich zu
den Forderungen der Demonstranten, zum Bei-
spiel einer Wahlrechtsreform, und setzen sie mög-
lichst restriktiv um. Das System und Irans Macht
blieben bestehen.
Sie glaube nicht, dass die Proteste ewig andau-
ern können, sagt Zainab. »Aber sie haben unser
Bewusstsein für immer verändert.« Dafür, dass
viele Iraker einen richtigen Staat wollen, keinen,
der sie teilt und beherrscht.

A http://www.zeit.deeaudio

Foto: Vincent Haiges für DIE ZEIT

*Name geändert


6 POLITIK 14. NOVEMBER 2019 DIE ZEIT No 47

Free download pdf