Die Zeit - 14.07.2019

(Jacob Rumans) #1

S


aide İnaç ist eine deutsche Sängerin mit
kurdischen Wurzeln (Künstlername: Hozan
Canê) und sitzt seit anderthalb Jahren in
einem türkischen Gefängnis. Verhaftet wurde die
47-Jährige im letzten Jahr im Juni in Edirne, wo sie
auf einer HDP-Wahlkampfveranstaltung auftre-
ten sollte. Der Vorwurf: Sie habe mit ihrem Film
74th Genocide Sengal Propaganda für die PKK be-
trieben, deren Mitglied sie auch sei (was ein Foto
mit einem PKK-Funktionär belege).
Bereits mit zwanzig wurde sie nach einem Kon-
zert verhaftet, saß neun Monate im Ge-
fängnis, erlitt Folter. Dann ging sie nach
Deutschland, wo sie in Köln in einem
kurdischen Kulturzentrum tätig war.
Am Tag nach Canês erster Verhand-
lung besuchte Präsident Erdoğan
Deutschland. Aus der Haft schrieb die
Sängerin an Angela Merkel, sie sei zu
Unrecht inhaftiert, es gehe ihr gesund-
heitlich nicht gut. Sie bat die Kanzlerin,
ihre Situa tion beim Treffen mit Er-
doğan anzusprechen.
Zuvor hatte die türkische Regierung bereits
Meşale Tolu, Peter Steudtner und Deniz Yücel mit
unrechtmäßigen Anschuldigungen als »Geiseln«
genommen und versucht, sie als Trumpf bei Ver-
handlungen einzusetzen. Für Canê änderte Erdoğans
Berlin-Besuch nichts. Ungewöhnlich schnell für die
Türkei wurde sie nach drei Verhandlungen zu sechs
Jahren und drei Monaten Haft wegen PKK-Mit-
gliedschaft verurteilt.
Nicht genug damit. Anschließend wurde sie
wegen Beleidigung des Staatspräsidenten verklagt.
Ein populäres Vergehen: 2017 wurde deswegen in
20.000 Fällen ermittelt, 2018 waren es bereits
26.000 Fälle. Allein 2018 kam es zu über 5000
Prozessen, die Hälfte endete mit Verurteilungen.
Grund für den Prozess gegen Canê war eine angeb-
lich auf Facebook von ihr geteilte Erdoğan-Karika-
tur. Mit der Erklärung, weder Account noch Post
gehörten ihr, drang ihre Anwältin nicht durch. Es
dauerte nur zwei Wochen, und Canê war zu einem
Jahr und fünf Monaten Haft verurteilt. Nicht genug

damit. Als Canês Tochter Gönül Örs in diesem
Frühjahr in die Türkei reiste, um die Mutter zu be-
suchen, durfte sie wegen Teilnahme an einer De-
monstration in Köln das Land nicht wieder verlas-
sen. Als sie im September versuchte, illegal auszurei-
sen, wurde sie festgenommen.
Nun sitzen Mutter und Tochter hinter Gittern.
Im Interview mit der Deutschen Welle sagte die
Sängerin, sie sitze mit 35 Häftlingen in einem Trakt:
»Die Bedingungen im Gefängnis sind sehr hart.
Trotz aller Schwierigkeiten versuche ich zu überle-
ben. Aber mit meinen gesundheitlichen
Problemen ist es leider nicht so einfach.
Eine Behandlung im Krankenhaus ist mit
vielen Hürden verbunden.«
Auf die Anfrage der Linken-Abge-
ordneten Sevim Dağdelen und Gökay
Akbulut antwortete das Auswärtige
Amt, in den ersten sechs Monaten 2019
sei die Zahl der in der Türkei inhaftier-
ten Deutschen von 47 auf 62 gestiegen.
Dieser Tage wird das Revisionsurteil
für Canê erwartet. Vertrauen in die Justiz hat nie-
mand mehr, also hofft man auf Diplomatie. Der
Abgeordnete Akbulut sagt, er erwarte von der
deutschen Regierung, sich nicht auf Verhand-
lungen einzulassen, sondern sich für ihre Freilas-
sung einzusetzen.
Als Erdoğan den Pastor Andrew Brunson als
Geisel nahm, drohte US-Präsident Trump, die
türkische Wirtschaft lahmzulegen, und erhöhte den
Importzoll auf Stahl aus der Türkei von 25 auf 50
Prozent. Zwei Monate später war Brunson frei. Bald
darauf wurde der Einfuhrzoll wieder auf 25 Prozent
gesenkt. Wo kein Recht herrscht, zieht leider nur
Zwangspolitik.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

Immer mehr Deutsche sitzen in türkischen Gefängnissen. Ohne politischen
Druck werden wir sie nicht freibekommen VON CAN DÜNDAR

Schauen wir nicht länger zu!


MEINE
TÜRKEI (166)

Can Dündar ist Chefredakteur
der Internetplattform »Özgürüz«.
Er schreibt für uns wöchentlich
über die Krise in der Türkei

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Birgitte Christensen,
Kristina Hammarström und
Thomas Walker in Scarlattis
Oratorium »Il Primo Omicidio«

Fotos: Monika Rittershaus; Andreas Pein/laif (u.); Illustration: Pia Bublies für DIE ZEIT

Zarter Gesang


vor dem Mord


Ergreifende Wiederentdeckung: Der Barockkomponist


Alessandro Scarlatti an der Berliner Staatsoper VON JENS NORDALM


Beats und elektronischen Klangteppichen unterlegt
funktionierte es fabelhaft.
Man konnte sich aber auch schlankere, abstrak-
tere Eindrücke verschaffen. Den jungen Cembalis-
ten Jean Rondeau lieben Domenico-Scarlatti-Fans
längst für seine Platzierung der kanonischen Sona-
ten mitten im Jetzt: indem er sie mit glühender
Ruhe und berstender Energie interpretiert – und
indem er improvisierend mit ihnen sein eigenes
Jazz-Idiom schafft. Beides führte er, nachts und
morgens, im Apollosaal der Staatsoper vor – an-
hand von Domenicos Sonaten, aber auch mit Ales-
sandros Toccaten. Und wie der Sohn, so der Vater.
Schwerlich sind Rhythmen und Tempi anderswo
so glitzernd elegant, so selbstsicher perlend unter-
teilt wie im »objektiven« Cembalo-Sound. Finge
die vergehende Zeit von selbst an zu klingen, sie
klänge wohl so.
Einen großen Teil von Alessandro Scarlattis
Werk verdanken wir einer strengen kirchlichen
Musikzensur. Seine Kunst ist oft Ausweichreaktion.
Kantaten, Serenaden, Oratorien wurden vor allem
deshalb die Formen der Wahl im Italien des be-
ginnenden 18. Jahrhunderts, weil zwei Päpste in
Rom über Jahre Theater- und Opernaufführungen
verboten. Sinnlichkeit und Drama wanderten in
die Formen und Stoffe, die erlaubt waren, in Kan-
taten, Oratorien, Serenaden. Die Komponisten,
die Musiker und Sänger, die Mäzene und das Pu-
blikum suchten sich ihre Wege, zu genießen, was
sie nicht entbehren konnten.

Auch deshalb eignet Scarlattis Musik in aller
Sanftheit und Subtilität immer auch dramatischer
Gehalt und dramatische Form. Die Oratorien sind
getarnte Opern. Das gilt für Il Primo Omicidio, die
Geschichte von Kain und Abel und ihrer Eltern
Adam und Eva, genauso wie etwa für Händels
Trionfo del Tempo e del Disinganno, der in den
gleichen Wochen des Frühjahrs 1707 ebenfalls in
Rom entstand.
Unter der Leitung von René Jacobs strömte
jetzt in Berlin Scarlattis musikalische Erzählung
dieses »ersten Mordes« warm federnd dahin. Was
für bestrickende Arien und Duette der Brüder und
der Eltern! Wie sanglich selbst die Rezitative! Und
auch gedanklich bleibt man stets wach und dabei
und hört etwa erstaunt, wie Adam in der ersten
Arie des Abends die Schuld für die Sache mit dem
Apfel auf sich nimmt. Eva allerdings widerspricht
sofort: Caro sposo! Ergreifender ist nie ein Ehe-
mann angesungen worden.
Es liegt ein fulminanter Text unter der Musik,
die ihn wiederum voll auskostet: Che dove Dio ris-
plende il Sole è un ombra (»Wo Gott strahlt, ist die
Sonne nur ein Schatten«). Pur und rein, wenn Abel
von seinem zu opfernden Lamm aus der Herde
singt: Dalla mandra un puro agnello. Wie sehnend
Adam das il Nume (»Gott«) dehnt! Als hätte das
Wort zu keinen anderen Tönen finden können.
Zarter, lyrischer geht es nicht, jedenfalls nicht in
einer Unterhaltung zwischen Opfer und Mörder
unmittelbar vor der Tat. Und danach darf Kain

(herausragend: Kristina Hammarström) sich
noch mit einer tief berührenden Arie von sei-
nen Eltern verabschieden: Miei genitori, addio!
Was hier geschieht, ist eben nicht mit Psy-
chologie oder Bösartigkeits-Diagnosen zu fassen,
sondern ist Gottes brutal-irritierender Heils-
Ratschluss. Im zweiten Teil des Abends ver-
sammelt der Regisseur Romeo Castellucci auf
der Bühne eine schuldig-unschuldige Kinder-
Menschheit der Nachkommenschaft Adams,
die im Jüngsten Gericht einst »ihr Grab in ihrer
Wiege findet«, so der Text. Aber der szenische
Gedanke stimmt auch zur brüderlichen Un-
schuld vor der Mord-Tat. Die Menschheit, das
sind hier zugleich Kinder-Täter und Kinder-
Opfer, umherirrend mit Kains-Mal in der Welt,
bis sie durch ein Kind aus ihrer Mitte erlöst
werden wird – auch das ist im Libretto am
Ende angedeutet.
Eine getarnte Oper ist auch Scarlattis Orato-
rium Dolore di Maria Vergine aus dem Jahr
1717, in Berlin dargeboten am Sonntagmorgen:
die hundert Schattierungen der Angst, der Hoff-
nung und der Trauer einer Mutter um ihren
Sohn. Raffaella Milanesi sang das erschütternd
wahrhaftig. Man ist dankbar, dass diese hinrei-
ßende Musik von nun an zum Leben dazuge-
hört. Auch Johannes’ verwegene Arie des Lei-
dens-Stolzes: Soffri costante! Leide unentwegt!
Oder am Ende sein rhythmisch explodierender
Jubel, als er den Sinn von Jesu Tod begreift.

Es ist dramaturgisch bestechend und zeugt
dazu von Alessandro Scarlattis Geistes- und
Herzensweite, wie bezwingend schön, wie pa-
ckend und selbstbewusst gerade die jesusläster-
lichen Arien des Glaubens-Feindes Onias kom-
poniert sind. Triumphaler, strahlender kann
heils- und weltgeschichtliches Unrecht nicht
auftreten. Als Onias dann angesichts von Son-
nenfinsternis und Erdbeben in Jesu Todesstun-
de plötzlich ahnt, dass Jesus unschuldig war –
süßer ist das innocento nie vertont worden –,
denkt man an die entsprechende Schlüsselstelle
in der Matthäuspassion zehn Jahre später, an
Bachs Chor-Zeile: »Wahrlich, dieser ist Gottes
Sohn gewesen«.
Die Scarlatti-Entdeckung an diesen Barock-
tagen klingt mit zwei Serenaden im Pierre-Boulez-
Saal aus. Serenaden waren eine weitere beliebte
Form der Opernvermeidung: arkadische Szene,
knappe Handlung – und viel Zeit für Liebes-
Leiden und Sich-Anschwärmen. Etwa im Duett
von Venus und Adonis in Giardino d’Amore
(zum Niederknien: Delphine Galou und Serena
Sáenz): So sehr atmet das Herz auf, wenn ich
dein strahlendes Gesicht bewundere! Wenn die
Violinen unisono den Sopran des noch verzwei-
felten Adonis begleiten (Ah, non mi dir cosi!),
streckt man alle Waffen. Und wenn Venus in
Alt-Lage antwortet: Andiamo, o caro bene! –
dann weiß man, wie man einmal die Hand ent-
gegengestreckt bekommen möchte.

S


carlatti, aber nicht Domenico, sondern
Alessandro, der Vater – für die meisten
wohl kaum mehr als ein Name. Aber
wer die Barocktage der Staatsoper Unter
den Linden diesen Herbst besucht hat,
dem leuchten künftig bei beiden Scarlattis die Au-
gen. Es begann im Alten Orchesterprobensaal mit
Letizia Renzinis szenisch-tänzerischer Kommentie-
rung eines Querschnitts aus Alessandro Scarlattis
knapp 800 weltlichen Kammerkantaten – unter
der nach aller Lebenserfahrung nicht unplausiblen
Überschrift: Amor macht vor allem unglücklich.
Die verzweifelnd Liebenden und betörend Sin-
genden (besonders den warmen, vollen Sopran


von Lore Binon wird man nicht vergessen) ließ
Renzini im Fitnessstudio unter ständigem Seiten-
blick aufs Handy ihre einsamen Übungen ma-
chen. Der Abend zeigte schon einmal: Es muss
nicht immer Händel sein. Strömenden Wohlklang
von Arien und Duetten gibt es auch bei dem älte-
ren Scarlatti (1660–1725), mit Viola-da-Gamba-
Grazie und Barockharfen-Zauber – und selbst mit


60 FEUILLETON 14. NOVEMBER 2019 DIE ZEIT No 47


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