Die Zeit - 14.07.2019

(Jacob Rumans) #1

KINDER & JUGENDBUCH


Illustration: Lucia Zamolo


F


rüher, also ganz früher – Antike,
Mittelalter –, war die monatliche
Menstruationsblutung so etwas
wie Hexenwerk: mysteriös, uner­
gründlich und sehr unnormal.
Plinius der Ältere meinte, mens­
truierende Frauen machten den
Wein sauer, Paracelsus hielt dieses Blut gar für
giftig. Und hatten die Frauen während ihrer Pe­
riode nicht irgendwie auch einen bösen Blick ...?
»Mann, Mann, Mann«, kommentiert Lucia
Zamolo in ihrer Graphic Novel Rot ist doch schön,
einem schmalen Büchlein. Wie ein Skizzenheft
wirkt es, in dem sich kritzelige Zeichnungen und
handschriftlicher Text abwechseln, in dem sach­
liche Information, praktische Tipps und Kom­
mentare in ein an der grei fen. Eine Handlung gibt
es nicht, eine Hauptfigur aber schon: Neugierig
ertastet dieses Mädchen ihr beginnendes Er­
wachsenenleben. Im Ton humorvoll, kopfschüt­
telnd im Gestus, ermutigend und aufklärerisch
im wahrsten Sinne. Denn die Autorin und Illus­
tratorin erklärt, wie die Menstruation eigentlich
funktioniert, beleuchtet aber zugleich, dass so
mancher Mythos um die Monatsblutung bis
heute fortwirkt.
Manche freuen sich über ihre erste Periode,
»ich aber stand der ganzen Angelegenheit eher
skeptisch gegenüber«, lässt Zamolo ihre Erzäh­
lerin zum Auftakt sagen. Schon bei der ersten
flüchtigen Lektüre entsteht das Gefühl einer
vertrauten Unterhaltung, als spräche hier die
Freundin, die Schwester. Eine, die erlebt hat,
wie aus Skepsis Scham wird. Nässe zwischen den
Beinen, ein Fleck in der Unterhose – oje. Ver­
stohlen läuft die Protagonistin, rot ihr Pulli, rot
ihre Wangen, über die Seiten. Im Arm einen
übergroßen Tampon, der fortan zu ihr gehört.
Genauso wie die schlechte Stimmung vor der

Periode, der aufgeblähte Unterleib, die schmer­
zenden Brüste.
Bevor Zamolo ihren kleinen historischen Ex­
kurs macht, zu Aristoteles und zum Alten Testa­
ment (»alles, worauf sie während der Unreinheit
liegt, wird unrein«; 3. Mose 15, 19–24), zeich­
net sie die Gegenwart: eine schwarze Doppelsei­
te, darauf Sprechblasen, die wie düstere Vor­
würfe über diesen gewissen
Tagen hängen. »Als ob das so
doll wehtut.« – »Ist doch bald
wieder vorbei.« – »Das Thema
ist jetzt gerade echt unappetit­
lich.« – »Nimm doch einfach
die Pille.« Freundlich gemein­
ter Zuspruch wird hier ent­
larvt als Ignoranz, Desinteres­
se, Sanktionierung. Oder ein­
fach Unwissen.
Um dem etwas entgegen­
zusetzen, zeichnet Zamolo in
großen, klaren Skizzen auf,
wie ein Zyklus abläuft: der Ei­
sprung, die sich aufbauende
Schleimhaut, die Gebärmutter­
kontraktionen. Und dann:
»Fladsch, bye.« Fühlt sich an
wie tausend Liter Blut, ist aber
nicht mal eine kleine Espresso­
tasse voll.
Gleichsam umhüllt ist die­
ser biologische Vorgang von
Emotionen – und zwar nicht
nur des einzelnen Mädchens,
das verschmutzte Bettwäsche
fürchtet. Zamolo veranschau­
licht das gesellschaftliche, auch
das spezifisch männliche Un­
behagen mit der blutenden

Frau. Warum eigentlich, fragt sie, sind die Pa­
ckungen für Tampons und Binden immer him­
melblau statt rot schattiert? Was vermitteln Wör­
ter wie »Sicherheit«, was die Verheißung von
»Frische« und »Schutz« auf diesen Packungen?
Im Umkehrschluss bedeute dieses gut ver käuf­
liche Reinheitsphantasma nur eines, merkt die
Autorin an, dass »offenbar absolut untalentiert
und unnormal« sei, wer seine
Periode nicht unsichtbar und
unfühlbar mache, sie, kurz­
um: weghexe. So viel zur Ra­
tionalität der Gegenwart.
Die interessanteste Passage
bei Zamolo steht gleich zu
Beginn: Das Buch sei für alle,
»die noch nie eine Menstrua­
tion hatten und nie haben
werden« – es solle ihnen »er­
möglichen, dieses Ereignis
nachzuempfinden«. Und da­
mit sind nicht bloß die jünge­
ren Leserinnen gemeint, son­
dern auch die Jungs – die
Brüder, Väter, Ehemänner,
Lehrer. Rot sei eine schöne
Farbe, die Menstruation ein
Zeichen der Lebendigkeit.
Die meisten Mädchen be­
kommen ihre erste Periode
zwischen 11 und 14 Jahren,
erklärt Zamolo. Ein Alter, in
dem sich Körper und Geist
noch entwickeln. Laut, un­
gestüm und direkt wie
kindlich­jugendlicher Humor
sind Zamolos Texte aber
nicht, sondern vielmehr bei­
ßend ironisch: Am besten

halte man dieses ganze Blut­Dings »streng ge­
heim«, schreibt sie an einer Stelle. »Tampons
solltest du zwar immer dabeihaben, jedoch so
diskret wie möglich einsetzen.« Der jungen Lese­
rin verlangt diese verdrehte Ansprache, die ei­
gentlich das Gegenteil meint, einiges ab. Man
habe halt einen blutgetränkten Tampon in der
Vagina – »deal with it«. Die wenigsten erwachse­
nen Frauen sind so frei. Eher kennen auch sie
noch monatlich ebenjene Scham, die ihnen seit
Jahrhunderten antrainiert wurde.
Hinter dem hohen Anspruch aber steht eine
Ermutigung – und das Bild junger Mädchen als
schlau, selbstbewusst, offen, solidarisch. Ein Ka­
pitel mit Yoga­Übungen gegen die Schmerzen,
eine Nähanleitung für ein Körnerkissen sind
mehr als nur eine Handreichung. Sie holen die
Menstruation ans Licht, ach was: eigentlich ei­
nen ganzen Teil lang verdrängter weiblicher Kul­
turgeschichte. Lucia Zamolo meint es ernst mit
ihren Leserinnen, weil sie sie ernst nimmt. Da­
mit reiht sie sich ein in jüngere Emanzipations­
literatur, die nicht zufällig stark auf Optik setzt.
Die Graphic Novel kann anschaulich, plastisch,
nahbar erzählen. Auch Liv Strömquists Comic
Der Ursprung der Welt über die Geschichte der
Vulva, der Zamolo sicher ein Vorbild war, nähert
sich seinem Sujet so offenherzig wie politisch.
Motto: Weg mit den Tabuzonen, her mit dem
befreiten Leben!

Jeden Monat vergeben die
ZEIT und Radio Bremen
den LUCHS­Preis für
Kinder­ und Jugendliteratur.
Aus den zwölf
Monatspreisträgern wird der
Jahres­LUCHS gekürt.
Das Gewinnerbuch des
Monats stellt Radio Bremen
in den Programmen von
Bremen Zwei und Cosmo
vor, nachzuhören unter
http://www.radiobremen.de/luchs

LUCHS Nº 394

DIE LUCHS-JURY
EMPFIEHLT:

Bilderbuch: Ein Schulbus­Raum­
schiff wirft eine Schar von behelmten
Kindern zur Exkursion auf dem
Mond ab. Eins ist gebannt vom An­
blick des Blauen Planeten, verliert
sich im Zeichnen desselben und
bleibt zurück. Das Fehlen wird be­
merkt, das Kind eingesammelt. Doch
zuvor macht es erstaunliche Bekannt­
schaften – und der Mond wird fortan
wachsmalstiftbunt leuchten. Ein text­
loses Science­ Fic tion­ Aben teuer für
ganz junge Weltraumfans.

John Hare: Ausf lug zum Mond.
Moritz 2019; ab 4 Jahren

Kinderbuch: »Eine Elfjährige kann
sich nicht verlieben, nicht so!« Deutli­
che Worte, harte Worte – jedenfalls
dann, wenn man elf Jahre alt ist und
sich in der ersten Gefühlsverwirrung
seiner Mutter anvertraut hat, die dann
auf diese Weise antwortet. Leise im
Ton erzählt Judith Burger davon, wie
es einen jungen Menschen beglücken,
aber auch verunsichern kann, wenn er
sich zum ersten Mal verliebt. Dazu
hat Ulrike Möltgen stimmungsvolle
Illustrationen gezeichnet.

Judith Burger: Roberta verliebt.
Gerstenberg 2019; ab 10 Jahre

Jugendbuch: Kein Vater, die Mutter
ein Totalausfall, die drei Kinder sich
selbst überlassen, sich gegenseitig stüt­
zend. Bis der Älteste abhaut, um we­
nig später zum Tode verurteilt im Ge­
fängnis zu landen. Jahre darauf, kurz
vor der Hinrichtung, versucht der
jüngere Bruder herauszufinden, wer
dieser Mann ist, der ihm früher Vater
und Mutter ersetzt hat. Und ob er
wirklich einem anderen Menschen das
Leben genommen hat. Sarah Crossan
beweist mit diesem Versroman erneut,
wie meisterhaft sie mit wenigen Wor­
ten große Geschichten erzählen kann.

Sarah Crossan: Wer ist Edward Moon?
Mixtvision 2019; ab 14 Jahren


  1. NOVEMBER 2019 DIE ZEIT No 47


Lucia Zamolo:
Rot ist doch schön.
Bohem Verlag 2019; 96 S., 14,95 €
ab 10 Jahren

Diesen Monat


schon geblutet?


Menstruation – voll super!


Lucia Zamolos Graphic Novel über rotfleckige


Unterhosen und weibliche Emanzipation


VON ANNA-LENA SCHOLZ


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