Die Zeit - 14.07.2019

(Jacob Rumans) #1

Ü


ber viele Jahre bin ich von einem
evangelischen Pastor sexuell miss-
braucht worden. Die Übergriffe fin-
gen an, als ich 14 oder 15 war. Beim
ersten Geschlechtsverkehr war ich


  1. Erst mit 22 oder 23 Jahren gelang es mir, mich
    aus der Beziehung zu befreien. Mittlerweile ist der
    Täter verstorben. Dass es Missbrauch gewesen war,
    verstand ich erst Jahre später. Lange war ich fest
    davon überzeugt, dass dieser Mann, 30 Jahre älter
    als ich, verheiratet, mehrfacher Vater, mich liebte.
    Nach nichts sehnte ich mich als Jugendliche mehr.


Vorher
In den 1970er- und 1980er-Jahren war ich die Ein-
zige im Dorf, an meiner Schule, deren Mutter allein-
erziehend war. Ich galt als schwierig und rebellisch.
Eigentlich suchte ich nach Halt und Sinn. Deshalb
lag mir der Religionsunterricht. Ich wollte mehr über
Gott lernen und meldete mich Ende der sechsten
Klasse auch zum Konfirmandenunterricht an.
Eine Enttäuschung: Der Pastor war kein mit-
reißender Pädagoge; die Minuten zogen sich, und
ich fiel in mein bekanntes Verhalten. Nach gut ei-
nem Jahr wurde ich aus dem Unterricht geworfen.
Ich sollte zur Nachbargemeinde gehen.
Wie anders sah es dort aus! Der neue Pastor be-
grüßte mich freundlich. Er brauchte auch noch
Jugendliche für eine Konfirmandenfahrt: drei Wo-
chen ins Ausland. Eine ganz neue Welt mit einer
Gruppe, in der alle nett zueinander waren. Es
wurde über wichtige Themen gesprochen wie die
Zerstörung der Umwelt und die Armut auf der
Welt. Gott war auf der Seite der Schwachen, lern-
ten wir, und endlich fühlte ich mich als Teil von
etwas Bedeutsamen. Der Pastor lobte mich, nahm
meine Ideen auf, war aufmerksam mir gegenüber.
Ich fühlte mich erwählt.
Umso schwerer die Rückkehr: Zurück zu mei-
ner psychisch labilen, unzuverlässigen Mutter, die
nach ihrer Beziehung mit einem gewalttätigen Al-
koholiker einen neuen Partner suchte. Ich fürchte-
te, mit der Konfirmandenfahrt wäre die schönste
Zeit meines Lebens vorbei.
Wie unendlich erleichtert war ich, als sich nach
der Konfirmation eine Jugendgruppe um den Pas-
tor bildete. Wir bewunderten ihn. Er war so an-
ders als die anderen Erwachsenen. Bald durften
wir ihn duzen – damals noch etwas Besonderes,
genau wie die Umarmungen zur Begrüßung und
zum Abschied. Er schlug Vertrauensspiele vor oder
dass wir uns gegenseitig massierten. Einmal waren
seine Hände dabei sehr hoch auf meinem Ober-
schenkel. Aber alle anderen waren ja im Raum.
Wenn ich von der Jugendgruppe nach Hause
kam, zählte ich schon die Tage bis zum nächsten
Treffen. Der Pastor war für mich Gott und Vater
und mein wichtigster Lehrer, alles in einer Person.
Während einer Gemeindefeier brachte er mich in
die Druckerei der Gemeinde, einen abgelegenen,
kleinen Raum. Er drückte mich eng an sich und
sagte: »Ich liebe dich.« Da war ich 14 oder 15.

Kurz danach konnte ich endlich als Betreuerin auf
Konfirmandenfahrten. Man wurde vom Pastor
ausgesucht. Wir schliefen alle im Leitungszimmer,
und vor dem Schlafengehen gab der Pastor uns
Mädchen Gute-Nacht-Küsse. Manchmal spürte
ich dabei die Innenseite seiner Lippen. Das schien
mir seltsam. Aber Hauptsache, er schenkte mir
Aufmerksamkeit.

Der Missbrauch wird deutlicher
Während einer anderen Fahrt schliefen wir alle auf
einem Matratzenlager. Als ich mich in der Dunkelheit
auf meine Matte legen wollte, war dort der Arm des
Pastors. Er zog mich an sich, streichelte und küsste
mich. Wie konnte er das tun? Er war verheiratet, sein
jüngster Sohn kaum älter als ich. Vor allem aber
dachte ich: Wenn er das mit mir tut, dann muss er
mich lieben. Endlich liebt mich jemand.
In den Monaten darauf entwickelte sich eine
Routine. Nach der Schule fuhr ich zu ihm ins
Pfarrhaus, während seine Frau arbeitete. Jede mög-
liche Minute sollte ich mit ihm verbringen.
Er schuf eine gespaltene Welt: das »Wir« gegen
die anderen. Ich wusste von Anfang an, dass ich
nicht darüber reden durfte, also log ich allen um
mich herum ins Gesicht. Er sprach schlecht über
meine Freundinnen, suggerierte mir, ich sei
schwierig, und nur er könne mir helfen. Je mehr
ich mich auf ihn einließ, desto mehr zerbrachen
meine Freundschaften.
Wenn ich den Mut zusammennahm, zu sagen,
dass ich mich trennen wollte, tat er einfach so, als ob
er mich nicht gehört hatte. Oder er warnte mich, wie
schnell unser Leben vorbei sein kann, und Gott
wolle, dass wir jeden Moment der Freude genießen.
Heute muss ich fast lachen, wie einfach es ist,
ein junges Mädchen zu manipulieren und emo-
tional zu erpressen. Seine Strategien wirken durch-
sichtig. Damals aber war er mein Ein und Alles.
Ich war zerrissen, weinte oft bitterlich, aber machte
alles, was er wollte.
Ich merkte, dass ich ihm entkommen musste.
Ich ging nach dem Abitur ins Ausland und ver-
suchte mehrfach, die »Beziehung« zu beenden.
Doch er reiste mir hinterher und gaukelte mir vor,
wir hätten eine gemeinsame Zukunft.
Natürlich glaubte ich ihm auch, dass er gerne
Kinder mit mir haben würde. Ich passte bei der
Verhütung nicht mehr gut auf. Mit 21 Jahren war
ich schwanger von dem verheirateten Pastor, der
mich getauft und konfirmiert hatte. Auf sein
Drängen hin hatte ich einen Abbruch – und
glaubte ihm weiterhin jedes Wort.
Erst als ich zum Studieren zurück nach
Deutschland zog, in einer Frauen-WG lebte, ver-
änderte sich mein Blick. Nach insgesamt sechs
Jahren gelang es mir endlich, mich von ihm zu
trennen. Ein wichtiger Schritt war dabei ein Tele-
fonat, in dem ich ihm mitteilte, dass ich nicht
wieder auf die Konfirmandenfahrt mitreisen wür-
de. Mit meiner Mitbewohnerin zusammen hatte
ich vorher Ermutigungen aufgeschrieben, um mir

klarzumachen, dass ich ihm gegenüber keinerlei
Verpflichtungen hatte.
Er spielte auf sämtlichen Tonleitern der Mani-
pulation. Für ihn sei das das Ende. Nichts mehr
habe Sinn. Heute weiß ich, dass er auf der Kon-
firmandenfahrt drei Wochen später sofort versuch-
te, sich einer anderen Begleiterin anzunähern, mit
ihr das Gleiche tun wollte wie mit mir. Dass es vor
und nach mir noch andere gab.

Danach
Immer wieder frage ich mich, wie dieser Miss-
brauch möglich war. Es ist leicht, die Schuld bei
mir zu suchen: Ich hätte mich besser wehren sol-
len, er wendete ja keine körperliche Gewalt an ...
Diese Stimmen sprechen manchmal noch in mir,
aber nachdem ich mich intensiv mit Täterstrate-
gien auseinandergesetzt habe, weiß ich es besser.
Täter suchen sich gezielt Opfer aus, die emo-
tional bedürftig und ungeschützt sind. Sie weichen
systematisch die Grenzen auf und verwickeln ihre
Opfer. Sie nutzen das Bedürfnis nach Bindung,
das wir alle in uns tragen. Wenn man dazu be-
denkt, welche Position ein Pastor innehat und wie
respektiert er gerade auf dem Dorf damals noch
war – der Täter hatte leichtes Spiel mit mir.

Aufarbeitung
Viele Jahre später: Ich war verheiratet, sicher in mei-
nem Job, den ich liebe – doch ging es mir nicht gut.
Ich war viel krank, die Beziehung zu meinem Mann
geriet in die Krise, und bei mir wurde eine schwere
posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert.
Zum Glück fand ich schnell eine gute Therapie. Ich
wurde stabiler, aber mir wurde auch immer klarer,
dass noch etwas fehlte: die Aufarbeitung des Miss-
brauchs in der Institution, die ihn erlaubt hatte.
Wenn es um Missbrauch in der Kirche geht, ent-
kommen Betroffene dieser Institution ja nicht. Ir-
gendwo ist immer Kirchentag, Taufe oder Konfir-
mation; irgendwo äußern sich immer Kirchen-
vertreter zu ethischen Fragen. Mit jeder kirchlichen
Beilage, die ungefragt dem Zeitungsabonnement
beiliegt, wird man darauf gestoßen, dass diese In-
stitution gerne weiterhin den Bürgern dieses Landes
sagen möchte, wie sie sich verhalten sollen. Umso
wichtiger ist eine ehrliche Aufarbeitung, Dokumen-
tation, Transparenz. Meine Internetsuche zum se-
xuellen Missbrauch in der evangelischen Kirche
brachte zunächst nur dieselben wenigen Artikel, bis
ich endlich bei meiner Landeskirche auf eine An-
sprechpartnerin für Betroffene stieß. Ich nahm
meinen Mut zusammen und schrieb ihr. So begann
mein Aufarbeitungsprozess mit der Kirche, der sich
bis heute schwierig gestaltet.
Immerhin, in meiner Landeskirche funktionierte
die erste Kontaktaufnahme gut. Als ich sie anschrieb,
antwortete die Gleichstellungsbeauftragte mir umge-
hend und traf sich mit mir an einem neutralen Ort,
im Notruf für vergewaltigte Frauen und Mädchen.
Eine Mitarbeiterin des Notrufs war bei unserem
ersten Gespräch dabei – etwas, das ich allen Betrof-
fenen empfehle. Kirchliche Mitarbeiterinnen sind
oft nicht für den Umgang mit traumatisierten Men-
schen ausgebildet, oder sie sind in einem Loyalitäts-
konflikt. Außerdem kann schon allein die evangelische
Rhetorik zu Flashbacks führen.
Das erste Gespräch war aufreibend, aber auch
ermutigend. Die kirchliche Mitarbeiterin versprach
mir, Einsicht in die Akten des Pastors zu nehmen. Sie
äußerte, dass dem Pastor liturgische Privilegien ent-
zogen worden wären, würde er noch leben. Sie plan-
te, mit mir gemeinsam für verbesserte Aufarbeitungs-
prozesse in der Landeskirche zu sorgen.
In den folgenden Monaten traf ich mich auch mit
der Pastorin, die zur Tatzeit in derselben Gemeinde
tätig gewesen war und mich gut kannte. Sie glaubte
mir sofort und erzählte, dass sie Mitte der Achtziger-
jahre, als der Pastor neu in die Gemeinde kam, gehört
hatte, er habe in seiner vorherigen Gemeinde »selt-
same Beziehungen zu jungen Frauen« unterhalten.
Auch bei uns in der Gemeinde gab es später massive
Gerüchte. Doch letztlich hatte das für den Täter
keine Konsequenzen gehabt.
Schließlich stellte ich einen Antrag an die Lan-
deskirche – ich brauchte Wochen, um ihn zu
schreiben. Ich erhielt 35.000 Euro. Diese Summe
scheint sehr hoch. Allerdings habe ich ausgerech-
net, welche Kosten mir durch den Missbrauch ent-

standen sind: Therapiekosten, verspäteter Einstieg
ins Berufsleben, jahrelang nur reduziert arbeiten.
Das deckt sie Summe dann doch nicht. Und es
empört mich, wenn andere Betroffene gar nichts
oder deutlich weniger erhalten.
Bis heute ärgert mich, dass der Pastor nie für seine
Straftaten an mir und anderen Mädchen verantwort-
lich gemacht wurde. Ich bin überzeugt, dass man mit
einem anderen Bewusstsein für Missbrauch viel
früher hätte einschreiten können. Um ihn in Zukunft
zu verhindern, muss man also genau dokumentieren,
wie er in der Vergangenheit stattfand, was ihn begüns-
tigte – und wo die Institution versagt hat.
An dieser Stelle wurde meine Interaktion mit
der Kirche schwieriger, so als fiele es den Zuständi-
gen schwer, zu verstehen, was ich nach der Aus-
zahlung der Summe noch wollte. Im Gegensatz zu
ihren ursprünglichen Aussagen unterstützte mich
die Gleichstellungsbeauftragte nur sehr widerwil-
lig in der Aufarbeitung. Doch einfach mit der
Tatsache leben, dass in meiner Kirchengemeinde
Verbrechen gegen Schutzbefohlene passiert waren?
Das erschien mir unerträglich.
Also wurde ich selber aktiv: Ich schickte systema-
tisch E-Mails an alle Pastorinnen und Pastoren, die
mit dem Täter zusammengearbeitet haben. Ich
schrieb der Gemeinde, in der er zuletzt tätig war,
ebenso wie der, in welcher der Missbrauch stattgefun-
den hatte. Manche Reaktionen waren authentisch
und empathisch, die Verfasserinnen wollten mehr
wissen, trafen sich auch mit mir. Ein Nachruf, in dem
der Pastor für sein Engagement für Jugendliche gelobt
wurde, wurde aus dem Internet entfernt. Einige
Pastorinnen informierten den Superintendenten des
Kirchenkreises, der das Thema sehr ernst nahm.
Enttäuscht hat mich jedoch, dass all dies nur
durch mich angestoßen wurde. Die Kirche hätte mir
einfach die Summe ausgezahlt und fertig. Was ist mit
den Betroffenen, die nicht so hartnäckig sind wie ich,
die vielleicht keinen hohen Bildungsstand haben, für
die es noch schwieriger ist, Mails an die Kirche zu
schreiben? Über Jahre hatte ich den Eindruck, mir
würden nur Versprechen gemacht. Erst seit dem
Sommer 2018, nachdem ich mit anderen Betroffenen
auf dem Hearing der Unabhängigen Aufarbeitungs-
kommission in Berlin berichtet habe, scheint sich
einiges zu verbessern. In diesem Jahr wurde ich mit
einigen anderen Betroffenen zur Beratung von der
EKD hinzugezogen, um deren 11-Punkte-Plan zur
Missbrauchsaufarbeitung umzusetzen.
Das gestaltet sich oft schwierig. Ich bleibe skep-
tisch, aber zur Kooperation bereit.

Versöhnung mit alten Freundinnen
Ein wichtiger Schritt war auch, dass ich mit mei-
nen Freundinnen von damals redete – 25 Jahre da-
nach. So erfuhr ich, dass sie von Anfang an alles
geahnt hatten und dass sie versuchten, mit ihren
Mitteln zu helfen. Ich erfuhr von weiteren Betrof-
fenen und konnte mich vernetzen. Vor allem aber
sind die alten Freundschaften wieder aufgelebt –
damit hätte ich nie gerechnet.

Private Dokumente eines Verbrechens: Unsere Autorin zeigte uns Tagebücher, Briefe, ein Ultraschallbild. Einige Zeilen, die sie nicht veröffentlicht sehen will, wurden von unserer Bildredaktion nachträglich geschwärzt

Fotos [M]: Florian Thoss für DIE ZEIT


»Ich wusste, dass ich nicht darüber reden durfte«


Als Mädchen wird sie von ihrem Pastor missbraucht. Heute berät die Frau die evangelische Kirche bei der Aufarbeitung. Hier erzählt sie ihre Geschichte VON KATARINA SÖRENSEN


Sie wurde ab Anfang der 1990er-
Jahre Opfer sexueller Gewalt. 2015
meldete sie ihren Fall erstmals der
evangelischen Kirche. Über die
Folgen sprach sie 2018 in Berlin, vor
der Unabhängigen Kommission
zur Aufarbeitung sexuellen
Kindesmissbrauchs. Seit einem Jahr
berät sie die EKD im Aufklärungs-
prozess, leitete bei deren Synode
Anfang dieser Woche in Dresden
einen Workshop. Der Name der
Autorin wurde hier zum Schutz
ihrer Privatsphäre geändert.
Er ist der Redaktion bekannt.

Die Autorin



  1. NOVEMBER 2019 DIE ZEIT No 47 GLAUBEN & ZWEIFELN 66

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