Die Zeit - 14.07.2019

(Jacob Rumans) #1

ENTDECKEN


Victoria Jung porträtiert hier Menschen, die ihr im Alltag begegnen. Protokoll: Cosima Schmitt

Schon mein Opa hat Hannover
vom Abfall gereinigt. Er fuhr
Müllautos, die mir als Kind riesig
vorkamen. Ich durfte ihn öfter
begleiten. Dafür stand ich gern
auch um vier auf. Vom Müllauto
aus überblickte ich alles. Ich sah,
wie die Stadt erwachte, erst war
alles dunkel und leer, dann nach
und nach voller Leben. Besonders
mochte ich die Deponie: ein
kunterbunter Berg, und drüber
kreisten die Möwen. Das vergaß
ich nicht, auch wenn ich erst mal
Friseurin und Kosmetikerin
geworden bin. Mit Mitte 30
wollte ich dann endlich in die
Abfallwirtschaft. Ich musste
mich oft bewerben, bis ich zeigen
konnte, dass ich bereit bin, mir
die Fingernägel schmutzig
zu machen. Als ich anfing, als
Straßenreinigerin zu arbeiten,
merkte ich jeden Muskel: Es war
Januar, ich musste ständig Schnee
schieben. Jetzt liebe ich den Beruf,
gerade im Herbst, da darf ich mit
dem Laubbläser arbeiten. Ich mag
den Vorher-nachher-Effekt: Ich
komme zu einer Stelle und denke,
wie sieht es denn hier aus. Dann
puste ich das Laub runter, und
auf einmal ist da wieder die Wiese
zu sehen, grün und schön.


Ramona Schaper, 44,
ist Straßenreinigerin und
lebt in Hannover


WER


S I N D


SIE


?


Der Höhepunkt der Selfiekultur ist erreicht: Das Emoji vom eigenen Gesicht


Hier entdecken jede Woche im Wechsel: Francesco Giammarco, Alard von Kittlitz, Nina Pauer und Britta Stuff

S


ollten Sie noch keins emp-
fangen haben, seien Sie hier-
mit gewarnt. Ein Gespenst
geht um in den Smart-
phones – und es wird auch
zu Ihnen kommen. Vermutlich ge-
nau dann, wenn Sie es am wenigsten
erwarten. Harmlos wird eine Nach-
richt aufpoppen, die ihren Schrecken
allerdings umso heftiger entfaltet,
wenn man sie öffnet: Ein giganti-
sches Gesicht mit riesigen Augen er-
scheint dann, das unheimliche Gri-
massen schneidet, eine Art Grüffelo
mit menschlichen Zügen. Wer hoff-
te, mit der Selbstverfratzung sei für
dieses Jahr Schluss, weil Halloween
wieder einmal überstanden ist, irrt
jedenfalls gewaltig.
Denn jetzt gibt es Memojis, Emo-
jis also, die man von sich selbst an-
fertigt. Eine neue Funktion auf Tele-
fonen der Firma Apple, es geht ganz
einfach: Man kombiniert Frisur, Au-
genbrauenform und Stupsnase, bis
die Montage ans eigene Antlitz erin-
nert, und verschickt sich dann mun-
ter selbst, grinsend, weinend, mit
Herzen vor den Augen oder einem
sich auflösenden Gehirn.

Gibt es nicht wirklich schon genug
Smileys?, fragt man sich zunächst.
Wenn man ehrlich ist, leben wir doch
schon seit einiger Zeit in einer wahren
Lachgesicht- und Herzchendiktatur.
Wer meint, das sei übertrieben, braucht
nur seinen Nachrichtenspeicher zu
öffnen. Dort findet man kaum einen
Dialog, der nicht im Emojigewitter
endet, sei es eine Verabredung zum
Mittagessen oder die Bitte an den Part-
ner, fürs Abendessen Brötchen mitzu-
bringen. Einer schickt immer ein Herz-
chen, auf das der andere natürlich
reagieren muss, alles andere wäre belei-
digend, etwa wie das Wegdrehen von
einem Kuss. Also: Herzchen zurück,
zusammen mit einem Daumen hoch,
worauf wiederum ein Einhorn folgt,
worauf man wiederum die lachende
Katze schickt und so weiter und so fort.
Besonders digitale Immigranten,
Menschen also, die nicht schon im-
mer im Internet abhingen und ma-
nisch über jede flache Fläche wi-
schen, kannten zuletzt kein Halten
mehr. Mehrzeilige Herzchenparaden
schmückten die SMS von Tanten
und Großeltern, ein Überschwang
an Gefühl, der auf Dauer nicht gut

gehen kann. Denn wer täglich mit
Smileys zugeschüttet wird, dem ist
nicht mehr nach Lachen zumute,
sondern nur noch nach einer Pause.
So gesehen, ist das Memoji eine ge-
radezu dankenswerte Intervention. So
doof es aussehen mag: Es ist immerhin
persönlicher, man erschrickt und lacht
ja gerade, weil man den Freund, Kolle-
gen oder Ehepartner tatsächlich er-
kennt. Das eigene Gesicht ist eben kein
tausendfach verschicktes, abgelutschtes
Einhorn. Nicht nur weil es größer ist,
ersetzt so ein Memoji locker alle her-
kömmlichen Smileys zusammen.
Und gleichzeitig ist noch Luft
nach oben. Wirklich authentisch wä-
ren Memojis schließlich erst, wenn
das Gesicht so aussehen würde, wie
es im betreffenden Moment wirklich
aussieht: mit Augenringen, Schnupf-
nase und Sturmfrisur. Per ausgefeilter
Technik wäre es sicher möglich, auch
Ticks wiederzugeben. Nervöses Am-
Ohr-Zippeln, hektisches Am-Bleistift-
Nagen oder An-den-Fingernägeln-
Kauen, sogar Fingerknochenknacken
wäre denkbar.
Aber dann kann man die Leute auch
gleich in der echten Welt treffen.

NINA PAUER ENTDECKT

Illustration: Oriana Fenwick für DIE ZEIT


  1. NOVEMBER 2019 DIE ZEIT No 47


Das Smiley-Ich


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Fotos: Nicole Müller für DIE ZEIT (großes Bild), Anatolij Pickmann (Marion Dönhoff), Deutsches Historisches Museum

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