Die Zeit - 14.07.2019

(Jacob Rumans) #1

REISE


G


leich an meinem ersten Tag
in Papua-Neuguinea sehe
ich mir an, was passiert,
wenn jemand seinen letzten
Tag in Papua-Neuguinea
hinter sich hat. Eine Beerdi-
gung als Begrüßung, das
könnte man morbide finden. Mich deprimiert
das nicht, denn um unerschrocken fremden
Kulturen und selbst ihren düstersten Riten zu
begegnen, bin ich hergereist.
Bei Südseeinseln kann einem ja vieles in den
Sinn kommen. Palmen im Südostpassatwind etwa,
unter denen schöne, fröhliche Menschen nach
dem Schwimmen in der Lagune fruchtige Drinks
schlürfen. Für mich klingt Südsee aber immer auch
nach etwas Dunklem, Hitzewahnverschwomme-
nem. Das schlich sich mir schon ins Gemüt, als
ich früher Geschichten von Jack London las, die
von der Salomonensee am südöstlichsten Zipfel
Papua-Neuguineas erzählten: das Klima, die wil-
den Eingeborenen und dazu noch etwas anderes,
schwebend Bedrohliches. Die Geschichten gingen
für die Weißen fast nie gut aus.
Eine Ahnung von diesem Fremden will ich
suchen, bevor es vielleicht ganz aus der Welt ver-
schwindet. Also reise ich nach Papua-Neuguinea,
weil es die größte Insel der Südsee ist, weil es dort
so viele Völker gibt, die erst seit weniger als hun-
dert Jahren Kontakt zur modernen Welt haben,
und weil ich hier auch ohne monatelangen Marsch
durch die Wildnis zu ihnen gelangen kann. So
werde ich mir ein bisschen vorkommen wie ein
Forschungsreisender vor hundert Jahren, muss
aber nicht so enden wie viele von ihnen.
Meine Reise beginnt in Mount Hagen, dem
Hauptort der Provinz Western Highlands, etwa
in der Mitte des Landes. Ich fliege von der Haupt-
stadt Port Moresby dorthin. Fliegen ist übrigens
kein Luxus, denn es gibt keine Straßen, die quer
durchs Land führen. Von so weit oben gesehen,
liegt da unten eine tiefgrüne Wachstischdecke, die
Falten aufwirft, wo sich schroffe Berge türmen.
Der nagelneue Flughafen Mount Hagens ist
nahe der Stadt, und die ist nicht neu, ihre Aus-
strahlung lässt sich mit »zweckdienlich« be-
schreiben. Auf dem Weg zur Lodge werde ich
mit anderen Gästen hindurchgefahren. Wir se-
hen schmucklose Betonbauten, bunt bemalte
Betonbauten, Supermärkte, Gästehäuser hinter
Wellblechzäunen, ein Sarg-Geschäft mit gut be-
stücktem Außenlager, Maggi-Werbung und
Massen von Menschen. Sie stehen und schauen,
sie flanieren, sie verkaufen T-Shirts, Umhänge-
beutel, Limonadedosen, sie spucken rote Betel-
nuss-Kau-Rotze aus. Fast jeder trägt eine Ma-
chete mit sich, ohne Scheide, blank in der
Hand, immer gebrauchsbereit, zu was auch
immer. Viele winken, beeindruckender sind
aber die Männer, die nicht winken, nicht lä-
cheln, sondern nur reglos starren.

Die Lodge liegt auf einem Gipfel über der
Stadt. Morgens beim ersten Kaffee auf der Ter-
rasse füllt Nebel das große Wahgi-Tal, in dem
Mount Hagen liegt, wie frisch geschlagene Sah-
ne in einer Schüssel. Auf der anderen Talseite
schälen sich die Drei- und Viertausender aus
dem letzten Nachtdunkel und leuchten in der
aufsteigenden Sonne kurz auf. Die Wärme ver-
treibt den Nebel rasch, aber weil selbst die Stadt
unten schon auf 1700 Meter Höhe liegt, wird
es nicht unangenehm heiß.
In einer kleinen Gruppe mache ich einen Aus-
flug. Unser erster Stopp wird die Beerdigung. Es
sind aber keine Leichname involviert: Eine Fami-
lie zeigt korpuslos für Touristen, wie sie um An-
gehörige trauern würde. Wir werden in den Hain
geführt. Ein Teil der Familie hat die Alltagsklei-
dung, Shorts und T-Shirts, gegen Lendenschurze
und Gürtel aus Baumrinde eingetauscht, in denen
hinternverdeckende Grasbüschel stecken, die uns
auch offiziell als arsegrass, Arschgras also, vorgestellt
werden. Der andere Teil schaut mit zu.
Das könnte mein erster von vielen Forschungs-
reisenden-Momenten werden, ganz nah dran an
den Eingeborenen, den Blick auf ihre Bräuche
gerichtet, und dann würden wir Kumpel, sogar
über die Sprachbarriere hinweg. Der Chef der Auf-
führung, der Vater der Familie, sieht großartig aus,
ein fettfreier, durchtrainierter Kraftbolzen, ganz
ohne Fitnessstudio und Proteinshakes, allein mit
Feldarbeit und Jagd und felsenharter Souveränität.
25 Jahre ist er alt, und wenn ich in diesem Alter
schon so mühelos so viel Alpha-Aura ausgestrahlt
hätte wie dieser Simon, ach, was hätte alles aus mir
werden können. Simon und seine Leute raufen
sich die Haare, sie schluchzen und ziehen traurige
Kreise in schleppendem Schritt.
Den Frauen in Simons Gefolge war offenbar
ursprünglich zugedacht, ebenfalls mit freiem
Oberkörper mitzumachen. Damit scheinen sie
sich aber mehrheitlich nicht wohlzufühlen. Die
meisten verschränken ihre Arme als Sichtschutz
vor der blanken Brust. Die Hübscheste aus Si-
mons Clan aber ist der Tradition treu geblieben.
Sie hat einen hinreißenden spöttischen Zug um
den Mund, und ich mag ihren Busen leiden.
Also frage ich mich: Bin ich ein neokolonialer
Drecksack, weil die eingeborene Frau vor mir
tanzt und ich ihr dabei auf die Brüste schaue?
Auch habe ich eine Geschäftsidee: Wenn die
Frauen sich genieren, müssen die alten Bräuche
eben der Moderne angepasst werden. Ich könnte
BHs fertigen lassen und verkaufen, und ich
würde ein reicher Feminist. In jedem Dorf gibt
es solche Tanzgruppen, der Bedarf wäre im-
mens. (Es wird sich im weiteren Verlauf der
Reise leider herausstellen, dass man auch hier
nicht auf mich gewartet hat. In den nächsten
Dörfern werden die Damen Lingerie aus ge-
flochtenen Blättern, aus grob gewebten Stoffen
und aus Arschgrasbüscheln tragen.)

Ich bin aber eh durch mit dem Thema. Ich
merke nämlich leider, dass auch das Sinnieren
über Brüste mir nicht hilft: Ich fühle mich nicht
wohl in Simons Garten. Eine Trauerfeier, auf-
geführt als Besucherstück – das lässt mich kalt.
Zum Glück wird hier aber noch mehr ge-
boten. Drei Tage lang bleibe ich in dieser Ge-
gend, wohne in der Lodge über Mount Hagen
und lasse mich mit anderen Gästen im Kleinbus
herumfahren. Immer wieder halten wir für
Vorführungen. Wir sehen Schlamm-Männer
im Dorf Poglo mit albtraumhaften Lehmmas-
ken, Knochenmänner aus der Nachbarprovinz
Chimbu und Geistermänner in Tokua, es wird
getanzt und geschrien und mit Pfeil und Bogen
gefuchtelt, und die Männer sind grandios an-
zusehen mit ihrer bunten Körperbemalung und
dem üppigen Kopfschmuck aus Paradiesvogel-
federn und mit ihrer Durchtrainiertheit.
Im Männerbild dieser Welt scheint es immerzu
um Krieg zu gehen. Das kommt mir seltsam vor:
Überall diese freundlich winkenden Menschen,
dazu dieses fruchtbare Land, in dem sie mehrmals
im Jahr mehr Gemüse- und Obstarten ernten, als
ich mir merken kann, und rings um die Häuser
überall Blumenbeete. Unser Guide Michael ver-

sucht zu erklären, warum es hier trotzdem oft nur
friedlich aussieht: Viele verschiedene Stämme mit
eigenen Sprachen, die Stämme teilen sich in Clans,
die in Unterclans, die in Familien, und vom Klei-
nen ins Große sortieren sie auch heute noch ihre
Loyalität. Und wenn die Jungen in Streit geraten,
über Land, über Frauen, aus Langeweile, dann
greift das ruckzuck um sich, und 20, 50, 100 Män-
ner gehen auf einem Feld aufeinander los, mit
Speeren, Pfeil und Bogen, Macheten und selbst
gebauten Gewehren. Die Stammesältesten versu-
chen dann zu schlichten und zu verhandeln, wer
wem wie viele Schweine als Kompensation geben
muss, und in dem Augenblick interessiert nieman-
den, dass es hier eigentlich auch moderne staatliche
Strukturen wie Polizei und Gerichtswesen gibt.
Eigentlich müsste ich das alles charmant fin-
den. Ich bin ja angereist, um mich auch von den
düsteren Riten fremder Kulturen faszinieren zu
lassen. Und erzählte mir ein Sioux, er reite morgen
gegen die Pawnee, gern wäre ich dabei. Doch
diese Clan-Clashes im Hochland, sie irritieren
mich eher. Ist diese Art Krieg nun, anders als die
Fake-Beerdigung, zu echt für mich?
Damit wir die archaische Kraft in diesem Land
besser verstehen, sehen wir in der Lobby des Hotels
eine Fernseh-Dokumentation aus den Achtzigern
an. Sie erzählt von der ersten Begegnung der Men-
schen in diesem Tal mit Weißen. Lange hielt man
das Hochland für quasi unbewohnt. Erst 1934
landeten drei australische Brüder dort, wo heute
die Stadt Mount Hagen liegt, um in den Bergen
nach Rohstoffen zu suchen. Wir erfahren von
einem Stammesältesten, der erschossen wurde, weil
er den Australiern mit seinem Speer-Willkommens-
tanz auf die Nerven ging; von Gold, mit dem allein
die Brüder reich wurden; von Mädchen und
Frauen, die gegen Muscheln eingetauscht wurden,
um mit den Australiern das Lager zu teilen: Wir
sind selbstredend empört. Unsere Guides, die mit
uns schauen, müssten sich noch viel mehr aufregen.
An den entscheidenden Stellen aber amüsieren sie
sich: »Ist das nicht die Cousine von Tante Sowieso?«
Und die Frauen, die im Film von damals erzählen,
wirken dabei ganz unbeschwert. Augenscheinlich
gibt es in diesem Land Sachen, die man bestenfalls
bemerken, aber nicht nachempfinden kann.
Aus dem Hochland reise ich an den Fluss. In
meiner Vorstellung ist das nördliche Dschungel-
Tiefland das ideale Terrain für meine Fantasien als
Forschungsreisender, heiß und feucht und schat-
tendüster. Von der Lodge auf einem Hügel blicke
ich hinunter auf den sediment-trüben Lauf des
Karawari, einen Nebenarm des Sepik, der sich
seinen Weg durch den Dschungel bahnt.
Die Ausflüge machen wir in einem flachen
Motorboot. Der Wald wuchert bis ans Ufer. Ab
und zu ein Kanu, aus dem heraus jemand angelt.
Ich rechne mit Geiern und Schwärmen von Papa-
geien, sehe aber nur Fischadler und Reiher. Ab und
zu lichtet sich die Baumwand. Häuser sind zu er-

kennen, auf Pfählen gebaut, überhängende Dächer
als Regenschutz, luftig die Seitenwände. Unser
Skipper geht vom Gas. Die Wellen, die unser Boot
ans Ufer wirft, könnten sonst die dort vertäuten
Boote leckschlagen. Unser Führer Paul lacht schal-
lend, als er uns das erklärt. Ich könnte grübeln, was
daran so lustig ist, aber das habe ich aufgegeben.
Ich wollte eine Reise an einen von meinem Leben
aus sehr fernen Punkt der Welt machen. Hier je-
doch, merke ich, ist das Fremde noch so fremd,
dass ich nicht mal an einem Punkt andocken kann.
Manchmal gehen wir in Dörfern an Land.
Wir sehen Ahnenhäuser, Geisterhäuser, Män-
nerhäuser. In Kundiman zeigt man uns, wie aus
dem Mark der Sagopalme Mehl und daraus mit
Wasser Pfannkuchen gemacht werden. Das ist
nicht superspektakulär, das ist das normale Le-
ben der Menschen hier. Zu dem gehört auch
das Krokodil, das sie jagen und essen wie unser-
einer sich schnell eine Packung Spaghetti aus
dem Supermarkt kocht. Wir begegnen Einbäu-
men, deren Bug als Krokodilschädel geschnitzt
ist. Männer kramen Beutel hervor, in denen sie
die Zähne besonders großer Beutetiere sam-
meln. Bei verschiedenen Gelegenheiten werden
uns unterschiedliche Männer als allerbeste Kro-
kodiljäger der ganzen Region vorgestellt.
An einem Abend verkündet Paul, unser Über-
setzer, dass wir in dieser Nacht auf Krokodiljagd
gehen werden. Und so fahren wir nach Einbruch
der Dunkelheit in einem Einbaum auf den Kara-
wari hinaus. Der zieht tiefschwarz dahin, so boden-
los schwarz wie der dichte Wald an seinen Ufern.
Vom Hauptlauf biegen wir in einen Seitenarm.
Gleiten an Manjamai vorbei. Am Ende des Dorfes
steht ein Mann auf einem anderen, vertäuten Boot.
Er springt zu uns herüber mit einem Bündel Speere
in der Hand. Es ist unser Jäger. Wir fahren tiefer
hinein ins Flusssystem. Irgendwann schaltet der
Mann am Motor in den Leerlauf. Wir treiben lang-
sam die Ufer entlang. Der Jäger steht im Bug und
leuchtet mit einer Lampe besonders dorthin, wo
Wurzeln von oben überhängen.
Ich kann mir vorstellen, was gleich passiert.
Ein Speer wird das Tier treffen, und die Riesen-
bestie wird sich winden, mit dem Schwanz
schlagen und sich gegen den Tod aufbäumen.
Vielleicht wird das Boot umgeworfen, und es
gibt ein Riesendurcheinander aus berstendem
Holz und Wasser und Körperteilen und meiner
Kameratasche.
Die ersten fünf, sechs Speerwürfe gehen schief.
Dann endlich trifft der Jäger. Dafür, dass da ein
Vieh von bestimmt fünf, sechs, sieben Meter Län-
ge an seiner Waffe hängt, ist es erstaunlich ruhig.
Wir halten mit Taschenlampen darauf. Das
Raubtier ist unverletzt aufgegabelt und quäkt sehr
niedlich. Es ist locker, sagen wir 40 Zentimeter
lang, sodass wir lachen müssen und ihm die Frei-
heit schenken. Dieses Lachen, das gemeinsame,
ist ohnehin eine viel hübschere Beute.

Viel Feind, viel Speer


In Papua-Neuguinea entdeckt BJØRN ERIK SASS ein kriegerisches Männerbild und wird beinahe zum Feministen



  1. NOVEMBER 2019 DIE ZEIT No 47


Rundreisen
Der Anbieter Trans Nuigini Tours besitzt
Lodges in vielen Regionen und organisiert
auch individualisierte Rundreisen.
pngtours.com

Festivals
Zu den »Sing-Sing«-Kulturfestivals
reisen Clans und Stämme auch aus
entlegenen Gegenden an – etwa im Juli in
Rabaul, im August in Mount Hagen und
am Sepik und im September in Goroka.
papuanewguinea.travel

Souvenirs
Im Hochland wächst leckerer Kaffee,
der muss mit nach Hause; genau wie
Kakao. Und keiner geht hier ohne Bilum
auf die Straße: eine zumeist quer über den
Oberkörper getragene gehäkelte bunte
Tasche, die es auf Märkten zu kaufen gibt

PAPUA-NEUGUINEA


Buntes Land:
Ein Teilnehmer
des »Sing-Sing«-
Festivals in Mount
Hagen und ein
Sichelschwanz-
Paradiesvogel

Foto: Nature Picture Library/Mauritius

PAPUA
NEUGUINEA
Port
Moresby

AUSTRALIEN

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