Die Zeit - 14.07.2019

(Jacob Rumans) #1

REISE


Fe st gek r a l lt


am Elefanten


Im Wald von Fontainebleau nahe Paris kann man herrlich


herumhängen – nicht nur beim Bouldern VON ALEXANDRA EUL


L


eicht verzweifelt hänge ich am
oberen Ende eines drei, viel-
leicht vier Meter hohen Fels-
blocks. Meine Fingerkuppen
krallen sich an eine kaum aus-
zumachende Leiste im Stein,
meine rechte Fußspitze passt
gerade so in die unscheinbare Wölbung un-
terhalb meines linken Knies. »Du hast es fast
geschafft!«, höre ich meine Freunde von un-
ten rufen. »Jetzt einfach noch das Bein
durchdrücken und nach oben greifen.« –
»Oder mach den Wal, mach den Wal!«
Den Wal, den macht man in dieser Ge-
gend eigentlich nicht. Wir befinden uns
immerhin in Fontainebleau, dem bekann-
testen Boulder-Gebiet der Welt. In den
Wäldern rings um das gleichnamige Städt-
chen trainierten französische Alpinisten um
1900 für ihre Expeditionen und erfanden
so nebenbei das Bouldern, Klettern ohne
Seil in moderater Höhe. Ein Sport, bei dem
es nicht nur um Kraft geht. Sondern auch
um Balance, Geduld und eine gewisse Fan-
tasie, in welche Pose man seinen Körper
bringen könnte, um ein Problem, wie eine
Route fachmännisch heißt, zu lösen. Und
wer zumindest halbwegs bouldern kann,
der robbt in Fontainebleau nicht ungelenk
wie ein strandender Wal auf einen Fels-
block; sondern steigt elegant und auf bei-
den Füßen nach oben aus.
Mein erster Bleau-Besuch ist inzwi-
schen vier Jahre her. Seitdem ist das Pariser
Naherholungsgebiet für mich das, was für
andere der Wörthersee oder Sylt sind. Ich
fahre jedes Jahr wieder hin, auch wenn ich
nicht die ehrgeizigste Sportlerin bin. Eine
Reise, die zu nächtlicher Stunde auf einem
grauen Kölner Parkplatz beginnt; an Paris
vorbeiführt, bevor sich dort der morgend-
liche Berufsverkehr staut; bis wir schließ-
lich rund eine Stunde später eine ländliche
Gegend mit Blick auf endlose Getreide-
felder erreichen.
Wir passieren Dörfer und Städtchen,
meist Jahrhunderte alt, verwinkelte Stra-
ßen, mittelalterliche Kirchtürme und
Landhäuser aus sandfarbenem Stein mit
blumenübersäten Vorgärten. Nur ein paar
Autominuten entfernt von diesen Dörfern
beginnt der enorme Wald, der Bleau so
populär gemacht hat – bei Boulderern,
aber auch als Ausflugsziel für Wanderer
und andere Nichtkletterer. Genau genom-
men sind es zwei Wälder: der Forêt de
Fontainebleau und Les Trois Pignons – zu-
sammen rund 25.000 Hektar mit Tausen-
den verstreuten, drei, vier oder fünf Meter
hohen Felsblöcken, die die Bleau-Pioniere
in Gebiete, Parcours, Routen und Schwie-
rigkeitsgrade eingeteilt haben.
Damit sind wir zurück am Fels. Mich
überkommt plötzlich ein Anflug von Hö-
henangst. Deswegen greife ich nicht einfach
noch höher und mache auch nicht den Wal,
sondern lasse mich lieber auf die dicke, gelbe
Matratze fallen, die ich eben noch wie einen
zu groß geratenen Rucksack in den Wald
geschleppt habe. Dieses Crashpad bedeckt
die Wurzeln und Steine am Boden, die mir
einen weniger angenehmen Aufprall be-
scheren würden.
Fallen, Aufstehen und Weitermachen,
das gehört bei einem Bouldertrip ohnehin
dazu. Es gibt zwar auch Cracks, die Tausende
Kilometer anreisen, um einen der berühmte-
ren Bleau-Boulder perfekt durchzusteigen.
Etwa eine enorme Welle aus Stein, auf die
man nur gelangen kann, wenn man teilweise
fast in der Horizontalen klettert. Aber die ei-
gentliche Magie eines Bleau-Besuchs liegt
jenseits von Leistung und überbordendem
Ehrgeiz. Jeder, der buchstäblich loslassen
möchte, ist hier genau richtig. Das Freiheits-
gefühl stellt sich schon ein, sobald man ein-
fach nur hineinmarschiert in den märchen-
haften Wald aus alten Eichen, duftenden
Kiefern und farnüberwucherten Lichtungen;
durch ein Meer aus Sandsteinblöcken, die
wie träge, schlafende Drachen im Schatten

der Bäume ruhen. Tatsächlich sind be-
stimmte Felsen nach dem Tier benannt,
das einst jemand in ihnen entdeckt haben
will, »Éléphant« zum Beispiel. Oder das
Wahrzeichen der Gegend, ein Boulder, der
seiner Form wegen den Spitznamen »Hun-
dekopf« hat.
Direkt hinter dem Hundekopf beginnt
eines der beliebtesten Boulder-Gebiete, das
passenderweise »Le Cul de Chien« heißt, der
Hintern vom Hund: Diese Felsen thronen
auf einer weitläufigen Ebene aus feinem,
weißem Sand. Ein Strand mitten im Wald,
auch wenn das schwer vorstellbar ist. Hier,
wo zu Urzeiten noch das Meer das Pariser
Becken flutete und eine einzigartige Land-
schaft aus Sand und Stein zurückließ, schla-
gen heute Ausflügler ihr Volleyballnetz auf,
kreuzen Reiter die Pfade, spazieren Wande-
rer immer tiefer in die Wälder hinein.
Wer nämlich kein Bedürfnis hat, sich an
fabelwesenartige Felsen zu krallen, kann in
Fontainebleau auch auf andere Weise Spaß
haben. Etwa auf den berühmten Denecourt-
Wegen – blau gekennzeichnete Wanderpfa-
de, die sich durch Schluchten und über
Hügel ziehen. Oder im Dorf Barbizon, in
dem Landschaftsmaler wie Théodore Rous-
seau und Jean-François Millet im 19. Jahr-
hundert eine Künstlerkolonie von Weltruf
schufen, die »Schule von Barbizon«. Sie ver-
ewigten den dämmrigen Zauberwald und
das emsige Landleben auf ihren Bildern.
Einige hängen immer noch in dem rustika-
len Gasthof, in dem die Maler damals ab-
stiegen – heute ein Museum.
Ich selbst fasse bei jedem Bleau-Besuch
den Plan, im Städtchen Fontainebleau end-
lich das Renaissance-Schloss mit 1500 gold-
verzierten Zimmern zu besuchen. Dieses
Vorhaben werfe ich aber jedes Mal wieder
über den Haufen. Stattdessen fahre ich mit
meiner Boulder-Truppe lieber einmal mehr
zu den Felsen. Auf dem Weg von unserem
Campingplatz machen wir halt in Milly-la-
Forêt, um die kleine Boulangerie Au Four au
Moulin aufzusuchen, nur ein paar Meter
entfernt von der alten, hölzernen Markthalle
im Zentrum. Dort gibt es ein riesiges Sorti-
ment reich verzierter Törtchen. Ich kaufe
trotzdem jedes Mal das Gleiche, nämlich
Schoko-Eclairs und frisches Baguette. Im
Supermarkt nebenan gibt es außerdem Käse
und Obst für ein ausgedehntes Picknick.
Im Wald angekommen, bouldern wir
vier, fünf Routen und hocken uns dann auf
unsere Crashpads in die Sonne. Zeit zu es-
sen – und zu staunen. Über die unterschied-
lichen Szenen, die sich an den Felsen so ab-
spielen: Links der besorgte Papa, der seiner
übermütigen Tochter eilig hinterherklettert.
Rechts die Hippie-Clique aus Spanien, de-
ren Mitglieder mühelos wie Geckos die
Boulder erklimmen. Gemütlich kreuzt ein
Paar auf Wanderschaft das Felsenmeer, ge-
folgt von einem drahtigen, gebräunten
Franzosen, 60, vielleicht auch 70 Jahre alt:
Der platziert unterhalb des jeweiligen Boul-
ders lediglich eine Fußmatte, die im Ver-
gleich zu den dicken Crashpads recht spär-
lich wirkt. Sie soll auch gar keine Stürze
abfangen; er streift daran nur Dreck und
Sand von den Sohlen seiner Kletterschuhe
ab, um den Felsen nicht glatt zu schleifen.
Bleausards heißen die Kletterer, die schon
ihr ganzes Leben lang nach Bleau kommen.
Man erkennt sie an der besagten Matte –
und daran, dass sie auch die schwersten
Boulder mit der Leichtigkeit eines Spazier-
gangs meistern.
Nachdem wir so eine Weile im Wald
herumgehangen haben, bouldern wir noch
ein bisschen weiter. Und irgendwann stellt
er sich dabei dann ein – der Bleau-Effekt:
Plötzlich kriecht dieses völlig vergessene
Gefühl hervor, wie es ist, den ganzen Tag
draußen zu sein; verdreckt und verschwitzt
auf einem großen Spielplatz herumzutur-
nen – nichts anderes im Kopf als Problem
34, die nächste Route im ausgewählten
Boulder-Parcours.

Tausende Felsblöcke liegen im märchenhaften Wald von Fontainebleau verstreut,
einige von ihnen tragen Tiernamen. Französische Alpinisten übten hier schon um 1900 klettern

Foto: Nicolas Altmaier

Übernachten
Entweder eine Ferienwohnung in
einem hübschen Landhaus mieten
(gites-de-france.com/fr). Oder auf
einem der vielen Campingplätze zelten –
beliebt ist zum Beispiel »Camping
les Prés« (camping-pres.com)

Für Nicht-Boulderer
Sehenswert in Fontainebleau ist etwa
das Schloss (chateaudefontainebleau.fr).
Auch schön: Im Dorf Barbizon kann
man einer ehemaligen Künstlerkolonie
nachspüren (fontainebleau-tourisme.
com/de/barbizon-das-malerdorf )

FONTAINEBLEAU



  1. NOVEMBER 2019 DIE ZEIT No 47 73


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