Die Zeit - 14.07.2019

(Jacob Rumans) #1

Seit Ernährung die neue Religion ist, möchte man etwas auf gar


keinen Fall sein: ein Kind, das dauernd gesund essen muss, oder
ein Elternteil, der für genau diese Ernährung sorgen soll. Betet


man den Katechismus der vorbildlichen Kinderernährung herun-
ter – keinen Zucker, viel Gemüse, tierische Lebensmittel in Maßen,


Snacks nur in Form von Rohkost –, dann bekommt man den Ein-
druck: Wenn Kinder ernährt und gesättigt werden sollen, geht es in


deutschen Küchen ungefähr so locker zu wie in einem katholischen
Gottesdienst vor 40 Jahren.


Wir haben den Eindruck, dass beim Thema Kinderessen zu oft Er-
nährungsexperten gehört werden und zu selten Köchinnen und Kö-


che. So entstand die Idee, Letztere zu fragen, welches Gericht bei
ihren eigenen Kindern am besten ankommt. Diese Kinder, so stellten


wir uns das vor, werden ja sicher unter traumhaften Bedingungen
groß: Sie werden fast täglich von Spitzenköchen bekocht, ein Lu-


xus, den sich die wenigsten Erwachsenen leisten können. Was diese
Königskinder zu ihren Leibspeisen auserkoren haben, so war unsere


Hoffnung, das müssten doch Gerichte sein, die Kindern im ganzen
Land schmecken. Wir versprachen uns Gerichte, die anders sind als


das, was heute gemeinhin als Kinderessen gilt – etwa die zahllosen
Kombinationen von Nudeln und Tomatensoße oder die typischen


Chicken-Nuggets, die übrigens erst seit den Siebzigerjahren durch die
Erfindung von Fast Food zum Standardprogramm geworden sind.


Und unsere Erwartungen, dies gleich vorweg, wurden erfüllt.
Ob ein Gericht besonders gesund ist, war uns dabei egal. Tatsäch-


lich sind einige der Lieblingsgerichte, die von den Kindern genannt


wurden, nicht unbedingt fleischlos oder besonders fettarm. Kein
Wunder, denn die Eltern kochen ja an ihren Arbeitsplätzen ebenfalls
mit diesen Zutaten.
Einige Köche erzählten uns davon, wie unberechenbar der Kinder-
geschmack doch sei: Helga Balletta zum Beispiel, die in Nürnberg
seit fünf Jahren ehrenamtlich einen Kochkurs für Kinder leitet,
hätte nie gedacht, dass ihre Roten Beten es zum Lieblingsessen
schaffen würde.
Douce Steiner, eine der wenigen Sterneköchinnen im Land, sagte
uns, am wichtigsten sei ihr gewesen, dass ihre Tochter immer Frisches
bekam, was genau das war, spielte keine so große Rolle. Im Wald
Pilze zu sammeln und dann gemeinsam zu essen sei immer beson-
ders gut angekommen. Sonja Frühsammer, ebenfalls Sterne köchin
mit Kindern, berichtet, ihre Kinder hätten sich beschwert, dass zu
Hause zu wenig gekocht werde, weil sie oft Speisen aus dem Berliner
Restaurant mitbrachte. So entwickelte sich das Gnocchi- Rezept aus
diesem Heft zum heißgeliebten häuslichen Standardgericht.
Wir haben alle Rezepte dieses Heftes natürlich nachgekocht, mit
Kindern. Dabei passierte Erstaunliches. Ein Achtjähriger, der be-
hauptet hatte, keinen Fisch zu mögen, sondern nur Lachs, und erst
recht kein Fleisch, knabberte an Lammkoteletts und befand: »Das
Beste am Fleisch ist das Fett!« Und ein 16-Jähriger, der nie als Mu-
schelfreund aufgefallen war, verschmähte plötzlich das Schwein und
beanspruchte die Mehrzahl der Muscheln im Topf. Vielleicht ist das
die Botschaft dieses Heftes: Probieren Sie alles aus. Und wenn es
Ihren Kindern nicht schmeckt: Dann essen Sie es ihnen eben weg.

Von ILKA PIEPGRAS und MATTHIAS STOLZ

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