FOTOS: MAURITIUS IMAGES; SHUTTERSTOCK; DAVID BAUM/STERN
S
elbst die Eisenbahn bewegt sich
hier gemächlich. Mit 40 Stunden-
kilometern kommt die Flåmsba-
na vom Aurlandsfjord über den
Nordrand der Hardangervidda he-
raufgetuckert. Um Europas größ-
te Hochebene zu erreichen, hat der Zug
mehr als 800 Höhenmeter überwunden.
Auf seiner Strecke fährt er durch eine ma-
gisch schöne Landschaft, gesäumt von
Seen, Bergen, Schneefeldern. Hin und wie-
der staksen ein paar Schafe oder schläfri-
ge Wildrentiere über die Hügel. Menschen
sind rar hier oben. Und das ist wunderbar.
Am Bahnhof Myrdal hält die Flåmsbana
und öffnet zischend ihre Türen. Es ist ein
merkwürdiges Schauspiel, das sich nun er-
eignet: Haben sich gerade noch ein Ruck-
sackpärchen und ein paar gähnende Herr-
schaften im Wandertweed auf dem Bahn-
steig gesonnt, geht es auf einmal zu wie auf
dem Hauptbahnhof von Seoul. Dutzende
asiatische Touristen steigen aus dem Zug
und nehmen einschlägige Posen ein, wie
man sie von Instagram-Bildern kennt.
Überall klicken die Smartphonekame-
ras, Mitreisende erteilen hektisch Regie-
anweisungen, damit sich die Models noch
eleganter in das Gletscherpanorama posi-
tionieren. So schnell, wie der Spuk gekom-
men ist, weicht er auch wieder in das
Innere der Flåmsbana zurück. Mit der
nächsten WLAN-Verbindung werden die
Besucher ihre Fotos posten, die wiederum
neue Hobby-Influencer anlocken werden.
Die Zugstrecke gilt als eine der schöns-
ten Europas, was sich in den Redaktionen
der internationalen Reiseführer herum-
gesprochen zu haben scheint. Das will man
sehen und knipsen. Unten in Flåm steigen
die vornehmlich ostasiatischen Touristen
in den Zug. Der Weg, der vor ihnen liegt, ist
gepflastert mit beachtlichen Fotomotiven,
die häufig durch Farbfilter noch mehr ins
Unwirkliche gedreht werden, als es die
Landschaft von Natur aus hergibt.
Die vier Minuten Massentourismus in
Myrdal sind mehr als nur ein Spektakel. Sie
betonen auf drastische Weise den Unter-
schied zu dem, was man hier tagelang
genießen darf: göttliche Langeweile. Nicht
umsonst kommt Erling Kagge, der norwe-
gische Bestsellerautor, Südpol-Abenteurer
und Prophet des Stillseins, mit Vorliebe
und mindestens einmal im Jahr in die Re-
gion. Allerdings von der anderen Seite her:
In einer vierstündigen Fahrt gelangt man
mit der Bergensbanen nach Finse, dem
höchstgelegenen Bahnhof des Nordens. Die
meisten Menschen kennen diesen Ort,
ohne es zu wissen. Denn 1979 wurden hier
einige Szenen von „Das Imperium schlägt
zurück“ gedreht, der fünften Episode der
„Star Wars“-Saga. Dafür stapften Carrie
Fisher und Harrison Ford über den Glet-
scher, der als Eisplanet „Hoth“ selbst eine
Rolle einnahm. Aber das ist letztlich völlig
unwesentlich für den eigenen Aufenthalt.
Der Natur zuhören
Eine Reise nach Finse ist auch das: eine
Übung in digitaler Enthaltsamkeit. „Wir
sind alle süchtig geworden nach dem
Getöse unseres Zeitalters“, sagt Kagge; der
56-Jährige sieht so aus, wie man sich einen
norwegischen Naturburschen vorstellt –
sonnengegerbt und verwuschelt. „Wir
glauben, dass wir alle paar Minuten die
News auf dem Smartphone checken müs-
sen, weil ja etwas passiert sein könnte.“
Erling Kagge propagiert eine Wiederent-
deckung der Stille und der Lust am Fuß-
weg. „Es geht darum, in eine Konversation
mit der Ruhe zu treten und der Natur zu-
zuhören“, sagt er. „Ich wünschte, dass die
Menschen es als Luxus begreifen, morgens
eine Stunde ins Büro zu laufen, anstatt 45
Minuten mit dem Auto im Stau zu stehen.“
Kagges Bestseller, darunter der vielsa-
gende Titel „Gehen. Weiter gehen“, machen
Hoffnung, dass die Leute langsam um-
denken. „Meine Ideen finden glücklicher-
weise viele Zuhörer“, sagt er. „Abgesehen
von meiner 17-jährigen Tochter, die alles,
was ich schreibe, für Blödsinn hält.“
Seine Empfehlung, Finse mitsamt dem
angrenzenden Nationalpark Hallingskar-
vet und den Gletscher Hardangerjøkulen
zu besuchen, wird der Exklusivität der
Region jedenfalls keinen Abbruch tun.
Schließlich können immer nur so viele
Menschen anreisen und übernachten, wie
es die begrenzten Kapazitäten der Züge,
des Hotels „Finse 1222“ und der nahe gele-
genen „Finsehytta“ zulassen.
Abgesehen von dieser überschaubaren
touristischen Infrastruktur ist hier oben –
nichts. Keine Autostraße, kein Camping-
platz, keine Ausweichmöglichkeit.
„Es ist unser Glück, dass wir in Norwe-
gen nur sehr wenige Menschen sind und
sehr viel Landschaft haben“, sagt Erling
Kagge. Etwas mehr als fünf Millionen
Menschen leben in dem skandinavischen
Land – auf einer Fläche, die größer ist als
die Bundesrepublik Deutschland. Selbst
Oslo, die Hauptstadt, legt eine Gemäch-
lichkeit an den Tag, die den Begriff Metro-
pole ironisch klingen lässt.
Die Flåmsbana (o.) fährt vom Aurlandsfjord
hinauf nach Myrdal. Vor 110 Jahren wurde das
Hotel „Finse 1222“ (M.) gebaut. Unten:
Wanderung im Hallingskarvet-Nationalpark
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REISE