Der Stern - 07.11.2019

(Kiana) #1

„Guten Morgen, Lampe, guten Morgen, Pflan-
ze, guten Morgen, Waschbecken ...“: Jack hat
viel Fantasie, das Leben ist für ihn ein einziges
Spiel. Ein ganz normaler Fünfjähriger eben.
Nur: Jack ist nicht normal, er weiß es bloß
noch nicht. Denn der titelgebende „Raum“, in
dem er Lampe und Pflanze begrüßt, misst gera-
de einmal neun Quadratmeter und ist die ein-
zige Welt, die Jack kennt. Sieben Jahre zuvor
war seine Mutter Joy gekidnappt und dort ein-
gesperrt worden, Jack entstand bei einer der
zahllosen Vergewaltigungen
durch ihren Entführer. In das
Kind steckt sie all ihre Liebe,
es ist ihre Kraftquelle und ein-
ziger Grund zu leben. Mit fan-
tastischen Geschichten und
dem Aufrechterhalten eines
scheinbar gewöhnlichen All-
tags sorgt sie dafür, dass Jack glücklich ist, vor
der Wahrheit und den nächtlichen Besuchen
ihres Peinigers schirmt Joy ihn weitgehend ab.


Frei von Voyeurismus
Anders als etwa in „3096 Tage“, der Geschichte
der Österreicherin Natascha Kampusch, geht
es in „Raum“ nicht um die Beziehung zwischen
Entführer und Opfer, sondern um die Liebe
zwischen Mutter und Sohn, um den Terror der
Gefangenschaft und darum, ob es möglich ist,
nach solchen Erfahrungen noch ein normales
Leben in der echten Welt zu führen. Denn Joy
und Jack gelingt es tatsächlich zu entkommen.

Emma Donoghue, Autorin der Romanvorla-
ge und Verfasserin des Drehbuchs, ist selbst
Mutter eines Sohnes. Neben dieser besonde-
ren Bindung inspirierte sie Cormac McCarthys
Roman „The Road” zu „Raum“ sowie der reale
Fall der Elisabeth Fritzl, die von ihrem Vater
jahrelang eingesperrt und vergewaltigt wurde
und in dieser Zeit mehrere Kinder gebar, die
wie Jack in ihrem Gefängnis aufwuchsen.
Ohne einen Hauch von reißerischem Voyeuris-
mus oder Pathos inszenierte der irische Regis-
seur Lenny Abrahamson die
Geschichte von Jack und Joy,
die geschickte Kamerafüh-
rung im „Raum“ sorgt selbst
beim Zusehen für klaustro-
phobische Zustände. Doch erst
das Spiel der beiden Hauptdar-
steller macht diesen kleinen
Film zu einem wahrhaft großen. Subtil verleiht
Brie Larson ihrer Joy feine, ständig wechselnde
Nuancen und Emotionen zwischen Mutterlie-
be, Wut, Verzweiflung und tiefer Frustration.
Dass sie dafür 2016 den Golden Globe und den
Oscar erhielt, ist mehr als gerecht. Verdient
hätte sie auch der junge Jacob Tremblay, der
beim Dreh gerade einmal neun Jahre alt war.
Ihre von beiden Schauspielern immer wieder
betonte Zuneigung und Vertrautheit spiegeln
sich spürbar in ihren Figuren wider und sor-
gen für jede Menge Gänsehautmomente.

Mittwoch, ARTE, 20.15 Uhr

Im Mittelpunkt
steht die Liebe
zwischen Mutter
und Sohn.

Inspiriert vom realen Fall der Elisabeth Fritzl, erzählt das Drama „Raum“ die


Geschichte der jungen Joy, die mit ihrem Kind jahrelang gefangen gehalten wird.


Für ihre Leistung wurde Hauptdarstellerin Brie Larson mit dem Oscar ausgezeichnet


Neun Quadratmeter


Oben und unten rechts: Joy (Brie Larson) und Jack
(Jacob Tremblay) sind endlich frei. Unten links:
Jack im „Raum“. Ganz unten: Joy und ihre Eltern
(Joan Allen, William H. Macy) nach der Befreiung

MAGAZIN Highlight


Titelfoto: Arte/George Kraychyk |

Fotos: Arte/Kraychyk, Cineman, Element Pictures | Text: Susanne Bald

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