Der Stern - 07.11.2019

(Kiana) #1

D


as wird einfach der Hammer!“
Für Catrin Schultenkamp
geht ein Traum in Erfüllung:
eine Woche Kreuzfahrt. Mit
an Bord sind ein halbes Dut-
zend Heavy-Metal-Bands,
deren Bässe das Meer auf-
wühlen und die Schiffsreise

in die lauteste Party auf See verwandeln.


Das Beste daran: Ihr neuer Arbeit geber


spendiert ihr den Trip. Es ist keine An-


erkennung für geleistete Arbeit, sondern


ein Antrittsgeschenk, damit sie den


Arbeitsvertrag überhaupt unterschreibt.


Wie bei Fußballprofis, die den Verein wech-


seln. Die 43-jährige Mutter gehört zu


den begehrtesten Kräften am Standort


Deutschland, denn sie ist: Beamtin. Ihr


neuer Arbeitgeber ist das Straßenbauamt
der Stadt Hamm.
Die Heavy-Metal-Kreuzfahrt als Lock-
mittel ist eine Idee von Bernd Maßmann,
dem Personalchef im Rathaus Hamm. Die
Stadt muss einen Teil des Radschnellwe-
ges Ruhr bauen und zusätzlich gut zehn
Kilometer Bundesstraße. Das Geld für den
Bau ist da, fehlen nur noch die Straßen-
bauingenieure für die Planungsarbeiten.
Doch Bauingenieure aller Disziplinen sind
auf dem Arbeitsmarkt knapp. Auf die
Standardausschreibung bewarb sich über
Monate kein geeigneter Kandidat. „Nach-
dem das Angebot mit der Kreuzfahrt raus
war, hatten wir plötzlich Auswahl“, sagt
Maßmann. Für die Straßenbauingenieurin
Schultenkamp war die Reise selbst indes

nicht ausschlaggebend für ihre Entschei-
dung. „Aber es war ein deutliches Signal,
dass die da querdenken. Das passt zu mir.“
In Behördenkreisen gilt jede Verpflich-
tung eines Ingenieurs als Coup, Fachkräf-
te für Straßenbau sind fast schon eine Sen-
sation. Darum erreichen Bernd Maßmann
täglich E-Mails und Anrufe von Kollegen
aus anderen Rathäusern. Sie wollen wis-
sen, mit welchem Trick er die Schiffsreise
haushaltstechnisch verbucht hat. Denn sie
alle haben dasselbe Problem: Sie finden
kaum noch qualifiziertes Personal für den
öffentlichen Dienst. Betroffen sind kleine
und große Städte, Landkreise, Bundes- und
Landesbehörden flächendeckend in der
gesamten Republik. Es fehlen Fachleute in
beinahe allen Disziplinen: Lebensmittel-
kontrolleure und Lebensmittelchemiker,
Rechtspfleger, Veterinäre, Strahlenschüt-
zer, Arbeitsschützer, Umweltexperten
aller Art und natürlich IT-Spezialisten.

Sanierungsfall öffentlicher Dienst
Es brennt bei den Berufsfeuerwehren. Bun-
desweit melden Jugendämter, Schulen und
Kindergärten den Notstand, die Polizei
klagt schon seit Jahren. Gesundheitsämter
und die medizinischen Dienste sind so
ausgedünnt, dass in ganz Thüringen bereits
die Einstellung von Beamten stockt, wegen
Personalmangels bei der ärztlichen Ein-
gangsuntersuchung. Die Gerichtsvollzie-
her kommen mit dem Eintreiben von
Schulden nicht nach. Aus Mangel an Voll-
zugsbeamten können in vielen Gefängnis-
sen die Insassen nicht so betreut werden,
wie es die Gesetze vorschreiben. Weil bun-
desweit rund 2000 Richter und Staats-
anwälte fehlen, verzögern sich Gerichts-
verhandlungen mitunter über Jahre. Jede
Woche muss mindestens ein Tatverdächti-
ger aus der Untersuchungshaft entlassen
werden, weil die Verfahren unzumutbar
lange dauern. Und so manches Bauamt hat
nicht mal mehr Leute, um die Bauanträge
abzustempeln. Dann schicken clevere Bau-
firmen ihr eigenes Personal ins Amt, die
dort in Handarbeit den eigenen Anträgen
den berühmten grünen Stempel aufdrü-
cken: genehmigt.
„Der öffentliche Dienst kann schon jetzt
auf vielen Gebieten die gesetzlichen Auf-
träge nicht mehr erfüllen“, sagt Jan Georg
Seidel, Vorsitzender der Gewerkschaft
Technik und Naturwissenschaft im Beam-
tenbund. „Ich sage das nicht leichtfertig,

Faible für schweres Gerät:
Ingenieurin Schultenkamp bekam
zu ihrer Stelle im Straßen-
bauamt Hamm eine Heavy-Metal-
Kreuzfahrt dazu

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