Der Stern - 07.11.2019

(Kiana) #1

unausgegorenen Thesen über die angeb-


lich geringere Intelligenz von Zuwan-


derern fütterte, war der SPD-Politiker von


2002 bis 2009 Finanzsenator in Berlin. Sein


politisches Wirken stand unter der Über-


schrift: „Sparen, bis es quietscht“.


Die Beamten sind weg, aber ihre Aufga-

ben sind noch immer da. Nicht nur das: Die


Anforderungen, die Politik und Bürger an


ihre Verwaltung stellen, sind in den ver-


gangenen Jahren erheblich gewachsen.


Allein die Zahl der Bauvorschriften hat


sich seit der Wiedervereinigung vervier-


facht. Und jedes politische Vorhaben be-


wirkt automatisch Mehrarbeit in den


Amtsstuben: Kita-Ausbau, Inklusion an


Schulen, Integration der Flüchtlinge, Um-


weltschutz, Mobilitätswende, Energie-


wende oder das soeben beschlossene


Maßnahmenpaket zur Bekämpfung des


Rechtsextremismus. Die meisten Zusatz-


aufgaben sind sinnvoll und werden von


den Bürgern vehement gefordert. Doch die


Arbeit erledigt sich nicht von allein.


Beinahe täglich beschließt die Politik So-

fortmaßnahmen, stellt Sonderprogramme


bereit und füllt Milliarden in Fördertöpfe.


Das klingt nach Aktivität. Der Staat tut was.


Tatsächlich ähnelt der öffentliche Dienst


immer mehr einer Speisekarte in einem
Restaurant der DDR. Es werden jede Men-
ge Köstlichkeiten aufgelistet, aber vieles
davon kann nicht serviert werden. Tut uns
leid: Köche sind gerade aus und kommen
auch nicht mehr rein. Darum bleiben jedes
Jahr 15 Milliarden Euro in der Kasse von
Bundesfinanzminister Olaf Scholz zurück.
Mit der liegen gebliebenen Staatsknete
könnte man fast die Haushalte von Sach-
sen-Anhalt und dem Saarland bestreiten.

Verplant war das Geld jedoch für die Ver-
wirklichung von Großprojekten der Bun-
desregierung wie etwa den Kita-Ausbau,
die Sanierung der Verkehrsinfrastruktur
oder den Ausbau der digitalen Vernetzung.
In einem dramatischen Appell forderte
Scholz Ende September die Länder und
Kommunen auf: „Bitte nehmt das Geld!“
Früher war Geldmangel der limitieren-
de Faktor, der den Staat bremste. Heute ist
es Personalmangel.
Betroffen sind auch die Vorzeigeprojek-
te der Politik. Als 2015 der Mindestlohn
eingeführt wurde, sollte der Zoll die Ein-
haltung überwachen. Doch vier Jahre nach
dem Start sind bei der Finanzkontrolle
Schwarzarbeit (FKS) von 7900 Stellen 1300
noch immer nicht besetzt. Zu den Aufga-

ben der Zollbeamten gehört auch die Be-
kämpfung der Geldwäsche. Dort beträgt
der Stau rund 36 000 Fälle, die nicht be-
arbeitet werden konnten. Auf diese Weise
hat sich Deutschland in der organisierten
Kriminalität einen vorzüglichen Ruf als
weltweites Geldwäscheparadies erworben.
Beim Zoll gehen der Staatskasse erheb liche
Einnahmen durch die Lappen. Die Schät-
zungen liegen zwischen fünf und zehn
Milliarden Euro jährlich.

Dem Staatsapparat fehlen nicht nur
Leute, die das Geld ausgeben könnten,
es gibt auch zu wenige, die es einnehmen.
Die Finanzämter waren von der Kürzungs-
welle besonders betroffen: Seit 1998 wur-
de jede fünfte Stelle eingespart – obwohl
die Zahl der Steuerfälle im selben Zeitraum
erheblich anstieg, bei Ge werbe- und Kör-
perschaftssteuern haben sich die Fälle fast
verdoppelt. Das Sparen von Personal er-
weist sich für den Staat als teure Angele-
genheit: Betriebsprüfer vom Finanzamt
kosten etwa 70 000 Euro im Jahr, nehmen
aber 1,5 Millionen ein. Von solchen Profi-
ten träumt jeder Kriminelle. Thomas Ei-
genthaler, Vorsitzender der Deutschen
Steuergewerkschaft, rechnet vor, dass die
Finanzämter mit der Mannschafts-


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