FOTOS: PATRICK JUNKER/STERN
F
rau Böhme, als Sie zu Beginn
der 2000er Jahren erstmals
in die Hammerschmiede
kletterten, eine alte Tongru-
be bei Pforzen im Allgäu,
hofften Sie da bereits, etwas
Außergewöhnliches zu finden?
Nein, ich hatte keine besonders
hohen Erwartungen. Als Geologin
und Paläontologin freue ich mich
über jede Sand- und Tongrube. In
Süddeutschland kenne ich diverse
und besuche sie regelmäßig, um die
Geologie zu studieren,
aber auch, weil man dort
oft Fossilien findet.
Aber aus irgendeinem
Grund müssen Sie sich ja
entschieden haben, auch
in die Hammerschmiede
zu fahren.
Sie müssen sich das Ge-
lände dort vorstellen wie
eine Mondlandschaft. Bag-
ger kratzen Ton aus der
Erde. Hier und da sehen Sie
Sandschichten mit schwar-
zen Einsprengseln. Ich
wusste aus der Literatur,
dass es in der Grube Kno-
chenfunde ausgestorbener
Tiere gegeben hatte und
dass eine Schicht Kohle-
stückchen enthalten solle.
Das klingt nicht gerade-
spektakulär.
Bei meinem ersten Besuch
vor Ort sah ich, dass die
dunklen Fragmente keine
Kohle waren. Als ich sie unter
die Lupe nahm, zeigte sich eine
schwammartige Struktur mit vielen
kleinen Poren. Es waren schwarz
verfärbte Bruchstücke von Knochen
großer Tiere – ein Hinweis, dass es
sich lohnen würde, weiterzugraben.
Der Hobbyarchäologe Sigulf Gug-
genmos war zuvor sogar auf Reste
von Hyänen, Urelefanten und Anti-
lopen gestoßen. Wir konnten diese
auf 11,4 Millionen Jahre datieren –
damals war das Allgäu eine Art Sa-
vanne.
Wie lange dauerte es bis zum
ersten größeren Fund?
Anfangs kamen wir für ein, zwei
Tage im Jahr, später für fünf, irgend-
wann blieben wir für Wochen. 2015
grub mein damaliger Doktorand
Jochen Fuß dann den Oberkiefer
eines Menschenaffen aus.
Eine Sensation?
Zunächst nur eine kleine. Der ma-
gische Moment kam erst am 17. Mai
- Ich weiß das noch genau, weil
an diesem Tag der 70. Geburtstag von
Udo Lindenberg war, den ganzen Tag
lief im Autoradio Musik von ihm.
Wir fanden ein Stück Unterkiefer
mit zwei Backenzähnen. Und der
passte genau zu unserem Ober-
kiefer. Jetzt ahnten wir: Hier steckt
vielleicht noch mehr von diesem
Skelett. Tatsächlich fanden wir spä-
ter Arme, Beine, Kieferknochen,
Zähne, Teile des Fußes und der Wir-
belsäule. Und wir fanden weitere
Individuen, am Ende hatten wir eine
ganze Urfamilie beisammen: ein
Männchen, zwei Weibchen und ein
Jungtier. Sie sind 11,6 Millionen
Jahre alt! Wir gaben ihnen den wis-
senschaftlichen Namen Danuvius
guggenmosi – nach dem keltischen
Flussgott, von dem auch die Donau
ihren Namen hat, und nach Sigulf
Guggenmos. Unter uns nannten wir
den fossilen Mann „Udo“.
Diese Woche wird Ihr Fund im
Wissenschaftsjournal
„Nature“ publiziert – ein
Ritterschlag. Was ist so
besonders an ‚Udo‘?
Wir haben eine bis dahin
völlig unbekannte Gat-
tung von Menschenaffen
entdeckt. Obenrum ähnel-
te er einem Bonobo. Sein
Brustkorb war breit und
seine Wirbelsäule s-för-
mig gebogen wie bei uns
Menschen. An seinem
Schienbein, Hüft-, Knie-
und Sprunggelenk sieht
man, dass er Hüfte und
Beine gewohnheitsmäßig
gestreckt hielt. Es ist ein-
deutig, dass er in der Lage
war, aufrecht zu gehen. Er
schwang sich wohl nicht
von Ast zu Ast, sondern
kletterte langsam und
vorsichtig wie wir Men-
schen – und lernte das
aufrechte Gehen im Baum.
Wissenschaftler gingen bislang
davon aus, dass der aufrechte Gang
erst vor sechs Millionen Jahren
entstanden ist. Dieses Alter haben
wir nun locker verdoppelt.
Müsste Danuvius dann nicht ein
Vormensch sein, unser Ahne?
Er ist in jedem Fall ein Urahn von
uns. Ob er jedoch auch ein Vor-
mensch war, ist nicht ganz sicher.
Danuvius sieht aus wie eine Mi-
schung aus Mensch und Affe. Er
Sensationsfund im Allgäu: Eine Tongrube barg die Überreste eines bis dahin
UDOS UNTER
Der Gesichtsschädel von Danuvius guggenmosi, genannt
Udo – mithilfe von 3-D-Druck vervollständigt (weiße Teile)
DAS
ALLGÄU
WAR EINST
EINE
SAVANNE
WISSEN
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