Der Stern - 07.11.2019

(Kiana) #1
könnte ein Vorfahr des Menschen
sein. Vielleicht ist er auch ein ge-
meinsamer Vorläufer von Mensch
und Schimpanse. Jedenfalls ging er
aufrecht – und der aufrechte Gang
galt bisher als eines der Unterschei-
dungsmerkmale zwischen Men-
schen und Menschenaffen.
Was bedeutet Ihr Fund im Allgäu
für die Idee, dass unsere frühen
Vorfahren aus Afrika stammten?
Diese Idee erodiert seit Jahren. Es
gibt inzwischen einige aufsehen-
erregende Belege dafür,
dass sich lange Phasen der
Menschwerdung und die
Entwicklung des aufrech-
ten Gangs in Europa und
Westasien abgespielt ha-
ben. Da reiht sich auch Da-
nuvius ein, und das wird
manchem nicht passen.
Als vor ein paar Jahren auf
Kreta versteinerte Abdrü-
cke von Vormenschen ge-
funden wurden, wollten
viele Anthropologen diese
nicht zur Kenntnis neh-
men: Sie sind sechs Millio-
nen Jahre alt und der ulti-
mative Beweis dafür, dass
es in Europa zweibeinige
Wesen gab, Millionen Jah-
re bevor „Lucy“ und ande-
re Vormenschen Ostafrika
bevölkerten.
In Ihrem jüngsten Buch
(s. rechte Randspalte)
schreiben Sie über einen
weiteren frühen Europäer, den
Sie in einem trostlosen Versteck
entdeckten ...
... einer alten Tupperdose. Ich hatte
von den verschollenen Knochen
eines griechischen Menschenaffen-
Fundes gelesen, die angeblich irgend-
wo in Süddeutschland aufbewahrt
wurden. Schließlich fand ich 2014 die
Dose mit dem Unterkiefer dieses
Graecopithecus in einem Safe der Uni
Erlangen. Zusammen mit Neufunden

dieser Art aus Bulgarien datierten wir
den sehr menschenähnlichen Kiefer,
er war mehr als sieben Millionen Jah-
re alt. Noch ein Beleg, dass die Vor-
menschen Europas wesentlich älter
sind als die aus Afrika.
Wie können Sie da so sicher sein?
Wir haben Graecopithecus und Da-
nuvius mithilfe der Schwankungen
im Erdmagnetfeld datiert: Man
weiß, dass sich die Magnetpole im
Laufe von Hunderttausenden von
Jahren immer wieder umkehrten.

Das lässt sich an der Ausrichtung
magnetischer Partikel im Gestein
erkennen, so kann man Schichten
datieren. Außerdem haben wir in
der Nähe der Tongrube eine 150 Me-
ter tiefe Bohrung gemacht und dann
alle Sedimente des Bohrkerns den
Schichten und Funden aus der Ham-
merschmiede zugeordnet.
Ließen Sie die Grube sperren?
Das konnten wir nicht. Es wurde
weiter Ton für eine Ziegelei abge-

baut. Mit dem Pächter hatten wir
den Deal, dass wir jedes Jahr ein paar
Wochen graben durften. Mehr war
nicht drin.
Sie mussten zusehen, wie Ihre
Schätze weggebaggert wurden?
Das ganze Team kämpfte gegen die
Zeit: Einerseits mussten wir so sorg-
fältig wie möglich bergen und archi-
vieren. Andererseits ging es darum,
viele Kubikmeter zu machen.
Wie haben Sie die Arbeiten finan-
ziert?
Da uns niemand Geld für
Rettungsgrabungen geben
wollte, habe ich Laien en-
gagiert. In jedem von uns
steckt ein kleiner Entde-
cker! Also haben wir die
geologischen Fachschaften
der Unis angeschrieben
und Mundpropaganda ge-
macht. Die Leute strömten
ein: Senioren, Studenten,
Eltern mit Kindern, die
jüngsten waren acht.
Es durften sogar Kinder
mitbuddeln?
Kinder sind gute Beobach-
ter, weil sie intuitiv gründ-
lich vorgehen. Denen ent-
geht kein Körnchen. Ich
bin in Bulgarien aufge-
wachsen und durfte mit
sechs Jahren bei einer Gra-
bung zuschauen. Von da
an ließ mich die Faszina-
tion, etwas zu entdecken,
nicht mehr los. Mit zwölf
habe ich meine erste archäologische
Grabung organisiert, mit 20 meinen
ersten Elefanten ausgegraben.
Jetzt flunkern Sie!
Nein! Ich habe zu meiner Oma ge-
sagt, ich suche jetzt Elefanten. „In
Bulgarien gibt es keine Elefanten“,
sagte sie. Aber früher gab es welche,
widersprach ich – und kam später
mit einem Unterkiefer zurück, den
ich kaum tragen konnte. 2
Interview: Nicole Heißmann

unentdeckten Ahnen der Menschheit – enorme 11,6 Millionen Jahre alt


KIEFER


Madelaine Böhme, Paläontologie-Professorin an der
Universität Tübingen, leitete die Grabungen

ER GING


AUFRECHT


UND


KLETTERTE


IN BÄUMEN


„Wie wir
Menschen wurden“
von Madelaine
Böhme, Rüdiger
Braun und
Florian Breier.
Heyne Verlag,
336 Seiten,
22 Euro


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