FOTO: JENS UMBACH/STERN
H
err Biermann, Sie sind 1936 ge-
boren und in Hamburg aufge-
wachsen. Gibt es ein Geräusch,
einen Geruch, den Sie mit Ihrer
Kindheit verbinden?
Wir lebten in Hammerbrook,
einem Industrieviertel mit vielen Arbei-
termietskasernen. Die Fabriken standen
mit einem Fuß auf der Straße und mit dem
anderen im Kanal, wo die Schuten an-
legten. Da wir in Hamburg auflaufendes
und ablaufendes Wasser haben, liegen
die Fleete oft fast trocken. So fault der
Schlamm auf eine wunderbare Weise: ein
für meine Nase paradiesischer Geruch.
Sie gingen in Hamburg aufs Gymnasium.
Als Sie eine Fünf in Mathe hatten, zürn-
te Ihre Mutter: „Dafür ist dein Vater in
Auschwitz gestorben, dass du mit einer
Fünf nach Hause kommst!“ Haben Sie
jemals einen schlimmeren Satz gehört?
Selten. Mir zitterte das Herz. Der portu-
giesische Poet Pessoa liefert uns dazu ein
treffendes Wort: „Wenn das Herz denken
könnte, würde es sofort stehen bleiben.“
1953 siedelten Sie in die DDR über. Haben
Sie dort Nazis getroffen?
Klar. 1965, kurz vor meinem Totalverbot,
kam aus einer Kneipe ein besoffener älte-
rer Mann auf mich zu getorkelt und sagte:
„Ick war bei der SS, da bin ick stolz drauf!
Willste mal meine Tätowierung sehen?
Na, hängste mich jetzt hin? Lieferste mich
jetzt aus? Machste nich! Bist’n Mensch.
Siehste, wie icke!“ Grauenhaft surrealer
Realismus. Natürlich habe ich ihn nicht
ausgeliefert.
Besitzen Sie noch den Zettel mit Ihren
ersten Versen?
Ja, ich war Abiturient. Doch weder ich noch
meine Mutter hatten im Sinn, dass ich
Dichter werde. Meine Mutter war beschei-
den, sie wollte nur, dass ich die Menschheit
rette und den Kommunismus aufbaue. Als
sie mich im Internat besuchte, merkte sie,
dass die Genossen das mit der Wirtschaft
nicht hinkriegen. Deshalb gab sie mir
ihren Parteiauftrag: „Du studierst Wirt-
schaft. Du sorgst dafür, dass es im Sommer
Badehosen gibt und nicht im Winter.“
Jemals in Gefahr gewesen, als Spitzel
bei der Stasi zu landen?
Die Stasi wollte mich erpressen, über Schü-
ler und Lehrer im Internat zu berichten.
Zu meinem Glück benahm sich der Stasi-
Mann wie ein Schwein, und das war
Einmal DDR und wieder zurück:
Wolf Biermann über
sein deutsch-deutsches Leben
Interview:
Andreas Hoidn-Borchers
und Axel Vornbäumen
GESELLSCHAFT
STASI-LEUTE
WAREN
NUR
KLEINE
ARSCHLÖCHER“
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DAS STERN-GESPRÄCH