Der Stern - 07.11.2019

(Kiana) #1

Ich hatte große Angst, denn noch war


die DDR ein Staat mit funktionierendem


Militär, Stasi und Polizei, und nichts war


schon wirklich entschieden. Bei minus


fünf Grad und Smogalarm Stufe drei stan-


den Tausende Leute in Mänteln anein-


andergedrückt wie eine Herde Schafe.


Eine angespannte Situation. Plötzlich,


zu Anfang des Konzerts: ein schreckli-


ches Geräusch, Dieselmotoren von Lkws


heulten auf. Da wusste ich ganz genau:


Jetzt haben sie uns hier in der Falle!


Doch dann fuhren die Lastwagen einfach


aus der Halle. Es war also wunderbar
friedlich, nur ein paar Arbeiter auf dem
Nachhauseweg.

DIE 90ER JAHRE


Sie besetzen mit Bürgerrechtlern die
Stasi-Zentrale in der Normannenstraße.
Auch im Vernichtungsrausch gewesen?
Im Gegenteil: im Erhaltungsrausch. Wir
wollten verhindern, dass die Stasi die Ak-
ten vernichtet. Wir wollten, dass diese deut-
sche Wertarbeit erhalten bleibt. Man möch-
te doch Lehren ziehen können aus einer so
ordentlich organisierten Diktatur.
Gar kein Hass auf die Stasi?
Ach, die Stasi war nur Schild und Schwert
der Partei. Wen das Schwert traf, be-
stimmte nie die Stasi. Verantwortlich
waren die Parteibonzen. Die Stasis waren
mehr oder weniger kleine Arschlöcher, die
wenig zu sagen hatten. Nach dem Sieg der
friedlichen Revolution traten sie ihren
finalen Dienst für die Herrschenden an,
indem sie alle Prügel auf sich zogen. Ge-
schickt eingefädelt von den Erben der
SED-Diktatur.

Ihre eigene Akte umfasst rund 50 000
Seiten. Wie viele haben Sie gelesen?
Nicht viele. Die Zeit nehme ich mir nicht.
Im Übrigen: 50 000 Seiten – das klingt nur
gewaltig, wenn man es persönlich nimmt.
Man muss es aber politisch richtig miss-
verstehen: So viel Überwachung war halt
nötig für den Machterhalt.
Helmut Kohl wird in Halle mit Eiern be-
worfen. Er walzt auf den Werfer zu. Wem
galten Ihre Sympathien?
In dieser Situation natürlich dem Kohl.
Haben Sie jemals an blühende Land-
schaften geglaubt?
Ja. Und ich freue mich, dass diese Wahl-
propaganda-Lüge von Kohl sich als eine
Wahrheit erwiesen hat. Die Deutschen
haben noch nie in ihrer Geschichte auch
nur annähernd so gut, so frei, so munter
gelebt wie jetzt. Ich kenne kein Land, in
dem ich lieber leben möchte.
Haben Sie sich als Ost-Wessi mal für die
Ossis geschämt?
Wofür? Ich bin ja nicht deren Vormund.
Mal die Wessis verachtet?
Nie im Leben. Die Klugen und die Dum-
men sind auf alle Völker gerecht verteilt.
Wenn es Sie als West-Mensch in den

Ganz oben angekommen: Demonstranten
auf der Berliner Mauer, 9. November 1989


4

Free download pdf