Der Stern - 07.11.2019

(Kiana) #1
Andreas Hoidn-Borchers,
(l.) 58, und Axel
Vorn bäumen, 59, wurden
von Biermann als „alte
Männer“ begrüßt. Er selbst, 82, bezeichnet
sich als jungen Greis FOTOS: NORBERT MICHALKE/DPA; SEBASTIAN GOLLNOW/DPA/PICTURE ALLIANCE

Osten verschlagen hätte, dann wären Sie


im Osten natürlich der Dumme, der An-


fänger gewesen. Als ich ab 1976 endlich in


der Freiheit an der Menschheit lecken


konnte, ging es mir schlecht. Warum? Weil


ich der Anfänger war, der Neue im Westen.


DIE NULLER JAHRE


Haben Sie 9/11, den Terroranschlag auf


das World Trade Center in New York, als


persönlichen Angriff emp funden?


Absolut. Emotional ja. In der Philosophie


sagt man: Es war ein Qualitätssprung der


existenziellen Bedrohung. Vergleichbar mit


der ersten Atombombe. Die hat Brecht so


erschüttert, dass er sein „Galilei“-Stück


umschrieb und ins Gegenteil verkehrte.


Haben Sie 2006 beim Sommermärchen


die Nationalhymne mitgesungen?


Ich singe die nicht gern, aus einem senti-


mentalen Grund: Ich stand 1943 mit mei-


ner Mutter auf der Mönckebergstraße in


Hamburg, die Leute drängelten sich am


Straßenrand. Eine Nazikompanie grölte


das Deutschlandlied. Ein SA-Mann riss


meiner Mutter den Arm zum Hitlergruß


hoch und trat ihr dabei in den Hintern.


Dafür kann Hoffmann von Fallersleben


nichts, der in edler Einfalt und Liebe zu


Deutschland dieses Lied dichtete. Der ge-


niale Komponist Joseph Haydn schon gar


nicht. Aber ich kann auch nichts dafür.


Haben Sie mit Günter Grass gebrochen,


nachdem er „Beim Häuten der Zwiebel“


zugab, dass er in der SS war?


Nein. Dass Grass mit 17 der SS beigetreten


ist, ist schlimm. Ein halbes Kind, verwirrt


durch die Zeit, in der er lebte. Das kann ich


bedauern, aber nicht verurteilen. Schlim-


mer finde ich, dass er erst gegen Ende sei-


nes Lebens wieder „ausgetreten“ ist – mit


seiner wohltemperierten Enthüllung. Es


ist schade, dass ausgerechnet Grass, der an-


deren ihre NS-Vergangenheit vorwarf, sei-


nen eigenen Irrweg verschwieg. Zerfreun-


det waren wir bereits aus anderem Grund:


im Streit um die Wiedervereinigung. Er


war wütend dagegen, ich zögerlich dafür.


Mit Joachim Gauck wird ein Ostdeut-


scher Bundespräsident. Enttäuscht, dass


niemand auf Sie gekommen ist?


Absurd! Für diesen Job ist ein Künstler zu


schade.


Wie viel Kapitalismus steckt mittlerwei-


le im Ex-Kommunisten Wolf Biermann?


Gar keiner. Aber viel Vergnügen an der


Demokratie. Obwohl ich weiß, dass die


Demokratie eine gefährliche und gefähr-


dete Konstruktion ist, wenn ich an die AfD


denke und an die Linken, die aus meiner


Sicht genauso wenig Demokraten sind.


DIE 10ER JAHRE


Haben Sie jemals mit Merkel unter vier
Ohren gesungen?
Nein. Aber ich habe ihr und ihrem Mann
Joachim Sauer mal paar Lieder mit meiner
Frau Pamela vorgesungen, als wir uns tra-
fen. Und staunte: Dieser Professor kennt
fast alle meine frechen frühen Lieder, die
kaum einer kennt, sogar auswendig.
Und Sauer war lustig?
Das ist er meistens. Er hat die Heiterkeit
des Naturwissenschaftlers, die ich von
meinem Freund Robert Havemann kenne.
Hören Sie Musik analog oder digital?
Nur digital. Leute, die behaupten, dass ana-
log besser klänge, sind Nostalgiker.
Haben Sie AfD-Anhänger im Bekannten-
kreis?
Zwei enge Freunde, die in der DDR gelebt
haben, und einen, der dort auch im Knast
saß. Die sind zu meinem großen Kummer
jetzt AfD-Anhänger. Ich will sie dennoch
nicht aus meiner kleinen Menschheit aus-
schließen. Ich kann manche ihrer Sorgen
sogar verstehen, dazu muss man gar nicht
besonders einfühlsam sein. Nur das Aus-
maß der Angst, der Ablehnung und die
politischen Schlüsse, die sie ziehen, sind
nach meiner Meinung hysterisch übertrie-
ben und falsch. Ich finde es auch obszön,
dass die AfD Wahlkampf gemacht hat mit
der Losung: „Vollende die Wende“.
Ist für Sie Merkels Flüchtlingspolitik
immer noch „ein wunderbarer Fehler“?
Es war der richtige Fehler in einer tragi-
schen Situation. Merkel hat sich als eine
tatkräftige Humanistin bewährt, sich
wie eine echte Christin verhalten, trotz
in ner europäischer Turbulenzen ist sie
eine stoische Europäerin geblieben. Auch
in der Situation 2015 zeigte sie der Welt
das freundliche Gesicht menschlicher
Vernunft.
Ist „Fridays for Future“ Ihr Ding?
Ich freue mich, dass diese Kids, die noch
viel zu wenig von der ganzen Problematik
verstehen und nicht mal erklären können,
wie ein Kühlschrank funktioniert, trotz
alledem das Richtige machen. Hegel wür-
de lachen: Da wirkt der blinde Weltgeist.
Das Haus Chausseestraße 131 in Berlin-
Mitte ist immer noch unsaniert. Klingt
fast wie Biermann-Spott.
Es hat wahrscheinlich profanere Gründe –
banale Profitinteressen. Seit Anfang der
90er Jahre wohnt ausgerechnet in meiner
Wohnung ein ehemaliger Stasi-Spitzel. In
dieser Wohnung, die ich nie wieder betre-
ten habe, trafen sich jahrzehntelang Op-
positionelle und Intellektuelle aus Ost und
West. Ich habe als Kind erlebt, wie meine

jüdische Familie aus ihren Wohnungen
vertrieben, ausgebürgert und deportiert
wurde. Ich bin nicht deportiert worden, ich
wurde vertrieben in die Freiheit, nicht in
den Tod. Aber es schmerzt, wie mit einem
der lebendigsten Orte des Widerstandes
gegen Diktatur im Zentrum von Berlin
verfahren wird.

WAS BLEIBT


Ihr bestes Jahrzehnt?
Die 70er Jahre. Ich hatte bewiesen, dass die
Bonzen der DDR mich nicht kaputt krie-
gen, und war vom Rausschmiss in die neue
West-Welt so erschüttert, dass ich mich
neu erfinden musste.
Das beste Jahrzehnt der Bundesrepublik?
Da sage ich frech: die 50er! Als die Deut-
schen das Wirtschaftswunder geschafft
haben, aus dem Nazi-Loch rauskrochen
und Demokraten wurden.

Beste Zeile von Biermann?
Nur wer sich ändert, bleibt sich treu.
Beste Zeile, die nicht von Biermann
stammt?
Von Brecht: Kein Mensch hält ewig, einige
halten etwas länger.
Die zehn größten deutschen Dichter:
Vogelweide, Goethe, Schiller, Hölderlin,
Heine, Fontane, Rilke, Tucholsky, Brecht,
Gernhardt, Biermann.
Nein.
Es ist ohnehin einer zu viel.
Statt aus dieser Galerie welche raus-
oder reinzuschmeißen, antworte ich mit
Heinrich Heine: Andere Zeiten, andere
Vögel. Andere Vögel, andere Lieder. Sie
gefielen mir vielleicht, wenn ich andere
Ohren hätte. 2

Feiern mit Köhler und Kanzlerin: Biermanns


  1. Geburtstag in Schloss Bellevue, 2016


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Andreas Hoidn-Borchers,
(l.) 58, und Axel
Vornbäumen, 59 , wurden
von Biermann als „alte

Beste Zeile von Biermann?
Nur wer sich ändert, bleibt sich treu.
Beste Zeile, die nicht von Biermann
stammt?
Von Brecht: Kein Mensch hält ewig, einige
halten etwas länger.
Die zehn größten deutschen Dichter:
Vogelweide, Goethe, Schiller, Hölderlin,
Heine, Fontane, Rilke, Tucholsky, Brecht,
Gernhardt, Biermann.
Nein.
Esistohnehineinerzu viel.
Statt aus dieser Galerie welche raus-
oder reinzuschmeißen, antworte ich mit
Heinrich Heine: Andere Zeiten, andere
Vögel. Andere Vögel, andere Lieder. Sie
gefielen mir vielleicht, wenn ich andere
Ohren hätte.

Feiern mit Köhler und Kanzlerin: Biermanns
8 0. Geburtstag in Schloss Bellevue, 2016
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