Der Stern - 07.11.2019

(Kiana) #1

B


äume zu pflanzen gilt lange schon als
ein wichtiger symbolischer Schritt auf
dem Weg in die Zukunft. „Auch wenn
ich wüsste, dass morgen die Welt zu-
grunde geht, würde ich heute noch
mein Apfelbäumchen pflanzen.“ Das ist
wohl der berühmteste Satz, der Martin Luther zuge-
schrieben wird – auch wenn er gar nicht von ihm stammt,
wie uns die Luther-Forscher versichern. Wer immer die-
se Worte tatsächlich erdacht oder auch gesagt hat: Sein
Apfelbaum ist zu einem unerschütterlichen Zeichen der
Hoffnung im Angesicht des Untergangs geworden.
Was für Luther und seine Zeitgenossen der Welt-
untergang war, ist für uns die Klimaerwärmung, das
Abschmelzen der Polkappen und die fortschreitende
Zerstörung natürlicher Ressourcen. Das war der Kon-
text, in dem der diesjährige Friedenspreisträger Sebas-
tião Salgado zusammen mit seiner Frau, einer Gruppe
von Helfern und einigen Experten auf dem Gut seiner
Eltern in Brasilien fast drei Millionen Bäume ange-
pflanzt hat. Ein abgeholztes, von Viehzucht ausgelaug-
tes Areal in der Größe von 850 Fußballfeldern haben sie
in einen Regenwald mit 293 Baum- und Pflanzenarten
zurückverwandelt, in dem heute 172 Vogelarten, 33 Säu-
getierspezies, je 15 Reptilien- und Amphibienarten
leben und acht vormals ausgetrocknete Quellen wieder
sprudeln. Salgados „Instituto Terra“, wie das Projekt
heißt, ist ein weltweites Zeichen dafür, dass die Hoff-
nung auf eine Umkehrbarkeit von Umweltzerstörung
berechtigt ist – obwohl sich das Zeitfenster dafür
rapide verkleinert hat.

Auch in Europa werden grüne Zeichen gesetzt. Nach-
dem die Vereinten Nationen im Jahr 2006 dazu auf-
gerufen haben, eine Milliarde Bäume zu pflanzen, ist die
Non-Profit-Organisation http://www.iplantatree.org entstan-
den. So stellt sie sich auf ihrer Website vor: „Wir pflanzen
Bäume fürs Klima: Du pflanzt online, wir vor Ort. Jetzt
aufbäumen! Gemeinnützig.“ Auf diese Weise können
Nutzer online Bäume pflanzen. Mit Spendenquittung.
Eine ehemalige Deponie wurde mit 9000 Bäumen auf-
geforstet. Es gibt Sammelstellen für Eicheln, aus denen
neue Eichen werden sollen. Unternehmen und Privat-
personen wetteifern auf der Website miteinander um
die Anzahl der von ihnen finanzierten Bäume und die
entsprechenden Werte der CO 2 -Bindung.
Viele Eichen, Linden oder Buchen werden älter als ein
Mensch und stehen schon deshalb für etwas, das über
die Existenz des Einzelnen hinausweist. Sie sind eine
Gabe für die Nachwelt und eröffnen Zukunft. Sie tragen
Frucht und spenden Schatten, sie sind Markierungen
in der Landschaft und Treffpunkte, wie die alte Dorf-
linde. Selbst wenn sie nicht mehr da sind, kann die Er-
innerung an sie berühren.
Das stellte Bruce Springsteen fest. In seiner Ein-
Mann-Broadway-Show in New York, in der er Passagen
aus seinem Leben erzählte und sie mit den passenden
Songs unterlegte, sprach er von dem mächtigen Baum
vor dem Haus seiner Kindheit, auf den er kletterte, um
allein zu sein, den Wind zu spüren und in die Weite zu
sehen. Als er ihn nach Jahren wieder suchte, war er
gefällt worden. Aber die offene Stelle gab es noch, in die
der Baum seine Wurzeln getrieben hatte, und beim
Berühren der Erde fühlte Springsteen die mächtigen
Zweige noch einmal über sich und ließ sich sogar zu
einem Vaterunser hinreißen.
Dass Bäume nicht nur in der Erinnerung einzelner
Menschen bleiben, sondern auch zum Träger der Erin-
nerung für besondere Menschen werden können, zeigt
die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel. Seit
Jahren werden dort Bäume gepflanzt als Denkmal für
die „Gerechten unter den Völkern“, die verfolgten Juden
bei der Flucht halfen oder ihnen Versteck und Schutz
boten. Die Bäume tragen Namen, und die Namen sollen
den Anstoß geben zu Erzählung und Rückschau.
Auch im sächsischen Zwickau sollen Gedenkbäume
wachsen. Eine Initiative will damit an die zehn Mord-
opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU)
erinnern, einer terroristischen Vereinigung, die ihre letz-
te Wohnung in dieser Stadt hatte. Ihr erstes Opfer war
der Blumenhändler Enver Şimşek, für den Anfang
September auf einer Wiese eine erste Eiche in die Erde
gesetzt wurde. Doch nicht nur für diejenigen, die an die
Opfer erinnern wollen, hatte der Baum Symbolkraft.
Schon nach kurzer Zeit hatten Unbekannte ihn abgesägt.
In Zwickau reagierte man schnell: Inzwischen wurde
nicht nur ein neuer Baum für Enver Şimşek gepflanzt,
sondern gleich auch noch für die anderen NSU-Opfer.
Damit diese Bäume wachsen können, genügt es nicht,
sie von Zeit zu Zeit zu gießen. „Auf noch unbestimmte
Zeit“, so der Polizeisprecher in der vergangenen Woche,
werde man den Ort nun rund um die Uhr bewachen.
Auch diese Bäume sind ein Zeichen der Hoffnung – weil
man sie nicht aufgibt. 2

WACHSENDE HOFFNUNG


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KOLUMNE


AUF DEM WEG NACH MORGEN


Aleida Assmann


Die emeritierte Kulturwissen-
schaftlerin, 72, lehrte an der Universität
Konstanz. 2018 erhielt sie (mit
ihrem Ehemann) den Friedenspreis
des Deutschen Buchhandels

An dieser Stelle schreiben im wöchentlichen Wechsel unsere Kolumnisten
Luisa Neubauer, Richard David Precht, Harald Welzer und Aleida Assmann

FOTO: STEPHAN SAHM/LAIF
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