Der Stern - 07.11.2019

(Kiana) #1
mächtigsten amerikanischen Mythen: der Wilde Wes-
ten als Heimat einsamer, wortkarger Männer, weißer
Cowboys, Helden mit wettergegerbtem Gesicht, Cow-
boyhut und Colt. Ehefrauen, Mütter, Töchter, ohne
deren Arbeit die Eroberung des Westens nicht möglich
gewesen wäre, die die Gemeinschaft versorgten und
Land rodeten? Haben in diesem Mythos keinen Platz.
Geprägt hat diese Geschichte auch Hollywood, John
Waynes erster Western „Ringo“ von 1939 war der Beginn
einer beispiellosen Legendenbildung. Die Filmindus-
trie machte den Kuhhirten zum universellen Helden,
zum Symbol für ein Leben in Freiheit und Abenteuer.
Ein Männerleben, wohlgemerkt.
„Ich muss lachen, wenn ich Geschichten von Cowboys
höre, die in den Sonnenuntergang reiten“, sagt Caitlyn
Taussig. „Wir arbeiten auf unserer Ranch oft bis in die
Dunkelheit. Das Letzte, was ich dann machen will, ist
ein Pferd zu satteln und loszureiten.“

S


ie sitzt am Küchentisch und erzählt von ihrem All-
tag. Die Viehzucht ist vom Lauf der Natur geprägt.
Die Sommer in Colorado sind heiß, die Winter kalt
und lang. Rinder auf die Weide treiben, Bullen kastrie-
ren, Kälber aufziehen, Tiere impfen, Brandzeichen
setzen, Zäune reparieren – all das machen die Taussig-
Frauen selbst. Nur die Heuernte übernehmen Nachbarn,
die haben teure Maschinen dafür. Und wenn ein Motor
zu reparieren ist, lassen sie sich von Männern helfen.
„Ich bin ein Cowboy-Girl“, sagt Caitlyn Taussig stolz.
„Cowgirl“ klingt ihr zu niedlich. Nur von der harten
Arbeit leben können die Taussig-Frauen nicht. Wie
viele im Westen, die eine Familienranch betreiben.
Vicki bekommt eine Rente, sie hat früher neben-
bei als Lehrerin gearbeitet. Und Caitlyn verfolgt eine
zweite Karriere – als Sängerin. Cowboy-Musik, was
sonst. Ein Album hat sie bereits veröffentlicht. „Heute
Abend gehe ich Geld verdienen“, sagt sie. Sie wird in der
Latigo Ranch in Kremmling auftreten. „Ich bekomme
keinen Ring geschenkt und kein Baby, das ich halten
kann“, heißt es in einem ihrer Lieder. „Dafür habe ich
Weite und den Himmel und pfeilschnelle Pferde.“
Die Rolle von Rancherinnen in der amerikanischen
Geschichte erforscht der Geschichtsprofessor Leland
Turner an der Midwestern State University in Texas.
„Unsere Obsession mit männlichen Viehzüchtern
ignoriert die Rolle vieler Frauen, die ebenso aktiv,
unabhängig und individualistisch waren“, sagt er. Ge-
schichtenerzähler und Mythenmacher übersehen vor
allem, dass bereits Jahrhunderte vor der Eroberung des
Westens in vielen Stämmen der amerikanischen Urein-
wohner, etwa bei den Cheyenne und Sioux, Frauen den
Männern gleichgestellt waren: politisch, ökonomisch,
theologisch. Dass Frauen schon damals im Einklang mit
der Natur lebten, als Mütter und Viehzüchterinnen.
Für Kelsey Ducheneaux ist dieses Leben nicht neu. Es
ist Teil ihrer Familiengeschichte. Die indigene Frau ge-
hört zum Volk der Lakota, dem Stamm der legendären

Auch diese Ranch in
Colorado wird von
Frauen geführt. Hier
lebt Amy Eller, 33,
mit Tochter Wendy
(Foto rechts)

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