Der Stern - 07.11.2019

(Kiana) #1
Steffen Gassel (l.) und
Stephane Lagoutte
recherchierten im
Libanon, Philipp Breu
(r.) traf Demonstranten in Bagdad. Mitarbeit:
Hwaida Saad (Beirut), Mohammed al-Moumin
(Nadschaf), Ali Hazem Hamed (Bagdad)

Ich bin hier, um die Revolution und das Volk zu beschützen.
Wir holen verletzte Demonstranten aus der Schusslinie der Sicher-
heitskräfte, einen Mann traf eine Tränengasgranate am Kopf.
Er starb. Ich will, dass die gesamte Regierung abtritt. Und ich gehe
erst nach Hause, wenn wir unsere Ziele erreicht haben. Ich finde
selbst keinen Job neben dem Tuktuk-Fahren, weil aus dem Iran so
viele Leute kommen und uns die Arbeit wegnehmen.“

Irak
Hassan, 17, Tuktuk-Fahrer

Libanon
Patrick Kalifeh, 31, Aktivist


Das ist unsere letzte Chance. Wenn dieser Protest nichts
ändert, dann werden wir dieses Land verlassen. Bis vor einem
Jahr war ich Inhaber eines Outdoor-Reisebüros. Doch weil
kaum noch Touristen in den Libanon kommen, musste ich mein
Geschäft aufgeben. Ich zelte hier seit Beginn des Aufstandes
mit Freunden auf dem Märtyrer-Platz in Beirut. Auch die
Schlägertrupps haben uns nicht vertreiben können.“


Abend DJs den lauten Sound der Revolte


auf. Männer im Kaftan tanzten neben Frau-


en im Business-Anzug, Kopftuchträgerin-


nen neben Unverschleierten, Tagelöhner


neben Ingenieuren. Auch im Irak hatte sich


nach den blutigen Straßenschlachten der


ersten Wochen vielerorts eine fast ausge-


lassene Stimmung breitgemacht. Alte Frau-


en im Tschador verteilten Atemschutzmas-


ken, Familien saßen auf einer palmenbe-


standenen Verkehrsinsel beim Picknick.


Die Mächtigen haben bisher kein Mittel

gefunden, dem gewalt- und führungslosen


Protest Herr zu werden, das spüren die


Menschen. Am Montagmorgen legten Tau-


sende Demonstranten den Verkehr in der


Sechs-Millionen-Stadt Bagdad und an vie-


len Orten im Libanon lahm.


Doch mit jedem Tag steigt die Gefahr


einer Eskalation. Werden die Behörden die


Proteste blutig niederschlagen, so wie sie


es in den ersten Oktoberwochen im Irak


bereits versucht haben?


Die Entscheidung darüber dürfte weder

in Beirut noch in Bagdad fallen, sondern in


Teheran. Irans Regime hat in beiden Län-


dern über Jahrzehnte seinen Einfluss aus-


gedehnt. In Beirut dominieren die mit dem


Iran alliierte Hisbollah und ihre schiiti-


schen Partner die Regierung. Auch die ira-


kische Regierung steht in Teilen unter der
Kontrolle Teherans.
Am Tag nach Ausbruch der Proteste An-
fang Oktober leitete anstelle des Premier-
ministers der Kommandeur der iranischen
Quds-Brigaden ein Treffen irakischer Si-
cherheitschefs. „Im Iran wissen wir, wie
man mit solchen Protesten umgeht“, soll
er erklärt haben. „Bei uns ist das auch pas-
siert, und wir haben es unter Kontrolle be-
kommen.“ In den Tagen danach wurden
fast 150 Demonstranten getötet.
Vergangene Woche warnte Irans Revo-
lutionsführer Chamenei: „Westliche Ge-
heimdienste schaffen mit Unterstützung
von Ländern aus der Region Unruhe in
unserer Gegend. Mein Rat an den Libanon
und den Irak ist, diese Bedrohungen ihrer
Sicherheit in den Griff zu bekommen.“
In Bagdad zündeten Demonstranten aus
Protest gegen die Einmischung des Iran die
Flagge des Landes an. Nachdem Sicherheits-
kräfte in der Stadt Kerbala 18 Menschen er-
schossen hatten, griffen Demonstranten das
iranische Konsulat an. „Irans Milizen ma-
chen die Drecksarbeit für unsere Regierung.
Sie sind es, die auf Demonstranten schie-
ßen“, sagt Hassan, der Tuktuk-Fahrer.
Patrick Khalifeh in Beirut ist sich sicher,
dass die Schlägertrupps, die ihn verprü-

gelt haben, von der Hisbollah und der mit
ihr verbündeten Amal-Miliz losgeschickt
wurden. Sie hinterließen auf dem Platz ein
Graffiti als Warnung: „Zu Befehl, oh Nas-
rallah“ stand dort. Hassan Nasrallah ist
der Chef der Hisbollah und enger Verbün-
deter der iranischen Führung. „Wir wol-
len keine Gewalt“, sagt Khalifeh. „Aber die
Hisbollah kennt nur den Kampf. Ob die-
se Geschichte blutig endet, liegt nicht an
uns.“
Die Eltern des einzigen Todesopfers, das
der Aufstand im Libanon bisher gefordert
hat, warten unterdessen darauf, ihren Sohn
beerdigen zu können. Ein wütender Roller-
fahrer hatte vor zwei Wochen auf den Mann
geschossen, weil er ihm an einer Straßen-
sperre entgegentrat. Seither verweigert das
Krankenhaus, in das er eingeliefert wurde,
die Freigabe des Leichnams. Der Grund: Die
Eltern können die Rechnung für die Be-
handlung nicht bezahlen. 2

92 7. 1 1. 2 0 19

Free download pdf