Der Stern - 07.11.2019

(Kiana) #1

ILLUSTRATION: KATRIN FUNCKE/ART ACT/STERN Diese Woche: Alexander Taube, 54,


Facharzt für Chirurgie, Psychiatrie,
Psychosomatische Medizin und
Psychotherapie, Chefarzt der Vincera-
Klinik Burg Wernberg in Wernberg

AUFGEZEICHNET VON NINA POELCHAU;


späten Abend fragte sie nach, ob ich auch
wirklich alles bedacht hätte. Sie wirkte un-
ruhig, extrem ratlos und war kaum in der
Lage, Grenzen zu akzeptieren – wie etwa
das Ende meiner Arbeitszeit. All das fügte
sich gut zum klassischen Bild der Histrio-
niker, die immer in Kontakt sein müssen,
um sich abzusichern, und es schwer schaf-
fen, sich selbst zu beruhigen.
Aber: Ich hatte einen leisen Verdacht,
dass auch körperlich etwas nicht stimmte.
Als ich ihr in die Augen geleuchtet hatte,
war die Pupillenreaktion auf der linken

D


ie Frau machte einen aufgewühl-
ten Eindruck. Sie war gepflegt und
trug ein Batiktuch. Die Sozial-
arbeiterin kam in die Klinik, weil
sie mit ihrer ambulanten Psycho-
therapie, die schon mehrere Jahre
andauerte, nicht mehr weiterkam. Die
Hausärztin und der Psychotherapeut
meinten, sie müsse unter fachkundiger Be-
gleitung zur Ruhe kommen. Die Patientin
litt zum einen unter hartnäckigen Kopf-
schmerzen, die als „somatoform“ ein-
gestuft worden waren. Somatoform be-
deutet: Seelische Belastungen
schlagen sich in körperlichen
Beschwerden nieder.
Den Unterlagen hatte ich zu-
dem entnommen, dass man bei
ihr von einer „histrionischen
Persönlichkeitsstörung“ aus-
ging. Das hieß, sie nahm vieles
übersteigert wahr, sie „insze-
nierte“ Dramen. Menschen mit
so einer Störung tun das, um
Feedback zu bekommen. Oft
resultiert solch ein Verhalten
aus ungünstigen Beziehungs-
erfahrungen in der Kindheit.
Die Betroffenen konnten sich
in einer wichtigen Phase ihrer
Entwicklung nicht gut selbst
kennenlernen und festigen.
Sie versuchen Stabilität zu er-
reichen, indem sie unüberhör-
bare Signale in die Umwelt sen-
den – und sich an der Reaktion
orientieren. Ziel einer Thera-
pie ist es, diesen Patienten zu
helfen, eine Art inneren Kom-
pass zu entwickeln, nicht mehr
so sehr auf die Reaktion von
außen angewiesen zu sein und
Grenzen zu akzeptieren.
Ich untersuchte die Frau
gründlich und erhob eine aus-
führliche Anamnese. Dabei
berichtete sie von den Kopf-
schmerzen und einem schlei-
chenden Gewichtsverlust. Die
Diagnose „histrionische Persönlichkeits-
störung“ schien gut zu passen – da die Art,
wie die Patientin mit mir in Beziehung trat,
auffällig war. Nach dem Untersuchungs-
termin etwa hatte ich ihr gesagt, dass ich
Weiteres an einem der nächsten Tage be-
sprechen wollte. Aber sie ließ nicht locker,
meldete sich mehrmals am Tag, sogar am

Seite minimal verändert gewesen gegen-
über rechts. Kein sehr deutlicher Befund.
Auch der Gewichtsverlust gab mir zu den-
ken. Und: Hatten die Kopfschmerzen wirk-
lich nur mit der Angespanntheit zu tun?
Ich besprach mich mit dem Neurologen
bei uns im Haus. Er untersuchte die Frau
und fand nichts Besorgniserregendes.
Dennoch beschlossen wir, Kernspin-Auf-
nahmen vom Kopf anfertigen zu lassen. Als
wir das Ergebnis in der Hand hielten, er-
schraken wir. Zu sehen war ein hühnerei-
großer Tumor in der linken Gehirnhälfte –
ein Glioblastom, das ist eine
bösartige Geschwulst. Dass
dieser Tumor keine deutliche-
ren neurologischen Befunde
verursachte, wie etwa epilepti-
sche Anfälle, war erstaunlich.
Für mich war dieser Fall sehr
erkenntnisreich. Wenn man als
Arzt einen Patienten mit einer
psychiatrischen oder psycho-
somatischen Diagnose vor sich
hat, läuft man Gefahr, körper-
liche Probleme voreingenom-
men zu betrachten. Im Rück-
blick bin ich überzeugt, dass
die Frau histrionische Persön-
lichkeitsanteile hatte. Aber sie
hatte eben auch einen Hirn-
tumor. Der war vermutlich die
Ursache für die Kopfschmer-
zen und den Gewichtsverlust.
Wir haben die Patientin in
die Neurochirurgie der Unikli-
nik überwiesen, dort wurde sie
operiert und die Nachbehand-
lung geplant. Das Letzte, was
ich hörte, war, dass sie den Ein-
griff gut überstanden hatte und
man von einem vergleichswei-
se günstigeren Verlauf ausging


  • trotz der Bösartigkeit des
    Tumors. Da wir, wohl eher
    einem Instinkt folgend, die
    Diagnostik weiterbetrieben
    hatten, war die Geschwulst in
    einem operablen Zustand ge-
    funden worden. Damit hat die Frau hoffent-
    lich etwas Lebenszeit gewonnen. 2


Eine Frau leidet an Kopfschmerzen. Sie seien


Ausdruck seelischer Belastungen, heißt es. Bis ein Arzt


sie genau untersucht und den wahren Grund findet


In die falsche Schublade gesteckt



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DIE DIAGNOSE


GESUNDHEIT


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