Der Stern - 07.11.2019

(Kiana) #1

M


anch eine Heldenreise dauert
etwas länger. Bei Thomas Gott-
schalk zum Beispiel waren es
rund 70 Jahre.
Unlängst schaltete ich ver-
sehentlich das ZDF ein und lan-
dete bei „Gottschalks großer 80er-Show“
und, was soll ich sagen: Ich hab mich wirk-
lich amüsiert!
Das dürfte zum einen daran
liegen, dass ich Jahrgang 1977
bin. Zum anderen aber auch
daran, dass es mir geht wie vie-
len, die das Mensch gewordene
Brokatsakko neuerdings auf
einer philcollinsartigen Woge
der Zuneigung tragen.
Jahrzehntelang war der Mann
der komische Onkel, ein ent-
ferntes Familienmitglied, das
uns freundlicherweise nicht
gleich verpetzt hat, wenn wir
als Kinder mucksmäuschen-
still unter dem Wohnzim-
mertisch verharrten, um ja
noch die Baggerwette mitzu-
bekommen.
Dann, irgendwann, war
Schluss mit „Wetten, dass..?“.
Und der Zuschauer musste
feststellen, dass man aus Coca-
Cola keinen Matcha-Tee ma-
chen kann.
„Gottschalk Live“ – die Sa-
tire, die Helmut Dietl leider
nicht mehr eingefallen ist.
Plötzlich stand der Kaiser nackt
vor seinem Publikum. Es gab
keine Showtreppe mehr und
keinen wartenden Flieger.
Ohne den ganzen Pomp und
Zinnober war alles so dünn und
fragil wie ein frisch geschore-
ner Pudel, nackt und fröstelnd in der
Badewanne.
Der Tiefpunkt schien erreicht, als er,
der Bundesmoderationspräsident, ohne
erkennbare Not Gute-Laune-Minister bei
Dieter Bohlen wurde. Ausgerechnet er, der
Goethe-und-Schiller-Thommy! Was war
denn nur los mit ihm?
Ein König ohne Reich.

Es war traurig. Es folgten Kampagnen
für Möbelhäuser, Werbung für Hörgeräte
und dann noch ein Stargastauftritt beim
Topmodel-Finale, bei dem er so deplatziert
wirkte wie Greta Thunberg beim Schalker-
Fantreffen auf dem Parkplatz eines Auto-
tuners.
All das ist noch nicht lange her, und doch
hat es bereits jetzt keinerlei Bedeutung

mehr, denn der Unergrauliche besitzt eine
speziell in der Showbranche seltene Gabe:
Selbstironie.
Der Mann weiß, was er tut. Und wie das
alles auf uns wirkt.
In einem ausgesprochen komischen
Interview mit dem „Spiegel“ stellte er sich
den Fragen existenzialismusgebeutelter
Millennials und begegnete de-
ren Armverschränkung mit
größtmöglicher Gelassenheit:
„Ich habe weder eine Serie bei
Netflix, noch habe ich in ,Game
of Thrones‘ mitgespielt. Ob-
wohl die dort alle aussehen
wie ich.“
Während viele ehemalige
Showkollegen sich mit fort-
schreitendem Alter zusehends
in die Verbitterung hinein-
wuchten, belässt es „der
Thommy“ dabei, sich selbst
amüsiert beim Herumfossilen
zuzu sehen.
Und der Nachwuchs liebt ihn
dafür.
Denn interessanterweise
findet sich der Mann, der mit
69 nahezu doppelt so alt ist
wie seine Nachfolger, in einer
Situation wieder, die ihm aus
den Anfängen bereits vertraut
ist: als redseliger Freejazzer in
einer Branche voller genorm-
ter Kartenableser und Modera-
tionskellner.
Es ist seine lustvolle Scheiß-
egaligkeit, die beeindruckt.
Vielleicht muss einem erst
die Hütte mit allen Habselig-
keiten abbrennen, damit man
mit leichtem Gepäck reisen
kann. Aber wer sein Leben lebt
wie den letzten Tag der Klassenfahrt, der
hat einfach Bewunderung verdient.
Ich jedenfalls freue mich auf „Wetten,
dass..?“ im Jahr 2020. 2

Es gab Zeiten, da wirkte Gottschalk wie ein nackter


Kaiser. Oder schlimmer: wie ein geschorener


Pudel in der Wanne. Aber diese Zeiten sind vorbei


Thommy forever!


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BEISENHERZ


Der Autor und Moderator Micky Beisenherz („Das Lachen der Anderen“, „ZDF Heute-Show“, „Extra 3“)
schreibt alle zwei Wochen im stern – und regelmäßig auch bei stern.de

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ILLUSTRATION: DIETER BRAUN/STERN; FOTO: DAVID MAUPILÉ
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